F. Šmahel: Die Reise Karls IV. nach Frankreich 1377-1378

Cover
Titel
Cesta Karla IV. do Francie 1377-1378 [Die Reise Karls IV. nach Frankreich 1377-1378].


Autor(en)
Šmahel, František
Erschienen
Prag 2006: Argon Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Als der Rezensent das Buch erstmals in die Hand nahm, fühlte er sich an die große illustrierte Körner-Ausgabe von Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“ (1987) erinnert. Dass Šmahels neues Werk auch inhaltliche Bezüge zu Huizingas „Klassiker“ aufweist, – den Šmahel im Übrigen nicht in seiner Literaturliste anführt –, ist eines der vielen erfreulichen Ergebnisse nach der Lektüre des zunächst nur äußerlich wegen seiner Schönheit bewunderten Buches. Šmahel, Mediävist und Romanist und derzeit wohl der führende tschechische Historiker des Spätmittelalters, ist dem deutschen Publikum vor allem durch seine epochale dreibändige „Hussitische Revolution“ (2002) bekannt. Mit der „Reise Karls IV.“ kehrt der Autor, wie der Protagonist seines Buches, zu einem „Ort“ seiner Jugend zurück, und für beide gestaltet sich die Welt bei der Rückkehr ganz anders als während ihrer ersten Kontakte. Jedenfalls war Šmahel ausgesprochen beflügelt, sich feinfühlig und verständnisvoll mit der Kultur und Politik Frankreichs im 14. Jahrhundert auseinanderzusetzen, wozu er sich in großem Maße in die relevante Literatur eingearbeitet hat. Streckenweise beruht das Buch auf fünf zwischen 2003 und 2006 publizierten Aufsätzen Šmahels, die zusammen freilich nur etwas mehr als 100 Seiten ausmachen. Die Reise Karls IV. wurde als eigenständiges Buchthema bisher nicht aufgegriffen, war aber in den tschechischen Biographien Karls und entsprechenden Epochendarstellungen immer präsent – siehe nur die Werke von Josef Šusta, Jiří Spěváček, František Kavka und Lenka Bobková –, während sie etwa in der Biografie Ferdinand Seibts zuvorderst unter dem (oft diskutierten) Aspekt der französischen Statthalterschaft im Arelat erscheint.

Die Reise Karls IV. begann im November 1377 im brandenburgischen Tangermünde und führte über Lüneburg, Minden, Herford, Bielefeld, Dortmund, Essen und Jülich nach Aachen, wo eine mehrtägige Pause eingelegt wurde. Nach dem Nikolaustag zog der Kaiser über Brüssel nach Cambrai, wo er mit seinem Sohn Wenzel (IV.) am 22. Dezember einzog und anschließend das Weihnachtsfest beging. Am 4. Januar betrat die Reisegesellschaft Paris und wurde vom französischen König Karl V. empfangen. Nach mehreren Ortswechseln wurde der Kaiser Mitte Januar in Beauté-sur-Marne von Karl V. verabschiedet und reiste über Reims nach Mouzon, um anschließend wieder das Reich zu betreten und drei Wochen im Februar in Luxemburg zu verbringen. Über Heidelberg und Nürnberg, wo der Kaiser wieder zwei Wochen Aufenthalt nahm, kam er zu Beginn des Monats April in Prag an. Der betagte, schwer an Gicht erkrankte Kaiser nahm anscheinend die fünfmonatige beschwerliche Reise unerschrocken auf sich. Oftmals musste der krankheitshalber unbewegliche Kaiser getragen werden, so etwa in die obere Kapelle der Sainte-Chapelle, wo er sich der Besichtigung wertvoller Reliquien hingab. Der Grund für die Reise, der zu erfahren ist, lautet dementsprechend: Karl wollte bestimmte Reliquien aufsuchen und in der Abtei St.-Maur-des-Fossés Heilung für seine Erkrankung finden.

Die bereisten Gebiete waren Karl IV. seit seiner Jugend bekannt, als sein Vater König Johann von Böhmen ihn zur Ausbildung und Erziehung an den französischen Königshof sandte, wo er die Jahre von 1323 bis 1330 verbrachte. Seinen Neffen, den späteren französischen König Karl V. (1364-1380), der als Dauphin seinen von den Engländern gefangenen Vater Jean II. vertrat, traf der frischgebackene Kaiser Karl IV. erstmals 1356 in Metz, und Karl V. blieb den Luxemburgern, der Familie seiner Mutter, stets eng verbunden. Zwischen den beiden Herrschern gibt es genügend Parallelen: Wie sein Onkel war auch Karl V. hoch gebildet, durchaus mehr als jener ein Freund der Wissenschaften und der Philosophie, Bauherr zahlreicher großer Vorhaben und Kunstmäzen. Beide galten als umsichtige Herrscher.

Hauptquelle für Karls Aufenthalt in Frankreich bilden die Grandes Chroniques de France (3. und 4. Textstufe) in Französisch, die sich fast ausschließlich mit den Ereignissen auf französischem Boden beschäftigen. Ihre relevanten Textstellen werden in einer korrigierten Übersetzung auf Tschechisch abgedruckt.1 Chronist der Ereignisse von 1377/78 war höchstwahrscheinlich der damals bereits betagte königliche Kanzler Pierre d’Orgemont (und seine Mitarbeiter), der in den Grandes Chroniques de France so etwas wie den offiziellen Bericht vorlegte, ohne sich freilich in simplen Lobeshymnen zu ergehen. Seine Augen, Ohren und Hände müssen unermüdlich offen bzw. tätig gewesen sein, um einen solch reichhaltigen Text zu produzieren. Vor den Chroniktext hat Šmahel einen „Prolog: Die Luxemburger und Frankreich 1322-1377 [im Inhaltsverzeichnis irrtümlich 1377-1378]“ mit chronologisch einleitenden Erläuterungen gestellt: „Die Kinderjahre zweier Könige“, „Metz 1356: Die erste Begegnung“, „Der Dauphin Karl 1357-1364: Im Sonnenlicht und im Schatten“, „Frankreich während der Herrschaft Karls V. des Weisen“ und „Die europäische Dimension der Herrschaft Karls IV.“ Der dem Chroniktext nachgestellte „Epilog: Widerhall und Nachspiel des Pariser ‚Gipfeltreffens’“ schließt den Hauptteil des Buches ab. Ihm folgen 15 Exkurse, Sonden und Etüden (sic), von denen manche fast eigenständige Aufsätze darstellen und die sich unter anderem befassen mit: ergänzenden chronikalischen Quellen, zugehörigen Abbildungen, Selbstverständnis des Königs von Frankreich („Kaiser im eigenen Königsreich“), Ideal der belle ordonance, Begrüßungsumzügen und feierlichen Einritten, Pferden, Kleidung, Residenzen, Festbanketten, Speisen, Musik, Geschenken und, da keine Rechnung ohne den Wirt gemacht werden sollte, den Abrechnungen. Hierbei beweist Šmahel eine große Darstellungs- und Interpretationskunst. Wenn denn einmal das Postulat zutreffen sollte, dass Vergangenheit „lebendig“ wird, dann in diesen Texten, bei deren Lektüre die Sinne des Lesers gleichsam „gereizt“ werden. Er begibt sich auf eine minutiöse, fast „echtzeitige“ und farbige Reise in das damalige Geschehen und nimmt teil an den verschiedenen Ritualen, Machtdemonstrationen und -präsentationen, lernt damalige Topographien und Räume kennen und nähert sich damaligen Mentalitäten des Alltags und des Ausnahmezustands Fest. Šmahels Ausführungen sollten von nun an zum festen Inventar kulturgeschichtlicher Forschungen der Realienkunde, der Hof- und Residenzenforschung, der Mentalitätsgeschichte, der Kommunikationsforschung, der Ritualforschung usw. gehören.

Das ist jedoch nicht alles, denn in seiner Darstellung lässt Šmahel keineswegs die politische Geschichte außer Acht, sondern zeigt, wie groß auch bei den so oft abgehandelten Personen Karl IV. und Karl V. der Freiraum ist, um neue Ergebnisse zu liefern. Es wäre kleinlich, bei solch einem großen Wurf Mängel zu suchen, zur immer noch grundlegenden Edition für die Geschichte Karls IV., den Regesten innerhalb der Regesta Imperii, muss dennoch bemerkt werden, dass die Gesamtreihe zwar von J. F. Böhmer begründet wurde, die Karl-Regesten aber von Alfons Huber bearbeitet wurden.

Fazit: Šmahel dringt faszinierend weit in eine kulturgeschichtliche Problematik ein und bietet ein enorm plastisches Bild der Lebens- und Denkgewohnheiten, der Mentalitäten der französischen (und „luxemburgischen“) Oberschicht um 1380. Und das bringt ihn eben in eine gewisse Nähe zu Huizinga, der mit einem ähnlichen kulturgeschichtlichen Einfühlungsvermögen in „Herbst des Mittelalters“ burgundische Verhältnisse und Wandlungen beschrieben hat.
Für den deutschen Leser bleibt vor allem eines: Ein solcherart anregendes Buch sollte ins Deutsche übersetzt werden.

Anmerkung:

1 Basierend auf dem Text aus: Cesta císaře Karla IV. do Francie. Ze souvěké kroniky franzouské přeložil Jakub Pavel. Předmluva Josef Šusta [Die Reise Kaiser Karls IV. nach Frankreich. Aus einer zeitgenössischen französischen Chronik übersetzt von Jakub Pavel. Vorwort Josef Šusta], Praha 1937.

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