Titel
Ulmer Arbeiterleben. Vom Kaiserreich zur frühen Bundesrepublik


Autor(en)
Linse, Ulrich
Erschienen
Anzahl Seiten
136 S.
Preis
€ 15,70
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Wolfgang Gippert, Seminar für Pädagogik, Universität zu Köln

Mit seiner Lokalstudie über Arbeiterleben in der württembergischen Garnisons- und Industriestadt Ulm zwischen Wilhelminischem Kaiserreich und früher Nachkriegszeit legt der Historiker Ulrich Linse eine in mehrfacher Hinsicht überraschende Untersuchung vor.

Ungewöhnlich ist etwa der eigene familienhistorische, stark autobiografische Zugang zum Thema, erfolgt doch die Rekonstruktion des schwäbischen Arbeiterlebens über mehrere Generationen anhand von Fallbeispielen aus der nächsten Verwandtschaft des Autors, mit dem lebensgeschichtlichen Schwerpunkt auf der Jugend seines Vaters Friedrich Linse. Relativ neuartig ist auch die Verwendung von Privatfotografien als historische Quelle zur Sozialgeschichte der Arbeiterschaft: Da schriftliche Selbstzeugnisse der im Mittelpunkt stehenden Person „kaum vorhanden sind“ (S. 9), bilden die privaten Fotos von Friedrich Linse, die zwischen 1928 und 1950 entstanden sind, neben Statistiken zur Ulmer Arbeiterschaft und anderen zeitgeschichtlichen Dokumenten einen wichtigen Quellenkorpus der vorliegenden Studie. Verwunderlich erscheint auch, dass der Band, der in der „Kleine[n] Reihe des Stadtarchivs Ulm“ erschienen ist, auf verhältnismäßig wenigen 130 Seiten, die zudem mit den genannten Fotografien reichlich bebildert sind, einen relativ langen und ereignisreichen Zeitraum deutscher Geschichte in den Blick nimmt – zumal thematisch ähnliche, wenn auch nicht regionalgeschichtlich ausgerichtete Vorhaben wie das monumental angelegte Projekt zur „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland“ für den gleichen Zeitraum oder auch für weitaus kürzere historische Spannen wesentlich umfangreichere Publikationen vorsehen bzw. vorgelegt haben.

Die Studie verfolgt mehrere Intentionen: Zweifelsohne steht die Spurensuche nach einem Teil des Lebenswegs des 1906 geborenen und 1988 verstorbenen Ulmer Eisendrehers, Naturfreundes und Hobbyfotografen Friedrich Linse im Mittelpunkt der Untersuchung. Zugleich geht es dem Autor jedoch um eine „Kollektivbiografie der Arbeiterschaft in Ulm“ (S. 8), die sich – wenn auch teilweise zu Statistiken verkürzt – aus den gemeinsamen Lebens- und Arbeitsverhältnissen erschließen soll. Und eine weitere, persönliche Absicht verknüpft Ulrich Linse mit seinem Band: den „verspätete[n] ‚Dialog’ eines Sohnes mit seinem Vater“ (S. 9).

Die ersten drei Kapitel beleuchten zunächst den Strukturwandel Ulms in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter familiengeschichtlicher Perspektive (S. 10-30). In diesem Zeitraum wandelte sich die traditionelle Garnisons-, Handels- und Handwerkerstadt Ulm in eine Industriestadt, mit der Metallverarbeitung als einem der wichtigsten Gewerbezweige. Es waren vor allem junge, ledige Männer aus der ländlichen Umgebung Ulms, die dem armseligen dörflichen Leben entfliehen und in dem aufstrebenden Industriezentrum einen Neuanfang versuchen wollten. Zu den Arbeitsmigranten gehörte auch der Großvater des Autors, der Anfang der 1890-er Jahre eine Anstellung in den Ulmer Wieland-Werken fand und sich vor Ort in dem neu entstandenen Fabrik- und Arbeiterviertel ‚Untere Bleiche’ niederließ. Hier wuchs der 1906 geborene Friedrich Linse in einem Milieu heran, das sich jedoch weniger durch sozialdemokratisch geprägte Traditionen und Netzwerke auszeichnete, sondern in dem sich die aus dörflichen Verhältnissen stammenden Arbeiter um „kleinbürgerliche Respektabilität“ (S. 28) bemühten.

Kindheit und Jugend Friedrich Linses stehen im Mittelpunkt der folgenden beiden Kapitel (S. 31-54). Hier greift der Autor u. a. auf Informationen aus einem Tonband-Interview zurück, das er 1982 mit seinem Vater geführt hat. Zunächst wird die typische ‚Straßensozialisation’ von Arbeiterkindern geschildert, in deren Kontext die Heranwachsenden von den Eltern unbeaufsichtigt ‚ihr’ Wohnquartier in Besitz nahmen. Das Prinzip der selbstorganisierten, autonomen Freizeitgestaltung außerhalb der Kontrolle Erwachsener führten die Heranwachsenden auch als Jugendliche fort, indem sie sich in den 20-er Jahren zu einer ‚wilden Clique’ formierten: „Die gemeinsame Herkunft aus dem Wohnviertel“, so Linse, „gab den Jugendlichen Stütze und Identität, sorgte aber auch für eine gewisse soziale Homogenität der Gruppenmitglieder“ (S. 39). Solche Cliquen, deren Existenz bisher vor allem für das Rhein-Ruhr-Gebiet, die Stadt Leipzig und die Metropole Berlin aufgearbeitet ist, trafen sich vorzugsweise an den Wochenenden zu Ausflügen und unreglementierten Unternehmungen in der näheren Umgebung, auch zu längeren ‚Fahrten’ in die ‚freie Natur’, wobei der gemeinsame Spaß bei Sport und Musizieren in der Regel im Vordergrund stand. Vor allem dieses unbeschwerte Jugendleben ist in dem Band mit zahlreichen Fotografien Friedrich Linses dokumentiert: Sie zeigen in der Mehrzahl männliche Jugendliche, die allerdings nicht nur auf Vergnügungen aus waren, sondern die durch die Zurschaustellung ihrer Körperlichkeit Kraft, Mut, Selbstvertrauen, Geschicklichkeit, Abhärtung und Ausdauer demonstrierten.

In den Kapiteln „Weltwirtschaftskrise, Naturfreunde und Friedensbewegung“ (S. 55-65) sowie „Anpassung, Rückzug und Isolation im Nationalsozialismus“ (S. 66-83) werden die politische Bewusstseinsbildung Friedrich Linses sowie sein Verhalten während der NS-Zeit thematisiert. Wie in den vorangegangenen Kapiteln verliert der Autor die strukturgeschichtlichen Entwicklungen in Ulm nicht aus dem Blick; die biografische Rekonstruktion wird immer wieder an relevante gesellschaftliche Ereignisse rückgekoppelt bzw. vor deren Hintergrund reflektiert. So machte die Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre auch nicht vor der Ulmer Metallindustrie halt: Zusammen mit vielen Kollegen verlor der Jungarbeiter Friedrich Linse, der bei den Wieland-Werken eine Facharbeiterlehre zum Eisendreher absolviert hatte, seine Anstellung. Zwar sympathisierte der junge Mann mit den lebensreformerisch ausgerichteten Naturfreunden ebenso wie mit der Weimarer Friedensbewegung; auch wurde ihm im Nachhinein durchaus eine „sozialistische Gesinnung“ (S. 66) bescheinigt. Dem NS-Regime gegenüber legte er hingegen jene widersprüchliche Haltung an den Tag, die der Forschung heute als weit verbreitetes Kennzeichen der Arbeiterschaft im Nationalsozialismus gilt und das mit dem Topos der „widerwilligen Loyalität“ (ebd.) beschrieben wird. Die Attraktivität des Regimes für Ulmer Arbeiter rührte vor allem vom wirtschaftlichen Aufschwung in der Metallindustrie her, der seit Ende 1934 durch die beschleunigte Rüstungskonjunktur einsetzte, Arbeitsplätze schaffte, Metall verarbeitende Facharbeiter mit Spitzenlöhnen bedachte und sie zum Teil während des Krieges durch ihre ‚Unabkömmlichkeit’ sogar vor dem Einzug in die Wehrmacht schützte. Parallel dazu führte die Zerschlagung bzw. ‚Gleichschaltung’ der traditionellen sozialistischen Arbeiterpolitik-, -kultur- und -freizeitorganisationen auch in der Ulmer Arbeiterschaft zu jenem weit verbreiteten Verhaltensmuster, das als „Rückzug ins Private“ (S. 67) bezeichnet wird.

Die folgenden Kapitel, in denen Ulrich Linse das Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre thematisiert, weisen stark autobiografische Züge auf (S. 84-112). Der 1939 geborene Autor erinnert aus seinen frühen Kindheitsjahren die schweren Luftbombardements auf Ulm, die damit verbundenen Fliegeralarme, die in „Todesangst verbrachte[n] Stunden im Luftschutzkeller“ (S. 81) sowie die gewaltigen Zerstörungen in seiner Heimatstadt. Die Familie floh ins nahe gelegene Umland, erlebte hier das Kriegsende und die amerikanische Besatzungszeit, hielt sich mit ‚Hamsterfahrten’ und anderen Formen des ‚Organisierens’ von Lebensmitteln über Wasser und richtete sich nach der Währungsreform im Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit eine kleinbürgerliche Existenz ein. Zwar habe Friedrich Linse versucht, mit Ausflügen in die Natur an seine Aktivitäten aus den Vorkriegsjahren anzuknüpfen, doch sei ihm ein „Ausbruch aus dem ‚Ghetto’ der Familie“ (S. 110) nicht mehr gelungen. Politisch habe er zwar weiterhin „innerlich mit den Anschauungen“ linker Gruppierungen sympathisiert, ohne sich jedoch handelnd in irgend einer Weise zu engagieren: „Er blieb ein unorganisierter Einzelgänger, so wie er sich sein ganzes Leben lang Organisationen – auch den linken – weitgehend entzogen hatte“ (S. 108).

In den abschließenden beiden Kapiteln wendet sich der Verfasser der privaten Arbeiterfotografie zu (S. 113-125). Hier werden dem Leser auch die persönlichen Beweggründe, die zu der Publikation geführt haben, mitgeteilt: Den Ausgangspunkt bildete ein von Friedrich Linse zeitlich brüchig angelegtes Familienfotoalbum, das für seine eigenen Jugendjahre nur leere Seiten aufweist und das nach 1943 abrupt abbricht – Lücken, die der Autor erst mit Fotografien aus dem Nachlass seines Vaters schließen konnte. Auf den Bildern entdeckte Ulrich Linse seinen Vater in einer „emotionalen Lebensfülle“ (S. 115), die ihm aus dem eigenen Erleben unbekannt war. Das „Drama der Vaterentbehrung“, das für die Generation der Kriegskinder zur grundlegenden Erfahrung gehört, vollzog sich für den Verfasser auf der Ebene einer emotionalen Abwesenheit.
Die in den 1920-er und 1930-er Jahren entstandenen Fotos von Friedrich Linse stehen abschließend nochmals im Mittelpunkt der Studie. Die privaten Ablichtungen fußen oftmals auf künstlerisch gestalteten Bildkompositionen, doch unterscheiden sie sich deutlich von jenen ‚professionellen’ Arbeiterfotografien, die vornehmlich die mannigfachen sozialen Missstände und Notlagen des Industrieproletariats dokumentieren und die seinerzeit gezielt als Mittel im Klassenkampf eingesetzt wurden. Friedrich Linses Fotografien bilden geradezu eine Gegenwelt zu den industriellen Wohn- und Arbeitsbedingungen ab: Neben den jugendlichen Körperkultbildern sind es vor allem romantisch-naturschwärmerische Landschaftsaufnahmen, in denen die lebensreformerische Orientierung des Arbeiter-Naturfreundes und Amateurfotografen zum Ausdruck kommt. Das Fotografieren, so Ulrich Linses Resümee, war für seinen jungen Vater ein „Selbstbildungs- und Selbstvergewisserungsvorgang“ (S. 118). Wie bei den meisten ‚Knipsern’ sind es vor allem Erinnerungsbilder an ‚gute’ Momente, an eine Welt ohne Zwänge. Der Wunsch zu fotografieren nahm in dem Moment ab, als sich die Lebensumstände schwieriger gestalteten.

Mit Ulrich Linses Publikation liegt weder eine breit angelegte Sozialgeschichte zur Ulmer Arbeiterschaft, noch eine ausführliche methodisch fundierte Biografie- oder seriell-ikonografische Fotoanalyse vor. Der Band überzeugt allerdings durch einen mehrperspektivischen Zugang und eine anschauliche Darstellung des Themas, die auch dem nichtwissenschaftlichen Leser eine kurzweilige und informative Lektüre bieten. Der besondere Gewinn liegt in der Verknüpfung von Kollektiv- und Individualgeschichte. Die lebensgeschichtliche Selbstthematisierung des Autors stellt sich für den Leser als glaubwürdige Suche nach den Gründen für die emotionale Distanz und die tendenzielle Sprachlosigkeit zwischen der ‚überflüssigen’ 1900-er-Generationen und der Generation der ‚Kriegskinder’ dar. Dieses Anliegen macht den Band zu einem sehr persönlichen, aber auch mutigen Buch.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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