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Titel
Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Windus, Astrid
Erschienen
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Bock, SFB 496: Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Gruppe der Afroargentinier, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts aus der argentinischen Nationalgeschichte und der argentinischen Erinnerungskultur konsequent ausgeblendet. So konsequent, dass sie auch heutzutage noch damit rechnen muss, nicht als Angehörige der argentinischen Nation anerkannt zu werden, wie Astrid Windus in der Einleitung ihres Buches unter Verweisen auf jüngere Meldungen der argentinischen Tageszeitung "El Clarín" aufzeigt. Die herkömmlichen Erklärungen für die Unsichtbarkeit der Afroargentinier bewegen sich dabei vor allem im Bereich eines vermeintlichen demographischen Rückgangs dieser Bevölkerungsgruppe insbesondere im Zusammenhang mit dem Einsatz schwarzer Soldaten in den Kriegen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Demgegenüber geht Astrid Windus in ihrer Arbeit davon aus, dass es sich bei derartigen Wahrnehmungen zu einem großen Teil um Resultate einer Konstruktion Argentiniens als primär europäisch geprägter, kulturell homogener Nation handelt, die mit dem Herausschreiben nicht-weißer Gruppen aus der argentinischen Erinnerungskultur einherging. Der Mythos des Todes auf dem Schlachtfeld gehört somit neben der Reduktion der Wahrnehmung von Schwarzen als Sklaven während der Kolonialzeit zu den Elementen, die den Anteil der Afroargentinier an der Konstruktion Argentiniens auf die Zeit vor der Konstituierung des Nationalstaats beschränkt.

Genau dieses Spannungsfeld zwischen hegemonialen Konstruktionsweisen von Nation sowie den damit verbundenen Alterisierungsstrategien und den eigenen afroargentinischen Identitätsentwürfen innerhalb der argentinischen Nation bildet die zentrale Fragestellung dieser Publikation. Dabei bedient die Autorin sich, ausgehend vor allem von Stuart Halls Ansatz von nationaler Identität als einem System kultureller Repräsentationen, eines diskurstheoretischen Zugriffs. Identität wird hierbei als stetiger Aushandlungsprozess zwischen Selbstpositionierungen und Fremdzuschreibungen betrachtet, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, innerhalb der Untersuchung zur afroargentinischen Identität nicht nur die Repräsentationen von Seiten der afroargentinischen Gemeinschaft, sondern auch die hegemonialen Diskurse von „Argentinität“ sowie die hegemoniale Sichtweise auf die Afroargentinier zu untersuchen.

Im Mittelpunkt des ersten Teils der Arbeit steht die Analyse hegemonialer Konstruktionsweisen der nationalen Identität. Die Entwicklung der herrschenden Zugehörigkeitsmuster im Laufe des 19. Jahrhunderts wird zunächst über die Untersuchung der Bedeutungen von zentralen Begrifflichkeiten wie „patria“, „nación“, „pueblo“, „soberanía“, der Konstruktion eines amerikanischen Kollektivs sowie schließlich von „Argentina“ als Identität stiftenden Bezugspunkt nachgegangen. Dabei postuliert Astrid Windus eine zunehmende Homogenisierung, die von einer graduellen Verschiebung von primär lokalen Bezugspunkten von Identität hin zu einer abstrakteren Vorstellung von Nation als einer politischen Gemeinschaft während der ersten Hälfte und schließlich der Vorstellung einer auch kulturell begründeten nationalen Bezugsgröße in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Die Analyse der Konstruktionsweise dieser als kulturell homogen gedachten Nation erfolgt anhand der innerhalb dieses Diskurses zentralen Felder „Zivilisation und Barbarei“, „Fortschritt“ sowie „Rasse“. Während schon innerhalb der Wahrnehmung der Nation als politischer Gemeinschaft gesellschaftliche Gruppen wie Frauen und Unterschichten ausgeschlossen wurden, zeichneten sich die Konstruktionsweisen der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur durch die Herausstellung von nationalen Gemeinsamkeiten, sondern vor allem auch durch konsequente Alterisierungsstrategien aus. So wurden beispielsweise Indigene als dem Fortschritt entgegen stehend konzeptualisiert und in Diskurs und Praxis auf einen marginalen Status innerhalb der Nation reduziert. Von besonderer Bedeutung für die weitere Untersuchung ist das dritte diskursive Feld mit dem ihm inhärenten Gedanken einer Hierarchie menschlicher „Rassen“, die zu einer diskursiven Exklusion der Afroargentinier und der Erzeugung bestimmter, wiederum mit den Vorstellungen von Zivilisation, Barbarei und Fortschritt verknüpften, Stereotypen führte.

Den Repräsentationen afroargentinischer Identität nähert sich die Verfasserin im besonders gelungenen zweiten Teil der Arbeit an. Ausgehend von dem schon oben erwähnten Konzept von Identität als Wechselspiel zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen stellt Astrid Windus dabei zunächst jeweils die innerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft präsenten afroargentinischen Stereotypen dar und analysiert den Kontext ihrer Entstehung. In einem weiteren Schritt erfolgt die Dekonstruktion dieser Stereotypen durch die Gegenüberstellung der entsprechenden afroargentinischen Positionierungen bzw. Gegendiskurse. Insgesamt werden in diesem Kapitel diskursiv erzeugte Figuren wie der „gute“ schwarze Soldat, der „negro federal“ bzw. die „negra rosina“, zwei vermutlich seitens der liberalen Historiografie konstruierte Stereotypen der Afroargentinier als bedingungslose Unterstützer des Rosas-Regimes, sowie stereotype Vorstellungen afroargentinischer Weiblichkeit (sexualisierte Mulattinnen, schwarze Hexen) untersucht. Ein besonders interessanter Befund, der die Bedeutung der Analysekategorie „Gender“ hervorhebt, besteht hier in den hegemonialen Konstruktionsweisen einer Feminisierung schwarzer Männer bei einer gleichzeitig vermännlichten Konzeptualisierung afroargentinischer Frauen. Gegen diese Konstruktionen wandte sich der afroargentinische Gegendiskurs unter anderem durch Umdeutungen der diskursiven Elemente sowie durch Positionierungen in Anlehnung an die bürgerliche Geschlechterordnung der Mehrheitsgesellschaft. Dass sich Diskursanalyse nicht auf rein textuell hervorgebrachte Phänomene beschränken muss, zeigt Astrid Windus in ihrer Behandlung afroargentinischer Selbstentwürfe, in der sich die Autorin ausführlich Aspekten der afroargentinischen kollektiven kulturellen Praktiken widmet, die ihren Ausdruck in Organisationsformen wie den "cofradías" (Bruderschaften), den "sociedades africanas" (afrikanischen Gesellschaften), den karnevalistischen "comparsas" oder den "candombes" fanden. Dabei betont die Autorin einerseits deren transethnischen Charakter sowie andererseits die Sichtweise dieser kollektiven Praktiken als kulturelle Aneignungen im Gegensatz zu einer in der Historiografie immer noch verbreiteten Perspektive einer Perpetuierung mehr oder weniger „authentischer“ afrikanischer Elemente. Zu dem letzten Feld der afroargentinischen Selbstentwürfe zählt auch das Idealbild des schwarzen Bürgers, dessen Aufgabe in der Erfüllung eines zivilisatorischen Auftrags gegenüber der afroargentinischen Gemeinschaft gesehen wurde. Dieser Typus stellte die vielleicht sichtbarste Bemühung um Partizipation innerhalb der Zivilgesellschaft dar. Allerdings ist hier festzustellen, dass auch diese Einforderungen einer aktiven Staatsbürgerschaft trotz weitgehender Übernahme hegemonialer Diskurselemente an den exkludierenden gesellschaftlichen Bedingungen scheiterten. Insgesamt kommt in diesem Kapitel die Reichhaltigkeit des hier herangezogenen Quellenmaterials zum Tragen, welches in erster Linie afroargentinische Zeitungen der zweiten Jahrhunderthälfte umfasst. So werden anhand der verschiedenen Positionen nicht nur übereinstimmende Tendenzen des afroargentinischen Diskurses, sondern auch die Heterogenität der entsprechenden Entwürfe deutlich.

Ein abschließender dritter Teil führt die Erträge der ersten beiden Kapitel noch einmal unter den beiden Gesichtspunkten des kontinuierlichen Ausschlusses der Afroargentinier durch die gesellschaftlich hegemonialen Alterisierungssstrategien einerseits sowie der Unsicherheit und Heterogenität der schwarzen Selbstentwürfe andererseits zusammen. Hierbei wird besonders im ersten Teil nochmals die Chronologie des Ausschlusses aus den Identitätskonstruktionen der weißen Mehrheitsgesellschaft klargestellt und betont, dass die afroargentinischen Selbstpositionierungen nicht in der Lage waren, die Macht dieser hegemonialen Diskurse zu durchbrechen. Gleichzeitig stellt Astrid Windus aber auch die fehlende Homogenität innerhalb eben dieser Selbstentwürfe heraus, die zudem oftmals stark von der Übernahme hegemonialer Konzepte geprägt waren.

In einem kurzen Ausblick stellt die Autorin den afroargentinischen Fall in einen weiteren Zusammenhang. Das von Paul Gilroy wesentlich geprägte Konzept eines „Black Atlantic“ als System gegenseitiger kultureller Durchdringungen bildet hierbei den Bezugsrahmen. Astrid Windus stellt sich damit den gängigen Sichtweisen eines argentinischen Sonderfalls entgegen. Die schon früher im Text immer wieder herangezogenen Vergleiche mit ähnlichen Phänomenen vor allem aus Brasilien und den USA werden so systematisch in ein transnational konzipiertes Bild einer gesamtafroamerikanischen Kulturgeschichte eingefügt und diese als integraler Bestandteil der Moderne postuliert.

Astrid Windus hat ein äußerst vielschichtiges Buch geschrieben, welches durch intensive Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden theoretischen Konzepten wie auch durch einen flüssigen Schreibstil überzeugt. Nicht umsonst handelt es sich hierbei um eine zweifach prämierte Arbeit, die 2003 den Walter-Markov-Preis der Karl-Lamprecht-Gesellschaft/ Institut für Kultur- und Universalgeschichte e.V. (Leipzig) und 2006 den zweiten Preis der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) gewann. Da es ein erklärtes Ziel der Autorin ist, den Afroargentiniern eine stärkere Präsenz im kollektiven Bewusstsein zu geben und ihnen so einen Platz in der argentinischen Erinnerungskultur einzuräumen, bleibt es nur zu hoffen, dass diese durch eine Übersetzung ins Spanische bald auch dem argentinischen Publikum zugänglich gemacht wird.

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