C. Biggeleben: Berliner Kaufmannschaft

Titel
Das "Bollwerk des Bürgertums". Die Berliner Kaufmannschaft 1870-1920


Autor(en)
Biggeleben, Christof
Reihe
Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 17
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Lässig, Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung, Braunschweig

Christof Biggeleben hat eines jener Bücher geschrieben, das mit seinem etwas trockenen, spröden Titel zunächst nicht unbedingt zur Lektüre einlädt, das aber – nachdem man es gelesen hat – unweigerlich die Frage aufwirft, warum niemand früher auf dieses spannende und für viele weiterführende Fragestellungen überaus interessante Thema gestoßen ist. Anschlussfähig ist diese wegweisende Untersuchung zum einen für die allgemeine Bürgertumsforschung, die sich zwar immer wieder auch mit der Geschichte einzelner Professionen beschäftigt hat, aber die Kerngruppen des Wirtschaftsbürgertums doch nur selten in ihrer sozialen und kulturellen Verflechtung analysiert hat. Biggeleben gehört zu den wenigen Autoren, die dezidiert nach den kulturellen Codes und den sozialen Fäden fragt, die Bankiers, Industrielle und Kaufleute im Kaiserreich verbunden und damit auch zu gesellschaftlichem Einfluss verholfen haben. Dass er dies gerade für die Hauptstadt des deutschen Reiches tut, die sich im Untersuchungszeitraum zu einem international anerkannten Zentrum von Industrie, Handel und Finanzwesen entwickelte, begründet den besonderen, über die Stadtgeschichte Berlins hinausreichenden Wert dieser Studie, die zugleich als wichtiger Beitrag zu einer neuen, kulturgeschichtlich orientierten Unternehmer- und Wirtschaftsgeschichte gelesen werden kann. Biggeleben geht es nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie um den einzelnen Bürger als Kaufmann, sondern vor allem um den Unternehmer im sozialen Kontext, um den Wirtschaftsbürger als soziales Wesen. Hierbei greift Biggeleben auch auf die vielfach diskutierte, empirisch aber noch immer sehr lückenhaft unterfütterte These zurück, dass das Berliner Bürgertum in hohem Maße feudalisiert gewesen sei und sich als unfähig erwiesen habe, eine stabile bürgerliche Identität aufzubauen und ein dezidiert bürgerliches Milieu auch in der Reichshauptstadt zu etablieren.

Biggeleben stellt diese Annahme auf den Prüfstand, indem er zwei zentrale, von der Forschung aber bisher wenig beachtete wirtschaftliche Interessenorganisationen der Hauptstadt – die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin („Korporation“) und den „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller“ („VBKI“) – mit einem breiten und theoretisch fundierten Ansatz neu vermisst. Hierfür greift er vor allem auf Anregungen von Anthony Giddens zurück, die sich – so Biggeleben – für eine Analyse der speziellen Struktur von Elitegruppen deutlich besser eigen als die derzeit viel verwendeten und auf einem flexiblen Kapitalbegriff beruhenden Zugriffe von Pierre Bourdieu. In Anlehnung an Giddens definiert er „moral integration“ und „social integration“ als Schlüsselkonzepte für die Analyse von Vergesellschaftungsprozessen auf der Ebene gesellschaftlicher, speziell wirtschaftlicher Eliten. Ihm geht es also vor allem um das besondere „Gruppenethos“, um die Mechanismen der sozialen Integration und Exklusion. Im Spiegel der beiden Vereine fragt Biggeleben nach den verbindenden Ideen und den kulturellen Praktiken, die das Berliner Wirtschaftsbürgertums verbunden und die Bildung von sozialen wie ökonomischen Netzwerken begünstigt haben könnten – und zwar über alle zweifellos vorhandenen Gegensätze, Konkurrenzen und Interessenunterschiede hinweg. Insofern will die Studie immer auch die verborgenen, für die Konstituierung und den Erhalt von Eliten aber zentralen Mechanismen sozialer In- und Exklusion freilegen.

Was ist nun der konkrete Ertrag dieser ambitionierten Studie? Biggeleben löst seine Ansprüche in fast allen Punkten ein. Er bietet weit mehr als nur eine Geschichte der Berliner „Korporation“, des VBKI und der Berliner Handelskammer. Diese entwickelt er selbstverständlich auch und zwar in vielerlei Hinsicht. Aufschlussreich sind zum Beispiel seine quantitativen Analysen zur Mitgliedschaft beider Organisationen. Mehr als die Hälfte der hier versammelten Wirtschaftsbürger waren Juden. Erinnert man sich des jüdischen Bevölkerungsanteils, der in Berlin bei vier Prozent lag (knapp ein Prozent im Deutschen Reich), so unterstreicht er damit die These von der im Kaiserreich durchgreifenden Verbürgerlichung der Juden sehr nachdrücklich. Von überregionaler Bedeutung ist auch das Kapitel (S. 141ff.), in dem Biggeleben in knappen Biografien die Führungspersönlichkeiten der beiden konkurrierenden Organisationen untersucht – und dabei biografische und sozialgeschichtliche Zugriffe geschickt verbindet.

In hervorragender Weise bewährt sich der theoretisch-methodische Ansatz dieser Studie. Wie berechtigt der Anspruch ist, mit einer Untersuchung von Wirtschaftsverbänden und Vereinen die Wirkungsmächtigkeit, aber auch den Wertehorizont (wirtschafts-)bürgerlicher Vorstellungen zu analysieren, lässt sich auf nahezu jeder Seite der Studie erkennen. Das Konzept der „sozialen Integration“ hat Biggeleben besonders gut am Beispiel des kleinen und elitären Zirkels der Ältesten – gewissermaßen des Führungspersonals der Organisation – anwenden können. Zum einen brachte die dortige Mitgliedschaft – um hier nicht mit Giddens, sondern mit Bourdieu zu sprechen – reichlich ökonomisches und soziales Kapital. Darüber hinaus erlegte ein solches Amt dem Inhaber (formal) auch die Verpflichtung auf, sich nach innen und außen an den allgemein ausgehandelten Wertekodex zu halten und ihn offensiv zu vertreten. In Bezug auf den Kodex des „ehrbaren Kaufmanns“ funktionierte die „bürgerliche Selbstverpflichtung“ offenbar erstaunlich gut und lang anhaltend. In einem anderen, dem Kodex zugeordneten Bereich, dem des Stiftens und Spenden, zeigte sich jedoch eine deutliche „Diskrepanz zwischen Normen, Werten sowie Selbstdefinitionen und den tatsächlichen Praktiken“ (S. 60). Die weit verbreitete These, dass Wohltätigkeit und finanzielles Engagement fürs Gemeinwohl ein bürgerliches Aktionsfeld par excellence darstellten, findet Biggeleben zumindest für die in den untersuchten Organisationen tätigen Wirtschaftseliten nicht bestätigt. Anspruch und Wirklichkeit klafften hier – übrigens auch bei vielen jüdischen Mitgliedern – mehr oder weniger deutlich auseinander. Und anders als an der Börse, wo der Verlust von kaufmännischer Ehrbarkeit unweigerlich auch zu einem Verlust an „social integration“ im Sinne Giddens' führte, wurde die Verletzung des Ehrenkodex von den „Standesgenossen“ in diesem Falle weder sozial geahndet noch geächtet.

Mit diesen Ergebnissen, aber auch mit seinem methodischen Herangehen setzt Biggeleben neue Akzente: Ihn interessieren nicht allein die prominenten Mäzene wie James Simon, Rudolf Mosse oder Eduard Arnhold. Er untersucht vielmehr innerhalb der beiden Interessenverbände, die zweifellos repräsentativ für das Berliner Wirtschaftsbürgertum sein können, die Frage, wie stark die bürgerliche Verpflichtung zur Wohltätigkeit den Alltag bestimmte, wie nahe die kulturelle Praxis dem Ideal kam. Anhand der Spenden und Stiftungen, die etwa für notleidende Kaufleute aufgebracht bzw. eingerichtet wurden, versucht er herauszufinden, wie repräsentativ die prominenten Mäzene für das bürgerliche Milieu und vor allem für das Wirtschaftsbürgertum gewesen sind. Haben andere Bürger ganz ähnlich agiert oder kann man von den herausragenden Philanthropen doch nicht so einfach auf die kulturelle Praxis der sozialen Gruppe insgesamt schließen? Und daraus leitet sich dann fast zwingend eine weitere Frage ab: Erfüllte philanthropisches Handeln tatsächlich die Funktion, bürgerliche Identität zu stiften und verschiedene Gruppen zu vergesellschaften? Oder handelte es sich vielleicht doch nur und vordringlich um ein Instrument der Elitenbildung? Das sind weiterführende Fragen, die Biggeleben mit seiner Studie selbstverständlich nicht erschöpfend beantworten kann, denn dafür bedürfte es der Korrelation mit anderen, für die Geber möglicherweise attraktiveren Feldern mäzenatischen bzw. wohltätigen Handelns wie sie etwa die Fördervereine von Museen und Universitäten oder auch soziale Stiftungen darstellten.

Biggeleben deckt mit seiner Untersuchung einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren ab und damit gelingt es ihm, am Berliner Beispiel die Konstanten, aber auch den Formenwandel von Bürgerlichkeit herauszuarbeiten. Er konstatiert eine verblüffende „ideelle Kontinuität“ (S. 416) der Wertvorstellungen der von ihm untersuchten Sozialgruppen, die von einer erheblichen personellen Diskontinuität erstaunlich wenig beeinflusst wurde. Trotz zweier sozialer Brüche in dieser Periode blieb das „Bild vom ehrbaren Kaufmann“ über Jahrzehnte lebendig und verpflichtend. Stabilisiert wurde es – wie Biggeleben betont – vor allem durch Clubs, Vereine und Verbände. Dass er sich bei diesen und ähnlichen Institutionen um maßgebliche bürgerliche Integrationsagenturen handelte, ist zwar keine ganz neue Erkenntnis; so empirisch dicht wie bei Biggeleben ist sie aber nur selten unterfüttert worden. Gleiches gilt für die seit langem angezweifelte Annahme, das Berliner Wirtschaftsbürgertum sei national-konservativ geprägt und in seiner Lebensweise feudalisiert gewesen. Unter Bezug auf die Forschung der 60er- und 70er-Jahre kann er höchst fundiert und überzeugend belegen, dass es sich beim Berliner Wirtschaftsbürgertum geradezu um das Gegenteil, nämlich um ein „Bollwerk des Bürgertums“ gehandelt hat.

Insgesamt fragt man sich bei der Lektüre dieses Buches, wozu noch Habilitationen nötig sind, wenn es bereits derart gute Dissertationen gibt. Für die Studie spricht nicht nur ihr analytischer Gehalt, sondern auch der sprachliche Stil, der verständlich, aber doch immer präzise und sachlich, zum Lesen ermuntert und das auf den ersten Blick spröde Thema auch für den Nichtfachmann interessant werden lässt. Da sieht man dann fast gnädig über die Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten zwischen Inhaltsverzeichnis und Darstellung hinweg, für die wohl ohnehin eher der Verlag als der Autor zu kritisieren sein dürfte.