B. Raschke: Der Wiederaufbau und die städtebauliche Erweiterung

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Titel
Der Wiederaufbau und die städtebauliche Erweiterung von Neubrandenburg in der Zeit zwischen 1945 und 1989.


Autor(en)
Raschke, Brigitte
Reihe
Collection FingerDruck
Erschienen
München 2005: Scaneg Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Wolfes, Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS)

Das Interesse an der Stadtgeschichte der DDR hat in den vergangenen Jahren weiter zugenommen, obwohl diese innerhalb der DDR-Geschichte insgesamt nach wie vor vergleichsweise wenig Beachtung findet. Viele Aspekte, vor allem die Planungs- und Architekturgeschichte oder die Inszenierung städtischer Feiern und Großveranstaltungen, sind mittlerweile intensiv untersucht worden. 1 Diese Arbeiten decken in der Regel jedoch nur einen begrenzten Zeitraum oder thematischen Ausschnitt der Geschichte der Städte ab. Langzeituntersuchungen von Kommunen sind noch immer die Ausnahme, vor allem wenn es sich um die kleineren oder mittelgroßen Städte der Provinz handelt, die nicht den „Glanz des Sozialismus“ widerspiegeln.2 Dabei lohnt sich der Blick auf die Regionen vor allem hinsichtlich der Durchsetzbarkeit zentralstaatlicher Leitbilder und der Möglichkeiten der Städte, ihre Interessen zu vertreten und Spielräume zu nutzen oder zu erweitern.

Die Historikerin Brigitte Raschke hat nun eine Studie zur baulichen Entwicklung Neubrandenburgs vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wende 1989 vorgelegt, die aus ihrer 2003 an der TU Berlin verteidigten Dissertation hervorgegangen ist. Der Stellenwert Neubrandenburgs, das 1989 knapp 90.000 Einwohner hatte, resultierte vor allem aus seiner Funktion als Bezirksstadt. Industrie von überregionaler Bedeutung, eine der Grundvoraussetzungen für eine langfristige und intensive staatliche Förderung, war hingegen kaum vorhanden.

Grundlage der Arbeit war die Auswertung umfangreicher Aktenbestände, während auf Interviews weitgehend verzichtet wurde. Breiten Raum räumt sie der Theorie ein, insbesondere der Frage nach dem Spezifischen der „Sozialistischen Stadt“. Das Buch ist untergliedert in eine Einleitung und fünf Hauptkapitel, die sich teilweise an der gängigen Periodisierung des Städtebaus, teilweise an den jeweiligen Bauprojekten vor Ort orientieren. Resümees fassen jeweils die wichtigsten Ergebnisse der Hauptkapitel sowie am Schluss die des gesamten Bandes zusammen.

Die Altstadt Neubrandenburgs war gegen Ende des Krieges durch ein von der Roten Armee gelegtes Feuer weitgehend vernichtet worden. Nach 1945 herrschte wie in vielen Städten bis zum Beginn der 1950er-Jahre eine regelrechte „Planungseuphorie“ (S. 66). Verwirklicht wurde von den Entwürfen aufgrund der Materialknappheit und fehlender Zukunftskonzepte jedoch nichts. Zugleich verlor die Stadt mit ihren kommunalen Selbstverwaltungsrechten auch die Planungshoheit.

Durch die Ernennung zur „Aufbaustadt“ 1950 und zur „Bezirksstadt“ 1952 wurde Neubrandenburg in der Hierarchie der DDR-Städte aufgewertet, der tatsächliche Umzug der Bezirksverwaltung aus Neustrelitz erfolgte jedoch erst 1969/70. Dennoch beflügelte die neue Funktion die Planungen. Hilfreich war zudem das persönliche Engagement des Vorsitzenden des Rates des Bezirks, Hans Jendretzky, das typisch war für das Engagement einzelner Persönlichkeiten der kommunalen und bezirklichen Ebene (S. 174). Gute Kontakte nach Berlin waren für eine Förderung unerlässlich. Der gestiegenen Bedeutung entsprechend befasste sich der Beirat für Architektur, der dem Ministerrat unterstand, ausführlich mit Neubrandenburg. Doch trotz des Einsatzes zahlreicher, zum Teil hochkarätiger Architekten/innen und Entwurfbüros gestalteten sich die Aufbauplanungen, die einerseits an das historische Erbe anknüpfen, andererseits aber auch die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln sollten, als außerordentlich schwierig.

Der Zentrale Bereich wurde erst nach dem Paradigmenwechsel in den 1960er-Jahren in modernen Formen mit einem Kulturzentrum als Stadtdominante bebaut (S. 279). Mit dem Bau peripherer Wohngebiete seit den späten 1950er-Jahren konnte die Wohnungsnot etwas gelindert werden. Nach dem Umzug der Bezirksverwaltung 1969/70 nahm die Dynamik, vor allem in Wohnungsbau, zu. Visionen einer großstädtischen Entwicklung wurden verbreitet, die jedoch jeder wirtschaftlichen Grundlage entbehrten. Tatsächlich blieb der Stadtausbau insgesamt stark defizitär und die Entwicklung der letzten Jahre war von Stagnation und Schrumpfung geprägt (S. 308). Die Ursachen dafür lagen in dem vergleichsweise unattraktiven Standort der Stadt und der mangelnden Bereitschaft, dort wichtige Industrie anzusiedeln. Andererseits wurde die Stadtentwicklung Neubrandenburgs aber nicht, wie andernorts, von mächtigen Kombinaten bestimmt. Der Verfall der Altbausubstanz nahm bedrohliche Formen an, bevor deren Bedeutung erkannt und zu einer partiellen Sanierung übergegangen wurde. Bei der Diskussion um den Stellenwert der historischen Bebauung wurden die Bauten der 1950er-Jahre den Altbauten praktisch gleichgestellt (S. 304). Auch in Neubrandenburg begünstigte das Auseinanderdriften von Alt- und Neubauvierteln die Tendenz zur sozialen Segregation.

Die Entwicklungsgeschichte Neubrandenburgs folgt städtebaulich den generellen Leitlinien der DDR. Eine Besonderheit war die schwache Stellung der reinen Verwaltungsstadt in der Hierarchie der Bezirksstädte. Daher wurden hier außer dem Kulturhaus auch kaum Sonderbaumaßnahmen realisiert. Für die 1950er-Jahre hat Raschke die Bedeutung der Nutzung von Handlungsspielräumen und Netzwerken, zum Teil unter Umgehung der formalen Hierarchiewege und des „Vortäuschens falscher Tatsachen“ zur Erreichung eigensinniger Ziele herausgearbeitet (S. 174). Auch betont sie die Leistungen der Architekten/innen, durch deren Initiative die Qualität der Bauausführungen mitunter das allgemeine Mittelmaß übertraf. Seit den 1960er-Jahren konnte Raschke in den Quellen keine individuellen Handlungsmuster mehr feststellen, sondern nur noch Systemkonformität (S. 349). Hier hätten Gespräche mit Fachleuten möglicherweise ergänzende Ergebnisse zu den wenig aussagekräftigen Akten gebracht.

Eher beiläufig wird das Engagement der Bewohner für den Wiederaufbau, für den Erhalt ihres Rathauses und gegen Ende der DDR für eine bürgernahe und ökologisch sinnvolle Stadtentwicklungspolitik erwähnt. Mit dem fortschreitenden Aufbau der Stadt war auch in Neubrandenburg ein gestiegenes Selbstbewusstsein festzustellen, das in den utopischen Visionen von der „privilegierten“ sozialistischen Großstadt zum Ausdruck kam (S. 342).

Die Frage nach dem Wesen der sozialistischen Stadt nimmt in der Untersuchung einen breiten Raum ein. Raschke erwähnt die politische Instrumentalisierung, die Planungsprozesse, die spezifischen Bedingungen des Stadtausbaus, die häufig unvollständige beziehungsweise reduzierte Ausführung der ursprünglichen Entwürfe und den Mangel an Material und Arbeitskräften. Die „schöne, kompakte Stadt“ der 1950er-Jahre stellt Raschke – im Gegensatz zu jenen, die mehr auf den stalinistischen Einfluss verweisen – im Sinne Camillo Sittes stärker in die Tradition des künstlerischen Städtebaus des 19. Jahrhunderts (S. 78). Sozialistischer Städtebau beginnt für sie im Prinzip erst mit der Industrialisierung des Bauwesens und dem Paradigmenwechsel Ende der 1950er-Jahre, der sich vor allem in der Ablehnung der historischen Stadt äußerte. Doch diese Negation bestand auch im Westen. In Bezug auf die Gestaltung, am Beispiel des Zentralen Platzes in Neubrandenburg, kann auch Raschke keine signifikanten Unterschiede zur westlichen Architektur erkennen. Letztlich bleibt die sozialistische Stadt für sie ein „synthetisches Gebilde“, das sich mehr über seinen wissenschaftlich-theoretischen Anspruch und seine ideologisch fundierte Ablehnung des kapitalistischen Städtebaus definierte (S. 348, 349).

Raschkes Leistung besteht in der fast lückenlosen Rekonstruktion der Debatten, der Planungs- und Entscheidungsprozesse sowie der zumeist modifizierten Bauausführung – eingebettet jeweils in die politischen Gesamtzusammenhänge. Die Darstellung gewährt Einblick in die Vorstellungen, Konzeptionen und Gestaltungen von Stadt unter den ideologischen Prämissen des Sozialismus und den Bedingungen der zentralen Planung und der Mangelwirtschaft. Darüber hinaus hätten die Quellen durchaus auch weitergehende Erkenntnisse, etwa über die Lebensbedingungen der Bewohner, zur Akzeptanz der Baumaßnahmen und der Identifikation mit der neu entstandenen Stadt liefern können. Doch hat sich die Autorin aus arbeitsökonomischen Gründen – leider – bewusst auf die reine Planungsgeschichte konzentriert. Ein Stadtplan sowie Übersichten über die Entwicklung der Einwohnerzahlen und der Bebauung hätten die Orientierung für die Leser/innen erleichtert. Das Lesen des Buches wird zudem durch das kleine Schriftbild und die mitunter mäßige Qualität der Abbildungen ein wenig beeinträchtigt. Dies soll aber den Wert des Buches insgesamt nicht in Frage stellen. Die Arbeit Brigitte Raschkes ist ohne Zweifel eine wertvolle Bereicherung der Geschichte des Städtebaus in Deutschland.

1 Durth, Werner; Düwel, Jörn; Gutschow; Niels, Architektur und Städtebau in der DDR, 2 Bde., Frankfurt am Main 1998; Saldern, Adelheid von (Hg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2003; vgl. die Rezension von Thomas Wolfes in: H-Soz-u-Kult, 29.04.2004, <hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-071>; Wolfes, Thomas (Hg.), Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935-1975), Stuttgart 2005; vgl. die Rezension von Philipp Springer in: H-Soz-u-Kult, 30.11.2005, <hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-132> sowie die Rezension beider Bände von Detlef Schmiechen-Ackermann in: IMS 1 (2005), S.87-95.
2 Vgl. dazu jetzt auch:Springer, Philipp, Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin 2006.

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