S. Grillmeyer u.a. (Hgg.): Ortstermin

Titel
Ortstermin. Politisches Lernen an historischen Orten


Herausgeber
Grillmeyer, Siegfried; Wirtz, Peter
Erschienen
Schwalbach im Taunus 2006: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Haug, Weiden

Über den Lernort wird gern dann gesprochen, wenn auf die besonderen Lernmöglichkeiten an eigentlich unpädagogischen Orten hingewiesen werden soll. Seine ungebrochene Popularität liegt vermutlich nicht nur darin, dass Museen und historische Stätten bei den Bildungsadressaten von besonderer Überzeugungskraft zu sein scheinen 1, sondern auch in seiner Unbestimmtheit begründet. Damit vermag auch die vorliegende Publikation nicht zu brechen, bleibt doch unklar, ob es eigentlich einen Nicht-Lernort gibt. Wenn jede Möglichkeit des organisierten Lernens einen Ort zu einem Lernort machen kann (S. 12), ergibt sich die generelle Frage nach dem Sinn der Kategorie. Möglicherweise stehen sich aber Lernorte und Bücher über solche auch lediglich im Weg, weil vom Lernort eben genau mehr und anderes erwartet wird als eine Beschreibung leisten kann, nämlich sinnlich erfahrbare Aura, Authentizität oder Beglaubigung „historischer Tatsachen“.

Mehrere Autoren/innen versuchen „Lernorte“ von „Erinnerungsorten“, als materielle und immaterielle Bezugspunkte konstruierter Kollektividentitäten, mit der Definition „real-räumlich“ abzugrenzen. Zum einen lässt diese Breite der Kategorisierung, die sowohl Museen und Denkmäler, Städte und Landschaften integriert, die pädagogischen Erschließungsideen letztendlich kaum miteinander ins Verhältnis setzen. Zum anderen droht durch die Unterscheidung aus dem Blick zu geraten, dass der Kern dessen, was Lernorte für die historisch-politische Bildung interessant macht, gerade an ihre Bedeutung als „Erinnerungsorte“ geknüpft ist. Das Konzept „Ortstermine“ beschreibt die Einbeziehung von Orten in den Prozess historisch-politischer Bildung, der als ganzheitlicher verstanden wird und sich in den meisten Beiträgen eher an einem außerschulischen Bildungsverständnis orientiert. Die Herausgeber regen jedoch dazu an, das Konzept auch im schulischen Rahmen zu verwirklichen. „Orstermine“ werden Exkursionen genannt, die durch ein „aufsuchendes Lernen“ (S. 17) die Erschließung so genannter authentischer Orte ermöglichen und dadurch nicht nur historisches Wissen zu Tage fördern sollen, sondern „multiple Fähigkeiten“ (ebd.) wie u.a. Teamarbeit und Kommunikationsfähigkeit. Die sinnliche Erfahrung vor Ort soll den „lebensweltlichen Bezug“ (ebd.) zum Lerngegenstand sichern und so die Lernchancen erhöhen, wobei ausdrücklich nicht von einer Selbsterklärlichkeit der Orte ausgegangen wird.

Der erste Teil der zweibändig geplanten „Ortstermine“ bietet vor allem Überlegungen und Annahmen, was an den verschiedenen beschriebenen Orten lern- und erfahrbar sei. Dem Untertitel des Buches, der Aufschluss über didaktisch-methodische Erschließungsmöglichkeiten für die Orte suggeriert, werden dabei nur wenige der elf Beiträge gerecht. Die dreiteilige Gliederung des Bandes ist aus dem Inhaltsverzeichnis nicht ersichtlich, sondern muss in der Einführung nachgelesen werden. Dieser schließen sich zwei allgemeinere Beiträge zu Möglichkeiten sowie Problemen konkreter Orte für die Bildungsarbeit und zwei weitere Artikel zu institutionalisierten Orten historischen-politischen Lernens an. In einem dritten Teil, der im zweiten Band fortgesetzt werden soll, werden exemplarisch Orte und Landschaften als Bildungsanlässe und dazu entwickelte pädagogische Konzepte und Erfahrungen vorgestellt.

In der Einleitung steckt Siegfried Grillmeyer den Rahmen der Publikationsbeiträge ab und versucht dabei den „Lernort“ zu definieren sowie die damit verbundenen didaktisch-methodischen Überlegungen des Konzepts „Ortstermine“ darzustellen. Dazu wiederholt er die gängigen Postulate der besonderen Möglichkeiten und Befähigungen außerschulischer Lernorte (Ganzheitlichkeit, Teilnehmer- und Handlungsorientierung) und verweist deutlich auf die Notwendigkeit methodisch-didaktischer Erschließungen, ohne die die Exkursion zum Wandertag werde. Peter Wirtz skizziert in seinem Beitrag „Ikonologie der Architektur und politische Bildung“, welche sozialen Strukturen und politischen Absichten, aber auch welche „verdeckten Befindlichkeiten“ (S. 33) sich an Gebäuden ablesen ließen. Axel Hof nähert sich dem Slogan, „Lernen an historischen Orten macht Geschichte erlebbar“ (Bestellkarte des Verlags) durchaus kritisch, was zunächst als Gewinn erscheint. Beim Lesen verliert man aber das Ziel des Beitrags – eine kaum stringent verfolgte These, dass von historischen Orte keine Eindeutigkeit ausginge – aus den Augen (67 Fußnoten und ein fünfseitiger Literaturanhang hätten ein Lektorat dringend nötig gemacht).

Hingegen zeigt der Artikel von Thomas Brehm „Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung“ auf, welches Potenzial diese als Orte von Reflektion und Kommunikation für die Identitätsbildung haben könnten. Historische Museen ermöglichen die Auseinandersetzung mit vermeintlich Fremdem, konfrontieren sie doch mit Befremdungserfahrungen gegenüber dem, was historisch der Eigengruppe (z.B. Nation, Religion, Region) zugerechnet wird. Bernd Buchner fokussiert in seinem Beitrag über das geplante NS-Dokumentationszentrum vorallem den historischen Ort, womit zwar deutlich wird, warum dieser im Stadtbild Münchens zu markieren ist, nicht aber warum und wie hier Lernen organisiert werden soll. Insbesondere weitere Ausführungen zu seinem Standpunkt, die Einrichtung eines Neubaus sei gegenüber einer an historischen Orten orientierten Stadtführung pädagogisch vorzuziehen, wären im Bezug auf das Thema des Sammelbandes interessant gewesen.

Auch Markus Kösters Beitrag zum „Herrmansdenkmal“ und Josef Matzenraths „Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente“ beschreiben vor allem die Geschichte und Besonderheiten der historischen Orte. Während Matzenrath die bereits von Peter Wirtz vorgeschlagene Architekturanalyse auf die drei Dresdner Parlamentsbauten anwendet, formuliert Köster erst am Ende seines Beitrags, eher kursorisch, methodisch-didaktische Erschließungsüberlegungen. Am Lernort Denkmal zeigt sich dabei eine besondere Schwierigkeit. Soll das Denkmal als Anlass für die Entschlüsselung der Geschichte dienen, die es symbolisiert oder ist es der Ort zur Analyse der Rezeptionsgeschichte von historischen Ereignissen? Oder anders: Was ist am Lernort Herrmansdenkmal zur Geschichte der Schlacht im Jahre 9 besser erfahrbar als im Klassenzimmer? Martin Kaiser konzipiert mit dem „Rheinland als Brückenlandschaft“ eine ganze Region als historischen Lernort für internationale Begegnungen. Die Subsummierung vieler Erinnerungs- und Lernorte ist dabei allerdings mehr eine Strategie zur Darstellung verschiedener möglicher Perspektiven auf die Region und eine Aneinanderreihung verschiedener potenzieller Exkursionsorte, als dass sie als eigenständiges Konzept überzeugen könnte.

Harald Stockert beansprucht mit seinem Beitrag eine Lücke der Publikation „Deutschen Erinnerungsorte“ 2 zu füllen, indem er am Stadtbild Mannheims Migrationsepochen beschreibt und anhand von Gebäuden einen Zugang zum Thema „Migration“ entwickelt. Aufschluss über die Verbindung dieser Orte mit Migrationsbewegungen sollen Informationstafeln des „Historischen Stadtinformationssystems“ geben, was erneut die Notwendigkeit der Kontextualisierung nicht für sich selbst sprechender Orte belegt. Während Stockert sein Konzept für das 17.-19. Jahrhundert entlang verschiedener Gebäude ausführt, bleibt der Zugang zum 20. Jahrhundert vage und in einer seltsam anmutenden Aneinanderreihung von deutschen Vertriebenen, deportierten Juden und süd-/südosteuropäischen Gastarbeitern/innen stecken.

Mit Berlin als Lernort beschäftigen sich zwei Beiträge. Während Tobias Nahlick für die „Haupstadt der DDR“ Orte aufzählt, die eindeutig für den repressiven Charakter des DDR-Regimes stehen (Berliner Mauer, MfS Untersuchungshaftanstalt), verstehen es Ingmar Reither/Gudrun Dietzfelbinger die Mehrdeutigkeit und die verschiedenen historischen Schichten des Ortes „Berliner Olympiastadion“ freizulegen. So verdeutliche es nicht nur die Werte der NS-Ideologie sondern stehe mit der (Nicht-)Nutzung bis 1989 und seiner Verwendung heute symptomatisch für den Umgang der Bundesrepublik mit der NS-Geschichte.

In der von Paul Ciupke abschließend beschriebenen Seminararbeit zur Geschichte der Arbeit und der industriellen Produktion scheinen die in der Einleitung geäußerten pädagogischen Anforderungen an das Lernen an historischen Orten zu erfüllen. Die erwachsenen Teilnehmer/innen nehmen dabei z.B. die Position entdeckender Lerner/innen ein, aber, wenn es ihre (berufliche) Kompetenz ermöglichte, auch die von Experten/innen, um zur Klärung von Sachfragen beizutragen. Die Überzeugungskraft lebensweltrelevanter Lerninhalte und die Freiwilligkeit der Teilnahme ermöglichte den Anleitenden die Rolle von Moderatoren/innen einzunehmen. Inwiefern dies als ein von spezifischen Lerninhalten, den Lernorten oder der Zielgruppe loslösbares und transferierbares Konzept zu verstehen ist, kann vielleicht an vergleichbaren „Ortsterminen“ im zweiten Band festgestellt werden.

Das Verdienst des Buches liegt sicherlich darin, Anregungen zu geben, ganz unterschiedliche Orte, Gebäude, Räume, Denkmäler etc. in die pädagogische Beschäftigung mit Geschichte einzubeziehen. Für die Gegenwärtigkeit von Geschichte im öffentlichen Raum zu sensibilisieren und damit möglicherweise die Wahrnehmung für gesellschaftliche Prozesse zu schärfen und zum Nachfragen anzuregen, ist ein wichtiges pädagogisches Ziel. Dass die wesentliche Erarbeitung von Hintergründen und Zusammenhängen dennoch in der Vor- und Nachbereitung liegt, deren Qualität weit mehr vom pädagogischen Personal und Zeitressourcen abhängt, lässt den Verdacht zu, dass der Lernort auch hier als Chiffre für eine andere (als schulische?) Pädagogik fungiert. Die Schilderungen der Praxis legen zumindest nahe, dass der historische Ort zwar Lerngegenstand, der eigentliche Lernort aber ein Ermöglichungsraum ist, der über seine Organisation hergestellt und durch die Kommunikation ausgestaltet wird. Der Ort bleibt vor allem ein Ort, zweifellos einer mit Geschichte. Ob er aber auch für die Güte des pädagogischen Prozesses bürgt, muss bezweifelt werden. Deshalb erscheint eine pointiertere Darstellung der pädagogischen Konzepte zur Erschließung von „Lernorten“ für den zweiten Band unerlässlich, will die Publikation einen substanziellen Beitrag zur Debatte um das Lernen an historischen Orten leisten.

Anmerkungen:
1 Von Borries, Bodo, Unterrichtsmethoden im europäischen Vergleich, in: Polis 3 (2001), S. 11.
2 Francois, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension