M. Steinbach u.a. (Hrsg.): Universitätserfahrung Ost

Titel
Universitätserfahrung Ost. DDR-Hochschullehrer im Gespräch


Herausgeber
Steinbach, Matthias; Ploenus, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Agthe, Halle

Neun Emeriti, einstige DDR-Hochschullehrer verschiedener Disziplinen, werden zu ihrer Tätigkeit an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) in Jena befragt. Das Augenmerk von Matthias Steinbach und Michael Ploenus gilt vorzugsweise den Geisteswissenschaftlern/innen. Die entstammen den Jahrgängen 1921 bis 1931. Die Autoren begründen die Konzentration auf das geistige Fach mit ihrer Kompetenz als Historiker. Der Chemiker Günther Drefahl (Jg. 1922), der ab 1962 der FSU mehrere Jahre als Rektor vorstand, bildet die Ausnahme von der Regel.

Fixpunkte aller Gespräche sind die Fragen zu den großen politischen Zäsuren in der DDR, die sich mit den Jahren 1953, 1961 und 1968 verbinden. Die diesbezüglichen Auskünfte ermöglichen es auch den Nachgeborenen, die graduellen Unterschiede in den subjektiven Wahrnehmungen zu erkennen. Allein am Beispiel des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 wird das Problematische der individuellen Erinnerung erkennbar: Der Sportwissenschaftler Prof. Willi Schröder (Jg. 1927) etwa will an diesem Tag auf dem Hallmarkt in Halle (Saale) Erna Dorn als Sprecherin erlebt haben, obwohl keine stichhaltigen Beweise existieren, dass die „Kommandeuse“ (Stephan Hermlin) dort wirklich als Rednerin aufgetreten ist. Auch die Erinnerungen von Prof. Hans Richter (Jg. 1928), der den 17. Juni 1953 in Jena erlebte, zeugen meines Erachtens von einer selektiven Wahrnehmung der Ereignisse. Bezogen auf das Arbeitsumfeld mag stimmen, was der Amerikanist Prof. Karl-Heinz Schönfelder (Jg. 1923) zu Protokoll gab, demzufolge der 17. Juni 1953 im Fachbereich Anglistik „überhaupt keinen Einfluss“ hatte.

Günther Drefahl wird, was den Mauerbau vom 13. August 1961 betrifft, für das Gros seiner einstigen Professorenkollegen sprechen, wenn er beteuert: „Bis auf die profunden Marxisten und Parteifunktionäre empfand man die Mauer als eine Schande ...“ Was wurde den meisten Jenaer Professoren schlagartig bewusst, dass die Grenzschließung sie von den internationalen Wissenschaftsforen (Vorträge, Konferenzen, Forschungsaufenthalte etc.) dauerhaft abschnitt. Allein der Kunsthistoriker Prof. Bernhard Wächter (Jg. 1924) betrachtete den Mauerbau – freilich aus privaten Erwägungen heraus – als „eine Art Erlösung“: „Denn mit einem Schlag war die untergründig doch immer noch lauernde Frage, wie machst du es nun richtig, beantwortet. Nun war sicher, dass man nicht mehr raus kam.“ Prof. Wächter bekennt aber auch explizit, dass er es in der DDR, so gegenüber dem MfS, an Zivilcourage habe fehlen lassen. Unter den Interviewten ist niemand ein Zuträger des MfS gewesen. Also beteuert auch keiner der Professoren, dass der „faustische Pakt“ mit dem Mielke-Ministerium eine Art der Weltverbesserung hätte bedeuten können – so hatte der Jenaer Kunsthistoriker Prof. Friedrich Möbius in seiner Autobiografie von 2001 seine Kooperation mit der Stasi begründet.

Eher gelassen reagierten die meisten Befragten nach eigenen Angaben im Jahre 1976 auf die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Der Kunsthistoriker Bernhard Wächter erinnert sich, dass das Ereignis in seiner Abteilung „keine allzu großen Wellen geschlagen“ hat und ergänzt: „Ich weiß nicht einmal mehr, ob wir eine Erklärung gegen ihn unterschrieben haben.“

Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten hin oder her, Unwägbarkeiten gab es für Lehrstuhlinhaber/innen im Universitätsalltag zahllose. Und je unorthodoxer ein/e Hochschullehrer/in – gemessen an den parteipolitischen Vorgaben – auftrat, umso problematischer konnte seine/ihre Position sein. Aber wohl kaum ein Lehrender dürfte mit solchen Argusaugen (auch und vor allem denen des allgegenwärtigen MfS) beobachtet worden sein wie der Professor für praktische Theologie Klaus-Peter Hertzsch (Jg. 1930). Es blieb aber selbst für die DDR ein singuläres Phänomen, dass ihm und seinen Kollegen/innen von der Sektion Theologie mit dem (in seinem Amt eher unglücklich wirkenden) Olof Klohr ein Professor für wissenschaftlichen Atheismus vor die Nase gesetzt wurde. Aber Klohr, so Hertzsch, sei ein jovialer Mensch gewesen und habe „hier [in Jena] eine geringere Rolle [gespielt] als in der westdeutschen Medien-Öffentlichkeit“. Prof. Hertzsch bestätigt auch, bei der Ausgestaltung der Lehre, von den allgemein gültigen Hochschulrahmenbedingungen abgesehen, autonom gewesen zu sein.

Dass es politisch akzentuierte Kampagnen nicht nur gegen Theologen/innen, sondern auch gegen Wissenschaftler/innen anderer Provenienz gab, zeigt der Fall des Pädagogikprofessors und SED-Mitglieds Rudolf Menzel (Jg. 1921), der 1962 Opfer einer Rufmordaktion wurde, als er in seiner Habilitationsschrift den Schulunterricht in der DDR kritisch befragte. Man bezichtigte ihn des Revisionismus, der Überheblichkeit und „bürgerlicher Allüren“. Menzel fühlte sich nach eigenem Bekunden wie ein Angeklagter in einem Inquisitionsverfahren. Der Vorwurf eines „bürgerlichen Standpunkts“ war eine ideologische Keule, die in Jena gern geschwungen wurde. So gegen den Germanisten Prof. Joachim Müller, auf den sein Schüler und Kollege Hans Richter zu sprechen kommt. Auch der Slawist Gerhard Schaumann (Jg. 1927) wurde kurz nach dem Mauerbau gemaßregelt. Ein probates Mittel gegen Unbotmäßigkeit war das SED-Parteiverfahren. Weil Schaumann mit einigen Kollegen/innen gegen das Mundtotmachen von Kritikern/innen seine Stimme erhob, wurde ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Derartige Disziplinierungsmaßnahmen prägten künftiges Auftreten. Kritik wurde, wenn überhaupt artikuliert, meist weich verpackt, um nicht die eigene Position zu gefährden. Ob direkt oder zwischen den Zeilen formuliert: Zum Helden oder Märtyrer fühlte sich niemand berufen.

Eins bedauern die Befragten unisono: Die kaum zu beziffernde, auf jeden Fall verlorene Zeit, die auch an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena zu DDR-Zeiten mit Zusammenkünften vertan wurde, die rein gar nichts mit universitärer Lehre und Forschung zu tun hatten.

In seinem die Vorzüge und Nachteile derartiger Befragungen klug abwägenden Vorwort nennt der Spiritus rector des Unternehmens, Matthias Steinbach, Geschichte als „Dialog zwischen Menschen und Zeiten“. Deshalb bilden für die Jenaer Historiker/innen auch und vor allem „Zeitzeugenberichte in Form lebensgeschichtlicher Interviews“ ein notwendiges Korrektiv zu den geglätteten Einseitigkeiten des offiziellen DDR-Schrifttums. Denn der Erkenntniswert der schriftlichen Hinterlassenschaften der „wirklichkeitsfremden Bürokratie“ namens DDR, auch das deutet der Herausgeber an, ist für die historische Forschung oft erschreckend gering.

Der Band hätte gewonnen, wenn zu jedem Gesprächspartner ein Lebenslauf abgedruckt und eine Auswahl wichtiger Publikationen aufgeführt worden wäre. Im Abkürzungsverzeichnis fehlt die Erklärung für das von Rudolf Menzel auf Seite 71 verwendete Kürzel GVH.

Es ist fraglos, dass die von Steinbach und Ploenus geführten Gespräche das Bild von der Lust und Last, die in der DDR mit einer Professur im Allgemeinen und an der FSU in Jena im Speziellen verbunden waren, schärft. Es wäre jetzt an der Zeit, auch die Naturwissenschaftler/innen, die zu DDR-Zeiten in Jena tätig waren, zu befragen. Das Buch kann Vorbildfunktion für alle Hochschulen in Ostdeutschland haben, ihren einstigen Hochschullehrern/innen ähnliche Fragen zu stellen – auch und gerade dann, wenn die zwischen 1949 und 1989 liegende Geschichte der Universitäten von Greifswald bis Dresden nach den Quellen aufgearbeitet und publiziert sein sollte. Nicht nur Akten, auch die subjektive Authentizität von Zeitzeugen ist von Bedeutung.

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