G. Piller: Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jh.

Cover
Titel
Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Piller, Gudrun
Reihe
Selbstzeugnisse der Neuzeit 17
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Rohmann, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

In den 1980er-Jahren erwachte in den historischen Wissenschaften etwa gleichzeitig ein Interesse an Selbstzeugnissen und ähnlichen Formen der Schriftlichkeit einerseits und an der Geschichte des Körpers und der Geschlechter andererseits. Beide Forschungsfelder verbindet also der methodische und durchaus auch politische Innovationsanspruch ihrer Gründerzeit, zudem der gemeinsame theoretische Hintergrund der Hinwendung zum Subjekt in seinem Verhältnis zur Gesellschaft. Selbstzeugnisse sind daher auch schon früh intensiv als Quellen für Geschlechter- und Körpergeschichte herangezogen worden. Heute, dies dürfte unstrittig sein, haben beide Disziplinen längst das Stadium der Kanonisierung durchlaufen.

Gudrun Piller hat ihre Dissertation als Mitarbeiterin im von Kaspar von Greyerz initiierten Erschließungsprojekt "Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte" verfasst. Mit Claudia Opitz hat eine ausgewiesene Spezialistin der Geschlechtergeschichte das Zweitgutachten übernommen. Die Kombination der beiden etablierten Forschungsfelder führt nun - vielleicht symptomatisch - nicht mehr zu grundstürzenden Innovationen, sondern zu einer durch und durch konservativen Arbeit.

Die Verfasserin ist umfassend informiert über die spezifischen Charakteristika ihrer Quellen, präzise lotet sie deren Gattungstypologie und jeweilige Eigenarten aus. Ebenso umsichtig legt sie ihr theoretisches Fundament zwischen Diskurs und Erfahrung, zwischen Performanz und Subjektivität. Und auch zur Kontextualisierung ihrer Befunde wird man schwerlich etwas ergänzen können. Gudrun Piller hat aber nicht nur ihre Hausaufgaben gemacht! Ein ebenso umfangreicher wie übersichtlicher Anhang klärt vorbildlich über die herangezogenen Quellen und ihre Verfasserinnen und Verfasser auf. Und die Untersuchungen zu den einzelnen Fragestellungen sind von einer geradezu stupenden Solidität. Kapitel für Kapitel wird herausgearbeitet, verglichen und eingeordnet, was das Zeug hält.

In fünf Schritten nähert sich die Untersuchung ihrem Gegenstand: Piller fragt nach dem Verhältnis zum Körper in der retrospektiven Interpretation des eigenen (männlichen) Lebenslaufs (I.), nach dem Körper in der Ehe (II.), nach Geburt und Elternschaft (III.), nach dem Körper in der aufblühenden Pädagogik und dem Alltag der Erziehung (IV.), schließlich nach Kranksein und Krankheit (V.). Dazu hat sie aus den Erträgen des erwähnten Erschließungsprojektes 48 zumeist unedierte Quellen ausgewählt. In der Mehrheit handelt es sich dabei um Texte aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, meist von Männern aus dem städtischen Bürgertum. Jedoch vermag Piller von Fall zu Fall gerade die Ausnahmen zum Sprechen zu bringen. Zieht sie doch jeweils besonders eindrückliche Quellen als "Leittexte" heran, um dann die Befunde mit dem restlichen Korpus und dem Forschungskontext zu vergleichen. Tatsächlich gelingen ihr so gleichermaßen der Blick auf übergeordnete Charakteristika wie die tiefergehende Einsicht in individuelle Spezifika. Denn vielfach sind eben die untypischen Texte die ergiebigsten Quellen, dies freilich nur dann, wenn die einzelnen Befunde wiederum sorgfältig in den literarischen Kontext eingebettet werden - wie dies Piller vorbildlich tut. Dass der Körper und die Erfahrung des Körpers immer zugleich subjektiv und diskursiv sind, dass die Subjektivität selbst Produkt, Gegenstand, Medium und Movens der Diskurse ist, arbeitet sie am Beispiel ihrer bürgerlichen Akteurinnen und Akteure der Aufklärungszeit deutlich heraus.

Sachlich zu beanstanden ist an alledem nur sehr wenig: Ob bis zum 18. Jahrhundert das Individuum wirklich in einer "Ahnenreihe" eingebunden und sein Körper in die "Leibgemeinschaft" der Familie gestellt war (S. 29f.), oder ob Piller hier nicht eher stereotypen Vorstellungen vom kollektivistischen Mittelalter aufsitzt, bliebe zu klären. Dass vormoderne Selbstzeugnisse weniger auf Selbstreflexion als auf die Kommunikation mit der Verwandtschaft abstellten, wird korrekt vermerkt (S. 86), könnte aber weitergehende Antworten ermöglichen, etwa auf die Frage, warum ein massiv mit Unreinheitsvorstellungen behafteter körperlicher Vorgang wie die Geburt selten explizit thematisiert wurde (S. 129ff.). Zur Geburt als gesellschaftlichem Ereignis finden sich hingegen Exkurse über Namensgebung, Patenauswahl und Kindbettgeschenke, die weit vom Thema der Arbeit wegführen (S. 142ff.). Andererseits bleiben überraschende Funde unerklärt: Warum etwa überlieferte Hans Jakob Schulthess in Anlagen zu seinem Haushaltungsbuch Gerichtsprotokolle über die physische Gewalt in der eigenen Ehe (S. 87f.)? Manches also hätte man straffen können, anderes vertiefen. Auch fällt manche Unregelmäßigkeit in Sprache und Zitierweise auf, die ein schulmäßiges Lektorat nicht hätte durchgehen lassen. Doch liegt in diesen Kleinigkeiten nicht das Problem dieser Arbeit.

Dass die Erklärungen zum weiteren Zusammenhang vielfach redundant wirken (so werden die Humoralpathologie oder die sex res non-naturales jeweils mehrmals unter Heranziehung derselben Literatur erläutert, ebenso die neuere Theoriebildung zum Erfahrungsbegriff oder zur Konstruktivität des Körpers), verstärkt eher den Gesamteindruck: Hier werden keine Fehler gemacht! Und genau das ist die Crux! Die sorgfältig ausgewählten Quellen und ihre umsichtige Auswertung ermöglichen viele präzise Einblicke zur Geschichte von Körper und Körperwahrnehmung im bürgerlichen Milieu des 18. Jahrhunderts. Kapitel für Kapitel werden so die Befunde der bisherigen Forschung bestätigt und illustriert. Allein: Pillers Arbeit selbst hat keine eigenen Thesen. Ein überwölbendes Erkenntnisinteresse wird nicht erkennbar. Infolgedessen hat ihre Argumentation auch kein rechtes Ziel und ihr Buch auch kein Ergebnis, das in nennenswerter Weise über die bisherige Forschung hinausweisen würde. Wenn der Vergleich aus der Welt des Sports gestattet ist: Hier wird Sicherheitsfußball in höchster Qualität geboten. Die Abwehr steht tief gestaffelt, im Mittelfeld ist kein Durchkommen; allein: Zumindest gelegentlich sollte der Ball doch in die gegnerische Hälfte fallen!

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