I. Steffelbauer u.a. (Hrsg.): Vom alten Orient zum Nahen Osten

Cover
Titel
Vom Alten Orient zum Nahen Osten.


Herausgeber
Steffelbauer, Ilja; Hakami, Khaled
Reihe
Expansion - Interaktion - Akkulturation. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt 10
Erschienen
Essen 2006: Magnus-Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Kübler, Universität Wien / Lauder Business School, Wien

Die Anzahl an Publikationen und Veranstaltungen zum komplexen Verhältnis „des Westens“ und der arabischen bzw. islamischen Welt ist unüberschaubar geworden, vermag jedoch letztlich wenig zu erklären. Dieser Befund ist ein zentrales Anliegen des Vorworts zum interdisziplinären Sammelband "Vom Alten Orient zum Nahen Osten", herausgegeben von Ilja Steffelbauer und Khaled Hakami. Außerdem geht es um eine Dekonstruktion jener europäischen Perspektive, die die arabische bzw. die islamische Welt hauptsächlich entlang von drei Zäsuren wahrnimmt: "Die Wiege der Zivilisation steht im Alten Orient. Die Kreuzfahrer ziehen ins Heilige Land. Der aktuelle Krisenherd schwelt im Nahen Osten." (S. 9) Die Auflösung verzerrender und verzerrter europäischer "Orientperzeptionen" bildet eine Klammer um die Beiträge der an der Universität Wien lehrenden HistorikerInnen, AnthropologInnen, OrientalistInnen, ByzantinistInnen, GeografInnen und PolitikwissenschafterInnen.

Im Folgenden sollen die inhaltlichen, regionalen und epochalen Schwerpunktsetzungen des Sammelbandes kursorisch angerissen werden, ehe dann eine Bewertung vor der Folie der eingangs dargestellten Kritik stattfindet. Der Geograf Heinz Nissel zeigt in seiner disziplinhistorischen Aufarbeitung die Schwierigkeit den betreffenden "Kulturerdteil" begrifflich zu fassen. In Folge des von Edward Said – dem Nissel kritisch gegenübersteht – ab den späten 1970er-Jahren vorgebrachten Orientalismus-Vorwurfes setzten sich die Bezeichnungen „arabische Welt“ und "islamische Welt" durch. Nissel führt aus, dass auch diese Benennungen viele chronologische und regionale Unterschiede einebnen und insofern Verwirrung stiften, als zum Beispiel die größten muslimischen Bevölkerungen (Indonesien, Indien, Iran, Bangladesh, Pakistan) gerade nicht in arabischen Ländern leben, wobei letztere allerdings das historische und religiöse Zentrum des Islam bilden. Auch die innerislamische Abgrenzung des "Dar al-Islam" (Haus des Islam) bietet letztlich nur dann wissenschaftliches Erklärungspotential, wenn die muslimische Welt "als Netzwerk sozialer Interaktionen, symbolischer Systeme und bestimmter Alltagspraktiken" (S. 24) aufgefasst wird. Claudia Kickinger und Gabriele Rasuly-Paleczek beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit Aspekten nomadischer Lebensweise. Rasuly-Paleczek rückt dabei Zentralasien, das in der populären eurozentrischen "Orientwahrnehmung" häufig völlig ausgeblendet wird, in den Fokus.

Khaled Hakami zeigt in seinem Beitrag zur Wahrnehmung der antiken Zivilisationen Ägyptens und Mesopotamiens, dass "[m]it Theorien, die eher unschöne Dinge wie ökologische Zwänge, Bevölkerungsdruck und Krieg als eigentlichen Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sehen, [...] natürlich kein Schulbuch zu machen [ist]. [...] Viel lieber sehen wir Ägypten als das ‚Geschenk des Nils' (Herodots Worte) und die großen Entwicklungen als die ‚großartigen Leistungen der Menschheit‘, die natürlich in direkter Linie zu uns modernen Europäern reichen." (S. 53) Dass selbst in der einschlägigen mediävistischen Forschung die Darstellung der Kreuzzüge vielfach zu eindimensional gerät, können Peter Feldbauer und Michael Mitterauer nachweisen. Indem sie das innereuropäische Vorgehen gegen die "Feinde der Christenheit" (z. B. gegen Albigenser und Hussiten) und nicht-religiös inspirierte kriegerische Auseinandersetzungen mit den Sarazenen (Araber) hervorheben, machen sie deutlich, dass die "Konvention der ‚gezählten Kreuzzüge‘ [...] eine verengte Perspektive [schafft]". (S. 140) Die zwischen den Einflusssphären mehrerer Machtzentren gespaltene islamische Welt erfuhr auch unabhängig von den Kreuzzügen oft strukturbedingte und teils krisenhafte Veränderungen, wobei es partiell auch zu Kooperationen mit den "Franken" kam.

Im Zuge eines möglichen EU-Beitritts der Türkei gewinnen Beiträge, die sich jenseits klischeebehafteter Vorstellungen von "Abendland" und "Morgenland" mit dieser imaginierten Grenze Europas auseinandersetzen, an besonderer Relevanz. Ilja Steffelbauer liefert in „Hellenismus und Orient“ eine spannende Darstellung zu hellenistischen Städte- und Staatsgründungen bzw. zum "Hellenismus als ein[em] globale[n] – natürlich nur im Sinne der antiken Ökumene – soziökonomische[n] wie auch kulturelle[n] Wandlungsprozess". (S. 80) Damit werden jene Bilder von den heroischen Eroberungsfeldzügen Alexander des Großen, mit denen jedes europäische Schulkind sozialisiert wird, zumindest erweitert. Wolfgang Felix‘ herrscherzentrierte Abhandlung über mehr als ein halbes Jahrtausend römisch-persischer Beziehungen („Pompeius bis Herakleios“) passt hingegen eher in ein enzyklopädisches Nachschlagewerk zur Antike als in einen interdisziplinären Sammelband. Kartenmaterial und chronologische Auflistungen der Regentschaftszeiten wären auf alle Fälle notwendig gewesen, um den Beitrag anschaulicher und nachvollziehbarer zu gestalten. Das komplexe Herrschafts- und Verwaltungssystem des Osmanischen Reiches steht schließlich im Mittelpunkt des detailreichen Aufsatzes von Marlene Kurz, der auch in die osmanische Terminologie einführt.1

Herbert Eisenstein und Thomas Schmidinger konstatieren, dass die Gesellschaften der islamischen Welt ebenso wenig statisch sind wie jene Europas und Amerikas und leiten damit in die unmittelbare Gegenwart über. Während Eisenstein die Periode vom Zerfall des Osmanischen Reiches, der europäischen Kolonisierung und der Dekolonisierung unter die Lupe nimmt und neben Länderbeispielen auch Aspekte der Parteienentwicklung (Wafd-Partei in Ägypten und Ba‘th-Partei im Irak und in Syrien) sowie abrissartig bewaffnete internationale Konflikte unter die Lupe nimmt, fokussiert Schmidinger auf die rezentesten Ereignisse in der Region. Neben den äußerst informativen Ausführungen zum Irak-Krieg, zum Libanonkrieg 2006, zum Nahostkonflikt und zum Islamismus bearbeitet er auch Themenbereiche wie Feminismus und Lesben- und Schwulenbewegungen in arabischen Gesellschaften. Ebenfalls erwähnt wird die zunehmende Implementierung neoliberaler Wirtschaftsmodelle nicht nur in den meisten Golfstaaten, sondern auch in Jordanien und im Libanon und die damit verbundenen sozialen Probleme.

Den Herausgebern gelingt es in "Vom Alten Orient zum Nahen Osten" eine breite Themenpalette unterzubringen. Wiewohl kein Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung von jahrtausendelangen Entwicklungen besteht, werden zahlreiche Momente irreführender europäischer "Orientwahrnehmungen" aufgezeigt. Trotzdem muss unterschieden werden, ob Versatzstücke oberflächlicher Schulbuchgeschichtsschreibung und klischeehafter Nachrichtenbilder einer allgemeinen Öffentlichkeit zur Disposition stehen oder ob sich die Kritik an die jeweilige fachwissenschaftliche Beschäftigung mit der Region richtet. In dieser Hinsicht differieren die Beiträge mithin beträchtlich. Durchaus als Imperativ an beide AdressatInnenkreise kann Thomas Schmidingers Schlussstatement verstanden werden, in dem er am Beispiel des Nahostkonfliktes, der in den Medien und vielen wissenschaftlichen Debatten im Vergleich mit anderen Krisenherden überrepräsentiert ist, mehr Distanz und (Selbst-)Reflexion moniert: "Nachrichten aus dem Nahen Osten dringen so immer auch in unser Unbewusstes ein, sind nicht nur Nachricht, sondern berühren uns auf seltsame Weise mehr als ebenso lang andauernde Konflikte, sei es in Sri Lanka oder Westpapua. [...] Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum nur sehr wenige europäische Beobachter – seien es Politiker, Journalisten oder Intellektuelle – versuchen, ernsthaft den Konflikt als solchen zu verstehen und den Fokus auf die Akteure und Betroffenen in der Region zu legen, ohne sich sofort in jeder Frage reflexhaft als Kriegspartei zu imaginieren." (S. 269)

Anmerkung:
1 In diesem Zusammenhang muss Kritik bezüglich uneinheitlicher Schreibweisen vor allem an die Herausgeber adressiert werden. Sie betonen zwar, dass die Transkription arabischer Wörter nach den Regeln der Deutschen Orientgesellschaft erfolgt, wobei im Text vielfach die diakritischen Zeichen ausgelassen werden oder auch ägyptische Schreibweisen vorkommen. Während sich auch philologisch nicht bewanderte LeserInnen bei Jihad – Dschihad – Gihad noch orientieren können, wird es schwieriger, wenn Marlene Kurz die irakische Stadt Nacaf in türkischer Orthografie schreibt oder JüdInnen und ChristInnen als Schutzbefohlene des Islam gemäß der persisch-türkischen Aussprachetradition als „zimmi“ bezeichnet, während in deutschsprachigen Publikation die arabische Schreibung „dhimmi“ üblich ist (vgl. S. 203).

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