K. Roth (Hrsg.): Arbeitswelt - Lebenswelt

Cover
Titel
Arbeitswelt - Lebenswelt. Facetten einer spannungsreichen Beziehung im östlichen Europa


Herausgeber
Roth, Klaus
Reihe
Freiburger Sozialanthropologische Studien 4
Erschienen
Berlin 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Heumos, Moosburg

Dieser Band, der ausgewählte Referate zweier Tagungen über Arbeit, Lebenswelt und Alltagskultur im Sozialismus enthält, die in Wroclaw (2002) und Tartu (2003) stattgefunden haben, ist in mehrfacher Hinsicht anregend. Erstens schließen die aus ethnologischer Sicht erarbeiteten empirischen Befunde an die sozialgeschichtliche Kommunismusforschung an und bereichern diese vor allem durch ihre „subjektzentrierte“ Perspektive. Zweitens wird die Publikation Forschungen über „Netzwerke im Sozialismus“ voranbringen, wie sie heute etwa im Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung betrieben werden. Drittens stärkt der Sammelband – auch wenn unintendiert, wie der Einleitung zu entnehmen ist – einen Forschungstrend, der sich nicht von der Siegerpose gegenüber den untergegangenen staatssozialistischen Systemen leiten lässt, für die Prämien in Form einer vorab gesicherten akademischen Anerkennung gezahlt werden. Viertens nimmt das Buch die oft beschworene, aber seltener eingelöste Forderung nach vergleichender Kommunismusforschung insofern ernst, als das östliche Europa in den Mittelpunkt gerückt und damit erneut die Diskussion darüber angestoßen wird, ob die in erster Linie von der Entwicklung der DDR (als der, abgesehen von der Sowjetunion, bislang am genauesten untersuchten staatssozialistischen Formation) abgezogenen theoretischen Konzepte und Erklärungsmuster der historischen und sozialwissenschaftlichen Kommunismusforschung auch den Verhältnissen Ostmittel- und Südosteuropas angemessen sind. Es ist kein Zufall, dass die bisherigen Untersuchungsansätze, die die DDR und das östliche Europa vergleichend in Beziehung setzen, auf der Ebene funktionalistisch-systemtheoretischer Phasenmodelle angesiedelt sind, deren hoch abstrakte Kategorien die bunte Vielfalt der sozialen Variablen in diesen Ländern allenfalls im Sinne von Oberflächenvariationen zusammenbringen.

Jeweils zwei Beiträge zu dem Sammelband beziehen sich auf die Sowjetunion (Vjaceslav Popkov, Aleksandra Matyuchina), Estland (Kirsti Joesalu, Ene Koresaar) und Polen (Joanna Bar, Piotr Swiatkowski). Mit drei Beiträgen sind die Tschechoslowakei (Marketa Spiritova, Magdalena Pariková, L’ubica Herzanová) und Bulgarien (Milena Benovska-Sabkova, Petar Petrov, Ivanka Petrova) vertreten. Hinzu kommen die Studie des serbischen Soziologen Pedrag Markovic und eine Abhandlung von Birgit Huber (Tübingen) zur konzeptionell-theoretischen Grundlegung der Thematik des Bandes. Die Einleitung des Herausgebers ordnet das Thema forschungsgeschichtlich ein und verknüpft damit einen weit gefassten historischen Überblick über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Arbeits- und Lebenswelt im Kapitalismus und im Sozialismus.

Die Interferenz von Arbeits- und Lebenswelt wird an zahlreichen Komplexen vorgeführt; zu diesen gehören unter anderem soziales Milieu und Herrschaftsformen im Industriebetrieb (im Sozialismus wie im Postsozialismus); Arbeitsverhältnisse in den Büros städtischer Angestellter; Anbindung von Freizeitbeschäftigungen an den Arbeitsplatz; Familie und Erwerbstätigkeit im Zusammenhang mit Generationenbeziehungen; feministisch inspirierte Diskurse über Alltagsbewältigung; Leser/innenumfragen als Quelle zur Erforschung des Alltagslebens.

Trotz der Variationsbreite der Entfaltung des Themas „Arbeits- und Lebenswelt“ konvergieren die Beiträge in verschiedenen Punkten, von denen hier nur einer herausgegriffen werden soll. Diejenigen Untersuchungen, die mit der Analyse der lebensweltlichen Anschlussstellen am Arbeitsplatz zugleich nach der Qualität der Sozialbeziehungen bei der Organisation des Arbeitsprozesses fragen, beurteilen die Form der betrieblichen Sozialintegration positiv. Während ein großer Teil der Literatur und insbesondere das Konzept des kommunistischen Neo-Traditionalismus skeptisch dazu neigen, die erfreuliche Erfahrung der Sozialbeziehungen im Betrieb vor allem auf die Abwesenheit von Leistungsdruck zurückzuführen, und das Amalgam von Arbeits- und Lebenswelt im Staatssozialismus generell unter Korruptionsverdacht stellen, heben die Beiträge des vorliegenden Bandes auf die hohe Sozialisationsfunktion der Organisation der Arbeit ab, auf akzeptierte Gruppennormen, auf Solidarität, Kooperationsbereitschaft, wechselseitiges Vertrauen und Zuwendung, ohne ganz zu leugnen, dass auch der Aspekt des instrumentellen Tauschs in den Beziehungen am Arbeitsplatz eine Rolle spielte. Dass der Charakter der betrieblichen Sozialbeziehungen nicht primär aus fehlendem Leistungs- und Konkurrenzdruck abgeleitet werden kann, legen das bulgarische und das russische Beispiel nahe. Im bulgarischen Postsozialismus wird – folgt man dem Beitrag von Ivanka Petrova – der sozialistische betriebliche „Familismus“ zumindest von Kleinunternehmer/innen bewusst fortgesetzt und gepflegt. Vjaceslav Popkov weist darauf hin (S. 49), dass die nach dem Zusammenbruch des sowjetrussischen Staatssozialismus fortdauernden informellen innerbetrieblichen Verhaltensmuster auch von der jüngeren Generation übernommen werden, die nur zum Teil in der kommunistischem Ära sozialisiert worden ist.

Strenge Kritiker/innen verknüpfen die „lebensweltliche Überformung der Arbeitssphäre“ im Staatssozialismus kausal mit dem „Systemkollaps“, weil diese Überformung „Grundmuster und Tugenden industrieller Kultur“ entkräftete. 1 Diese Kritik beruht auf der Entwicklung der DDR, prätendiert aber Gültigkeit für den Staatssozialismus überhaupt. Dazu zwei Anmerkungen.

a) Die von der Industrialisierung hervorgebrachten Rollenmuster sind abhängig vom Selbstverständnis industriell fortgeschrittener Gesellschaften, das heißt sie verlieren durch Generalisierung nicht ihren situationsgebundenen spezifischen Gehalt. In langfristiger sozialgeschichtlicher Perspektive haben sich Arbeits- und Lebenswelt im östlichen Europa zumal im industriellen Sektor stets überlappt; diese Überlagerung liegt der Etablierung der kommunistischen Systeme immer schon voraus und zugrunde. Selbst in der Tschechoslowakei, dem industriellen „Vorposten“ des östlichen Europa, hinterließen lebensweltliche Einflüsse (ursächlich verknüpft mit dem starken Anteil von Arbeiterbauern an der Industriearbeiterschaft) tiefe Spuren in den betrieblichen Sozialbeziehungen, sowohl zwischen den Arbeiter/innen als auch zwischen Arbeiter/innen und Leitungspersonal 2. Die oben zitierte Kritik ist insofern bloß normativ. Sie favorisiert arbiträr das seinerseits durch spezifische sozialstrukturelle Evolutionen geprägte „westliche“ Modell rationaler Betriebsorganisation, das für Armeen von industriellen Nachhilfeschüler/innen im östlichen Europa postuliert wird, ohne sich für die Gründe ihres geschichtlichen So- und nicht anders Gewordensein zu interessieren.

b) Den exzellenten Beitrag von Birgit Huber in dem hier rezensierten Band (S. 121-140) kann man, wenn man so will, als ironischer Kommentar zu der eben angedeuteten Problematik lesen. Vor dem Hintergrund der postfordistischen Entwicklung des Kapitalismus, die in wachsendem Maße die lebensweltlichen Ressourcen der Beschäftigten in Beschlag nimmt, Arbeit- und Lebenswelt entgrenzt und den Typus des „Teleheimarbeiters“ produziert, der längst keine marginale Existenzform mehr ist, gerät das Festhalten an „Grundmuster[n] und Tugenden industrieller Kultur“ zur analytisch unergiebigen Beschwörung verfallender kapitalistischer Strukturmerkmale.

Anmerkungen:
1 Jessen, Ralph, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96-110, hier S. 108.
2 Heumos, Peter, Die Arbeiterschaft in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Elemente der Sozialstruktur, organisatorischen Verfassung und politischen Kultur, in: Bohemia 29 (1988), S. 50-72.

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