K. Rudolph: Hilfe beim Sprung ins Nichts

Titel
Hilfe beim Sprung ins Nichts. Franz Kaufmann und die Rettung von Juden und nichtarischen Christen


Autor(en)
Rudolph, Katrin
Erschienen
Berlin 2005: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
S. 248
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingo Loose, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit der These, die christlichen Kirchen hätten nichts gegen den Nationalsozialismus bzw. die Judenverfolgung unternommen, konnte man bis in die jüngste Vergangenheit einer hohen Aufmerksamkeit und breiten Leserschaft sicher sein.1 Dies sagt zugleich nicht wenig aus über das moderne Verständnis von den christlichen Kirchen in erster Linie als Institutionen, nicht aber als Gemeinschaft gläubiger Menschen. Spätestens seit Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ (1963) konzentrierte sich diese Kritik vornehmlich auf die römisch-katholische Kirche, als hätte es im Vatikan gleichsam nur eines Knopfdruckes bedurft, um dem Nationalsozialismus eine Widerstandsphalanx entgegenzustellen. Trotz der regimetreuen „Deutschen Christen“ waren es auf evangelischer Seite v.a. die Barmer-Erklärung von 1934 und unmittelbar nach Kriegsende das Stuttgarter Schuldgeständnis, die die Protestanten lange Zeit vor vergleichbaren Angriffen bewahrt haben. Umso erstaunlicher mutet es an, wenn aus einer Perspektive der Defensive, in der die Kirchen sich befanden, namhafte Beispiele christlichen Handelns und Widerstandes gegen den Nationalsozialismus lange Zeit in den Archiven schlummerten. Auch hier ist erst in den letzten Jahren wieder ein verstärktes Interesse erkennbar geworden. Mit dieser Entwicklung korrespondierten auch die Anstrengungen am Zentrum für Antisemitismusforschung, die zahlreichen Judenretter stärker in den Fokus der Forschung zu bringen.2 Eine Leerstelle in der Widerstandsforschung ist allerdings seit jeher die Behandlung so genannter „nichtarischer“ Christen gewesen. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle blieb ihr Schicksal im Rahmen der Holocaustforschung unbeachtet.3 Dasselbe gilt auch für die Perspektive der Kirchen, die sich nicht selten ihrer vormals jüdischen Gläubigen nur ungern erinnern wollten.4 Von der antisemitischen Gesetzgebung der Nationalsozialisten waren ca. 400.000 Personen christlicher Konfession betroffen. Schon diese Zahl zeigt, wie groß die damit verbundene Forschungslücke ist.

In diesem Kontext zu verorten ist auch die Dissertation von Katrin Rudolph, die die Hilfsorganisation um Franz Kaufmann in Berlin rekonstruiert hat. Getragen wird die Untersuchung wesentlich von den Unterlagen des Zentrums für Antisemitismusforschung, von Dokumenten aus dem Privatarchiv Hartmut Ludwigs sowie von den überlieferten Prozessakten, nachdem Kaufmann und eine Reihe seiner Helfer im August 1943 von der Gestapo verhaftet worden waren. Franz Kaufmann (Jg. 1886), getauft und evangelisch erzogen, studierte Jura und arbeitete bis 1914 an Gerichten in Kiel und Berlin. Im Ersten Weltkrieg hoch dekoriert, gelangte Kaufmann über verschiedene berufliche Stationen 1928 zum Reichssparkommissar, bis er im Dezember 1935 wegen seiner ‚rassischen Herkunft' aus dem Dienst ausscheiden musste. In der Folge intensivierte er seine Tätigkeit im Rahmen der Bekennenden Kirche (auch wenn er ihr formal erst 1943 beitrat) und kümmerte sich insbesondere um die Belange der „nichtarischen Christen“. Hieraus entwickelte sich mit Einsetzen der Deportationen 1941 eine illegale Tätigkeit, mit der Kaufmann und seine Helfer sich für untergetauchte Menschen einsetzten, v.a. durch die Beschaffung gefälschter Papiere und Lebensmittelkarten. Seiner Gruppe zuzuordnen sind, um nur die prominentesten Personen zu nennen, Helene Jacobs, Cioma Schönhaus und Gertrud Staewen.

Für die Rekonstruktion dieses „Retternetzes“ skizziert Rudolph in einem recht ausführlichen ersten Teil die Haltung der Berliner Bekennenden Kirche gegenüber den „Christen jüdischer Herkunft“. Der zweite Teil befasst sich mit der Entstehung und Praxis illegaler Tätigkeit anhand von Einzelbiografien, durch die insgesamt vier „Helferbündnisse“ in Kaufmanns Umfeld fassbar werden. Hinzu kommt ein wegen der desolaten Aktenlage gleichwohl nur unvollständiges Bild der Hilfsbedürftigen (etwas unglücklich als „Klientel der Hilfe“ bezeichnet), ferner eine Reihe von Kontaktflächen zum übrigen Berliner Widerstand bzw. zu anderen Helfern. Gleichwohl die Bekennende Kirche kein Zusammenschluss von Philosemiten war, war es doch kein Zufall, dass sie und insbesondere die Gemeinde in Dahlem das Umfeld der Hilfstätigkeit für „nichtarische Christen“ bildeten – auch für Franz Kaufmann (S. 40ff.). Inwieweit jedoch die Phase legaler Hilfsarbeit für „nichtarische Christen“ durch kirchlich hauptamtlich Tätige wie dem Büro von Pfarrer Grüber und anderen für das Verständnis Franz Kaufmanns bedeutsam war, bleibt unklar. Sicher mag es zum Zeitpunkt des „Entschlusses zur Illegalität“ informelle Strukturen gegeben haben, fest steht aber auch, dass Kaufmanns Tätigkeit sich nicht als eine konzertierte Aktion der Bekennenden Kirche in Berlin begreifen lässt.

Rudolphs berechtigte Skepsis in Bezug auf den Organisationsgrad solcher Strukturen setzt jedoch schon dort an, wo es um die Frage geht, ob überhaupt von einer kohärenten Gruppe um Kaufmann gesprochen werden könne. Vielmehr verwahrt sie sich gegen den Begriff des „Netzwerkes“ und begreift Personen wie Kaufmann, Helene Jacobs und andere als „Kristallisationspunkte“ (S. 55). Auch wenn man sich hierzu über eine vorsichtige Begriffswahl hinaus einige weiterführende theoretische Überlegungen gewünscht hätte, spricht vieles dafür, dass nur die Einzelpersonen, nicht aber ganze Gemeinden den Bezugspunkt für Hilfstätigkeit im engeren Sinne bilden konnten. Allenthalben deutlich wird nämlich die Ambivalenz in den evangelischen Gemeinden zwischen einer Seelsorge in christlichem Sinne und dem tatsächlichen Versuch einer (Lebens-)Rettung „nichtarischer Christen“. Entsprechend vielfältig war die Hilfe und erstreckte sich von Dogmatikkursen, in denen die „nichtarischen Christen“ nur allzuoft unter sich blieben, über die Laienordination mit dem Ziel, nach Beginn der Deportationen auch in den Lagern bzw. Ghettos im Osten Seelsorge betreiben zu können, bis hin zur Hilfe beim Gang in die Illegalität, für den Berlin noch die besten Voraussetzungen bot. Dabei war der Kenntnisstand in der Dahlemer Gemeinden über die Deportationen „nach dem Osten“ noch vergleichsweise gut (S. 43ff.), auch wenn genauere Informationen über den Judenmord erst mit Kurt Gerstein in die Gemeinde gelangten. „Als Verweigerung der Deportationsaufforderung blieben schließlich“, wie Rudolph prägnant formuliert, „nur die Möglichkeiten Untergrund oder Suizid“ (S. 44).

Der Verzicht auf so etwas wie eine Netzwerktheorie hat jedoch auch Konsequenzen für die Struktur der Untersuchung. Die Verbindungen der Personen untereinander rekonstruiert Rudolph insgesamt zwar ebenso interessant wie angemessen. Das stark biografische Vorgehen mag man dabei jedoch streckenweise für ermüdend halten. Rudolph lässt sich ihre eigene Struktur über Gebühr von der Spezifik der Aktenüberlieferung aufzwingen, und dies mag auch der Grund für die durchgehende Unentschlossenheit sein, sich zwischen Präsens und Präteritum als Erzähltempus zu entscheiden. Tatsächlich hat man es nicht mit einem Netzwerk in dem Sinne zu tun, dass es konzertierte Aktionen durchgeführt hätte, um die Effizienz der Rettung möglichst vieler Personen zu steigern. Vielmehr scheint der Begriff Netzwerk gerechtfertigt zu sein, um die Interaktionen individuell handelnder Menschen mit Kaufmann zu beschreiben und damit zu einer Handlungsdisposition Kaufmanns zu gelangen. Womöglich wäre auch ein Zentrum-Peripherie-Modell dazu geeignet gewesen, die unterschiedliche Nähe der Helfer zu Kaufmann prägnanter zu beschreiben. Was dagegen hervorzuheben ist, ist, dass Rudolph vorsichtig urteilt, was die inneren Motive der Akteure anbetrifft. Insbesondere die Quellenlage (zzgl. des biografischen Ansatzes) gab einigen wenigen Überlebenden ein Interpretationsmonopol an die Hand, das aus Gründen der Selbststilisierung die Bedeutung Kaufmanns und seiner Organisation mitunter bis zur Zweitrangigkeit reduzierte (S. 71).

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Verhaftung Kaufmanns am 19. August 1943 sowie mit der Zerschlagung seines Helferkreises durch die Gestapo (S. 149ff.). Die Festnahme von insgesamt 42 Personen verdeutlicht, welchen Umfang Kaufmanns Tätigkeit und die assoziierten „Helferbündnisse“ in der Zwischenzeit angenommen hatten. Denunziationen und ein bei Kaufmann gefundenes Notizbuch mit Namen untergetauchter und von ihm betreuter Personen ließen die Untersuchungen immer weitere Kreise ziehen. Die Gefassten wurden nur zum Teil vor Gericht gestellt, die „Nichtarier“ überwiegend kurzerhand deportiert. Kaufmann selbst wurde am 17. Februar 1944 in Sachsenhausen erschossen. In einer Bilanz (S. 163ff.) versucht Rudolph abschließend der Frage nachzugehen, wer aus welchem Grund zum Helfer wurde. Ihre These, dass die Heterogenität des Kreises um Kaufmann sich einer Systematisierung bzw. Typologisierung entgegenstellte, mag dafür sprechen, warum Rudolph dieses Kapitel an den Schluss ihrer Untersuchung stellt. Gleichwohl hätte man in der vorangegangenen Darstellung schon einer besseren Kohärenz wegen einen stärkeren Bezug auf die in der Synthese skizzierten typologisierenden, durchaus erhellenden Überlegungen erwartet.

Bezeichnenderweise korrespondierten die sozialen Verhältnisse von Helfern und Verfolgten recht weitgehend miteinander (S. 117). Das hierin liegende Interpretationspotenzial hätte wohl noch intensiver genutzt werden können. Gleiches gilt für die Feststellung, dass die konfessionelle Teilung, wie sie in der Phase der legalen Betreuung der „Nichtarier“ üblich war (Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat vs. Büro Pfarrer Grüber), „in der Untergrundarbeit beibehalten wurde“ (S. 139). Derlei markante Kontinuitäten ändern indes wenig am Befund, dass der Personenkreis um Kaufmann äußerst heterogen war. Auch die Motivlage war uneinheitlich (S. 167). Für die unmittelbar Verfolgten konnte der Profit im besten Falle das Überleben bedeuten. Der Nutzen konnte aber auch ein überwiegend materieller sein, auch wenn er in den meisten Fällen in dem Erhalt der persönlichen Integrität bestand. Alles in allem jedoch bleibt auch Rudolph eine überzeugende Antwort auf die Frage schuldig, warum jemand zum Helfer wurde. Was den Helfern im Einzelnen ihr Handeln diktierte, lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen.

Es entsteht somit ein Bild, bei dem Rudolph die Apostrophierungen der Kaufmann-Gruppe in der Forschung nach 1945 als „jüdischen Widerstand“, als „Blutzeugen der Bekennenden Kirche“ bzw. „Märtyrer der evangelischen Christenheit“ mit Recht nur als Auskunft über die Perspektive derjenigen kennzeichnet, „die solche Interpretationen anbieten“ (S. 169). Für das Verständnis dessen, was den Einzelnen dazu bewog, in der einen oder anderen Weise und unter hohem Risiko zu helfen bzw. Hilfe in Anspruch zu nehmen, sind solche Begriffe und retrospektiven Projektionen ohnehin unergiebig, wie Rudolph überzeugend zeigen kann (S. 169ff.). Überhaupt wurde illegale (Hilfs-)Tätigkeit lange Zeit kaum als Widerstand rezipiert, sondern musste mit Termini wie „Märtyrer“ oder „Blutzeugen“ etc. erst deklamatorisch gerechtfertigt werden. Darüber hinaus tritt Rudolph aber auch einer undifferenzierten Subsumierung der „nichtarischen Christen“ als verfolgte Juden entgegen, da dies einerseits den Nationalsozialisten die alleinige Definitionsmacht überlässt und andererseits auch dem Selbstverständnis Kaufmanns und seines Kreises zum Teil widersprochen hätte (S. 172ff.). Ein Kapitel über den Werdegang der überlebenden Mitglieder des Kreises um Kaufmann sowie ein Anhang, der die Gesamtzahl der im Zuge des Verfahrens gegen Kaufmann verhafteten Personen mit kurzem Lebenslauf verzeichnet, runden die Arbeit ab. Wer sich mit dem Berliner Widerstand und der Hilfe für Verfolgte, aber auch mit dem Schicksal „nichtarischer Christen“ befasst, wird fortan auf Katrin Rudolphs lesenswerte Untersuchung alles in allem nicht verzichten können. Und wenn man weiß, dass sich das Personenregister konsequent um zwei Seiten verrechnet, dann ist es auch verwendbar.

Anmerkungen:
1 Das umstrittene und von der Fachwelt überwiegend negativ aufgenommene Buch von Daniel Jonah Goldhagen über die katholische Kirche und den Holocaust illustriert diese Konjunktur eindrücklich: Goldhagen, Daniel J., Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Berlin 2002.
2 Vgl. die von Wolfgang Benz und Juliane Wetzel herausgegebene Reihe „Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit. Rettungsversuche für Juden vor der Verfolgung und Vernichtung unter nationalsozialistischer Herrschaft“, Berlin 1996; Benz, Wolfgang (Hg.), Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003.
3 Büttner, Ursula, Von der Kirche verlassen. Die deutschen Protestanten und die Verfolgung der Juden und Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, in: Dies., Greschat, Martin (Hgg.), Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, Göttingen 1998, S. 15-69.
4 Vgl. für die römisch-katholische Kirche im „Dritten Reich“ jetzt grundlegend: Leichsenring, Jana, „Und nehmt Euer Kreuz auf Euch!“. Die Katholische Kirche und ihre „Juden“. Das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“ 1938-1945, Diss. Technische Universität Berlin 2005.

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