Titel
Der lange Weg zum Fest. Die Geschichte der Moskauer Stadtgründungsfeiern von 1847 bis 1947


Autor(en)
Klotchkov, Kathleen
Reihe
Geschichtswissenschaft 5
Erschienen
Berlin 2006: Frank & Timme
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Hausmann, Department of Russian and Slavonic Studies, Trinity College Dublin

„Eine interessante Stadt, nicht wahr?“ So fasst der Teufel in Michail Bulgakows in den 1930er-Jahren entstandenem Roman ‚Der Meister und Margarita’ seine Eindrücke von Moskau zusammen, bevor er die Stadt mit seinem Gefolge verlässt und weiterzieht.1 Moskau hat nicht nur Bulgakows Teufel, sondern auch Generationen von OsteuropahistorikerInnen immer wieder in ihren Bann gezogen. Die etwa 25 wissenschaftlichen Arbeiten in westlichen Sprachen zur Geschichte Moskaus aus den letzten 30-40 Jahren spiegeln das deutlich wider. Was sich auf der einen Seite als eine gewisse Einseitigkeit kritisieren lässt (es gibt nur eine neuere Monographie über Kiew 2), verweist auf der anderen Seite darauf, dass Moskau eine der wenigen Städte Russlands ist, die in fast allen Zeitabschnitten der Geschichte Russlands eine besondere Bedeutung hatte.

Die Geschichte Moskaus ist also eine besonders reichhaltige Fundgrube für HistorikerInnen, und Kathleen Klotchkov hat ihr Dissertationsthema in ihr gefunden. Die Arbeit untersucht die drei Stadtgründungsfeiern von 1847 (700-Jahrfeier), 1897 (750-Jahrfeier) und 1947 (800-Jahrfeier) in kultur- und sozialgeschichtlicher Perspektive. Der lange Zeitraum, der den politischen Umbruch von 1917 einschließt, ist besonders interessant. Die Untersuchung schließt an Untersuchungen zum Selbstverständnis der Städte und Städter sowie zur Festkultur in Russland und in der Sowjetunion (und darüber hinaus) im 19. und 20. Jahrhundert an.3 In den einleitenden ersten beiden Kapiteln über den Gegenstand und den Ansatz der Arbeit finden sich überzeugende und weniger überzeugende Passagen. Sie verdeutlichen, dass sich die Studie in den größeren Kontext einer historischen Festforschung Russlands einordnet, und dass sie den Repräsentationsbegriff im Anschluss an Ernst Cassirer sowie den Mythosbegriff im Anschluss an Roland Barthes nutzbar machen will. Das Stadtfest wird als eine besondere Form des öffentlichen Festes untersucht.

Stadtgründungsfeiern entstanden im zarischen Russland im Kontext der Europäisierung, als in Orientierung an der westeuropäischen Stadt „eigene“ stadtgeschichtliche Traditionen entworfen wurden. Nach 1945 wurden sie in der Sowjetunion politisiert und funktionalisiert und als eine besondere Form des sowjetischen Massenfestes begründet. So weit, so gut. Andere Passagen bleiben unklar oder sind fragwürdig. So wird behauptet, dass das Stadtfest im zarischen Russland nicht oder kaum von Stadtbürgern oder von der Monarchie zur Repräsentation genutzt und wahrgenommen worden sei (S. 14). In diesem Zusammenhang werden die Stadtfeste von Rjasan, Saratow und Riga als Ausnahmen in einer Anmerkung erwähnt (Anm. 6). Es mag ja sein, dass sich Stadtfeste im zarischen Russland nicht in gleicher Weise entfalteten wie etwa in Deutschland. Die erst auf Seite 58 versteckt nachgereichten Hinweise auf die St. Petersburger 100-Jahrfeier (1803) und die (pompöse) 200-Jahrfeier (1903) sowie die Nichtbeachtung weiterer Stadtgründungsfeiern im zarischen Russland entwerten das eigene Argument aber beträchtlich (siehe auch S. 120-123). Dabei standen die Moskauer Stadtfeste in einer besonderen Beziehung zu den St. Petersburgern (Vgl. S. 117). Die Behauptung hat Rückwirkungen auf die gesamte Deutung von Stadtfesten in Russland/der Sowjetunion.

Die Kategorie der Erinnerung oder des Gedächtnisses hat für die Darstellung eine besondere Bedeutung. Mit der Erinnerung an die Stadtgründung weisen Stadtfeste auf das identifikatorische Potential ihrer Einwohner oder Bürger mit der Stadt hin. Doch bleiben die diesbezüglichen Passagen über Gedächtnis und Erinnerungskulturen an der Oberfläche (S. 26-27). Für die Darstellung der Stadtgründungsfeier von 1947 sind zwei Interviews geführt worden, die sicherlich eine wertvolle Bereicherung der Darstellung bieten. Ob deshalb aber oral history ein tragender methodischer Zugriff der Dissertation ist, lässt sich bezweifeln (S. 26-27).

Die folgenden Kapitel widmen sich den drei Stadtgründungsfesten. Vorangestellt ist ein kurzes Kapitel über die Gründung Moskaus im Jahr 1147 durch den Rostow-Suzdaler Fürsten Juri W. Dolgoruki. Ob sich die mittelalterlichen Städte im östlichen Europa wirklich kaum von denen des Okzidents unterschieden, wie behauptet wird, ist fraglich. Zumindest gibt es dazu deutlich andere Auffassungen, die nicht diskutiert werden (S. 72).

Die Feiern zum 700-jährigen Jubiläum Moskaus im Jahre 1847 werden unter der Kapitelüberschrift ‚das verordnete Fest’ behandelt. Das stimmt zwar, folgt man Klotchkovs Darstellung, denn Nikolaus I. ordnete 1846 eine eintägige Feier am 1. Januar 1847 an. Doch zeigt die Darstellung empirisch und argumentativ schlüssig Deutungskonkurrenzen um die Form der Feier, den Zeitpunkt bzw. das Gründungsdatum sowie die Bedeutung der Geschichte Moskaus zwischen Teilen der slawophilen Moskauer Intellektuellen und dem Staat sowie anderen lokalen intellektuellen Gruppierungen. Die abschließende Bewertung hebt aber lediglich die herrschaftliche Initiative und Dominanz sowie die Indifferenz der Moskauer Bevölkerung hervor. Ob diese den Neujahrstag 1847 auch als Stadtfest wahrnahm, lässt sich aus Quellengründen aber nicht klären.

Die Kapitel zur 700 und zur 750-Jahrfeier im Jahr 1897 kennzeichnet leider eine Mischung aus sprachlich-inhaltlichen Unsicherheiten, Fehlern und gelungenen Passagen. Warum hat es 1897 kein Stadtfest in Moskau gegeben? Fällt Moskau hier sowohl aus dem europäischen als auch aus dem russischen Kontext heraus? Die Antwort von Klotchkov ist, die Stadt habe das Fest 1897 verpasst und nicht einmal eingefordert, nachdem es bei den Moskauer Krönungsfeierlichkeiten von Nikolaus II. im Jahr zuvor zu einer Katastrophe mit mehr als 1300 Toten gekommen sei (S. 132). In Moskau hätte weniger Bürgergeist als in mancher Provinzstadt des Reiches geherrscht, nur ein Einzelgänger legte einen Festprogrammentwurf vor. Die Frage jedoch, ob und wie sich Städte in Russland auch jenseits „bürgerlicher Feste“ und „Repräsentationsfeiern imperialer Herrschaft“ repräsentierten, wird gar nicht gestellt (S. 134). Die Verlegung von Stolypins Agrarreform in die 1890er-Jahre (S. 119), die doch zu grobe Verknüpfung der Stadtfeste im ausgehenden Zarenreich mit einer „Form städtischen Verständnisses fern der Monarchie“ (S. 120) und die simplifizierende Verknüpfung der Aktivitäten der städtischen Wahlorgane mit den Interessen des Hochadels (S. 124) sind nur einige der zahlreichen Fehler und Ungenauigkeiten in diesem Kapitel.

Das Kapitel über die 800-Jahrfeier der Stadt im September 1947 (‚das arrangierte Fest 1947’) hebt sich dann positiv von den vorherigen Kapiteln ab. Es ist auch durch seine Länge deutlich als eigentlicher Hauptteil des Buches zu erkennen. Hier liegt eine minutiöse Beschreibung und Deutung des ersten sowjetischen/stalinistischen Stadtfestes nach Ende des ‚Großen Vaterländischen Krieges’ vor, auf die man auch in Zukunft gerne zurückgreifen wird. Das bombastische Fest wird vor dem Hintergrund der katastrophalen Lage in Land und Stadt zwischen Hungersnot und Aufbauanstrengungen gefeiert. Die bis ins Detail geplante Inszenierung des Festes wird detailliert untersucht und mit Memoirenausschnitten und Interviewpassagen von Moskauern kombiniert, so dass das Fest als komplexe Praxis erkennbar wird. Die Biographien unmittelbarer Verantwortlicher und Aktivisten werden verfolgt, ihr Aufstieg und Fall nach dem Ende des Festes dokumentiert. Die Funktion des Festes nach innen und nach außen wird deutlich. Nach innen ist es ein ziviles sowjetisches Massenfest (es gab keine Militärparade), das der Vereinigung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen nach dem Krieg dienen sollte; nach außen ist das feiernde Moskau „der showcase der Sowjetunion“ (S. 206), das international auf Augenhöhe wahrgenommen werden wollte (S. 206-214). Moskau changierte zwischen Heimat und imperialer Metropole, das Stadtfest stand im Dienst des Patriotismus und in dieser Hinsicht in Kontinuität zu den 1930er-Jahren und vor allem den Kriegsjahren (S. 266-268).

Das Jubiläumsfest war ein durch und durch „politisches Ereignis“ (S. 198), das in einen neuen politisch-historisch imperialen Kontext gestellt wurde, der sich seit den 1930er-Jahren ankündigte und nach 1945 endgültig zum Durchbruch gelangte. Stalin selbst führte Regie, war aber nicht physisch, sondern nur auf Plakaten und Postern präsent: So wurde „das Stadtfest zu einem Stalinfest“ (S. 163). Das folgende letzte Kapitel über die fehlgeschlagene Grablege Juri Dolgorukis in Moskau im Jahre 1947 und die Grundsteinlegung und Eröffnung des Dolgoruki-Denkmals (1947-1954) schließt sich hier nahtlos an und zeigt in schlüssiger Weise die Ersetzung der traditionellen Legende durch einen ‚linken Gründungsmythos’ in der Sowjetunion.

Das Gesamturteil über das Buch fällt notwendigerweise gemischt aus. Die exemplarische Untersuchung des Verhältnisses von Stadt und Herrscher/Staat über den politischen Umbruch des Jahres 1917 hinweg ermöglicht allgemeinere Aussagen über das Verhältnis von Staat/Herrschaft und Gesellschaft im Zarenstaat und in der Sowjetunion. Diese Chance wird aber durch Schwächen und Fehler in den ersten Kapiteln des Buches vergeben. So bleiben zwei schöne Kapitel über ein Stadtgründungsfest und die Errichtung eines Reiterdenkmals im Jahr 1947 – in einer ‚interessanten Stadt’.

Anmerkungen:
1 Vgl. Bulgakow, Michail, Der Meister und Margarita, München 2005, S. 446.
2 Vgl. Hamm, Michael, Kiev. A Portrait, 1800-1917, Princeton 1993.
3 Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur sind: Hausmann, Guido (Hrsg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung: Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002; Häfner, Lutz, Gesellschaft als lokale Veranstaltung: Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870-1914), Köln 2004; Rolf, Malte, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006.

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