Cover
Titel
Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Alltag in der sozialistischen Industriestadt Schwedt


Autor(en)
Springer, Philipp
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
824 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adelheid von Saldern, Historisches Institut, Universität Hannover

Wer glaubt, dass sich in der Arbeitsgesellschaft DDR alles nur um das Erwerbsleben und um Betriebe drehte, wird durch die Lektüre der an der Technischen Universität Berlin entstandenen Dissertation von Philipp Springer eines Besseren belehrt. Auf über 800 Seiten entfaltet der Autor ein multiperspektivisches Bild einer Stadt im DDR-Sozialismus von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre hinein – ein gewaltiges Projekt, dessen gelungene Durchführung auf der Basis eines extensiven Quellenstudiums und mehrerer Interviews große Anerkennung verdient. Die Interviewpassagen werden nicht nur in den Darstellungstext eingeschoben, um diesen aufzulockern, sondern sechs Interviews kommen auch als eigenständige Quelle subjektiver Sinngebung ausführlich zur Geltung. Dabei werden die Interviewpersonen mit ihrer jeweiligen Sichtweise ernst genommen, gleichwohl deren Argumentationskontexte weit möglichst aufgedeckt, nach Erklärungen des Gesagten gesucht und die Erinnerungsmatrix dekonstruiert. Hierdurch gelingt es Springer, die Attraktivität methodischer Vielfalt eindrucksvoll unter Beweis zu stellen.

Im ersten Kapitel geht es um Planung und Aufbau eines Erdölverarbeitungswerkes, das der Stadt den Nimbus einer neuen Industriemetropole verlieh. Diese wuchs in einem rasanten Tempo, nämlich von 7.800 Einwohnern im Jahre 1959 auf 50.000 im Jahre 1972 (S. 161). Als sich die Menge der sowjetischen Erdöllieferungen Anfang der 1980er-Jahren stark verringerte, stagnierte auch die Stadtentwicklung sowie die Einwohnerzahl, und die Bedeutung dieses für die gesamte DDR wichtigen Innovationszentrums nahm ab.

Anfänglich, das heißt in den 1960er-Jahren, sollte das neue Werk, wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, sogar zu einer neuen Stadt führen. Doch konnte sich der ehemalige Bauhaus-Student und damalige Stadtplaner Schwedts, Selman Selmanagic, mit seinen Vorschlägen, eine völlig neue Stadt im Grünen zu bauen, nicht durchsetzen. Ihm wurde mangelnde Einordnung in den Rahmen und die Möglichkeiten der DDR-Volkswirtschaft vorgeworfen. Nachdem man sich in Schwedt mehr nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten gerichtet hatte, entstanden vor allem riesengroße Wohnkomplexe und ein neues Stadtzentrum.

Besonderes Interesse erregt das dritte Kapitel, das die Herrschaftsverhältnisse mit Blick auf die in der Literatur unterbelichtete Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung thematisiert. Ungeachtet der zahlreichen Einschränkungen der Akteure, vor allem bevor die Stadt im Jahre 1971 Kreisfreiheit erlangte, kam der Kommune, so die zentrale These des Autors, vor allem seit den 1970er-Jahren eine bemerkenswerte Bedeutung zu, und zwar als ein medial unterstütztes Scharnier zwischen der Partei- und Staatsspitze in Berlin und den Menschen vor Ort. An Hand verschiedener Beispiele zeigt der Autor, wie versucht wurde, die Vorgaben der Zentrale mit den Interessen der Stadt bzw. ihrer Handlungsträger in Einklang zu bringen. Springer sieht in der kommunalen Verwaltung letztlich einen Herrschaftsstabilisator, der die von oben kommenden Vorgaben für die Schwedter Bevölkerung „übersetzte“, während die Stadtverordnentenversammlung ein eher kümmerliches Dasein fristete.

Im folgenden Kapitel über das Stadtleben zeichnet Springer ein facettenreiches Bild, wobei deutlich wird, dass Konsum- und Wohnungsfragen im Alltag der Menschen eine besonders große Rolle spielten. Beispielsweise erschwerten die wenigen Einraumwohnungen ein eigenständiges Leben für Jugendliche, allein stehende Erwachsene und Rentner. Hinsichtlich des Freizeitbereichs kommt Springer zu dem Schluss, dass es trotz aller Bemühungen nicht gelungen sei, eine aktive Kultur der vielen am Orte lebenden Industriearbeiter in der Stadt aufzubauen, während der Sport durchaus zum integralen Teil des Alltags avancierte und die Kleingartenkultur die Wochenenden konturierte. Sein Blick fällt auch auf die komplexen Lebenswirklichkeiten von Frauen und auf die Abschottung der Ausländer, die von Seiten der Stadtöffentlichkeit hauptsächlich in Form diverser Sicherheitsdiskurse Beachtung fanden. Erwähnenswert sind auch Springers Recherchen über das Militärgefängnis am Stadtrand, weil es damals mit Schweigen belegt wurde – im Übrigen ein Zustand, der tendenziell bis heute andauert. Hingegen führten Umweltprobleme und Altstadtvernachlässigung zumindest in den 1980er-Jahren zu ersten Reflexionen.

Im letzten Kapitel gelingt es Springer, einige Grundzüge der Stadtwahrnehmung und Stadtimagination vorzustellen. An Hand verschiedener Quellengattungen – von der Berichterstattung, über städtische Selbstdarstellungen und Romane bis hin zu Postkarten – kann er zeigen, wie das Großprojekt Schwedt mit immer neuen Metaphern beschrieben wurde, um die Stadt zum Resultat erfolgreicher SED-Industrialisierungspolitik zu stilisieren (S. 731). Doch seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre verringerte sich der Fortschrittsoptimismus und der Rekurs auf die Zukunft. Immer häufiger wurde das Bild einer Stadt gezeichnet, die es Menschen erlaubt, individuelle Träume zu realisieren, soweit diese mit den allgemeinen Vorgaben harmonisierten. Auf Postkarten gewannen Natur und Landschaft in den 1980er-Jahren zusehends an Gewicht, wenngleich das Gros der Karten auf der Basis einer wenig innovativen Bildsprache nach wie vor den sozialistischen Stadtaufbau, inklusive der Neubausiedlungen, dokumentierte.

Die nahezu alle stadtgeschichtlichen Aspekte berücksichtigende Studie erinnert an die Versuche (und Versuchungen), Mikrogeschichte als eine histoire totale zu schreiben – im vorliegenden Falle könnte auch die Auffassung von der Vielgestaltigkeit der DDR-Wirklichkeit motivierend für die Verfolgung eines solchen Ansatzes gewesen sein. Hinzu kommt, dass die althergebrachte Frage nach der Repräsentativität einzelner Befunde aus theoretisch-methodischen Gründen allgemein an Bedeutung verloren hat, obwohl sie keineswegs überflüssig geworden ist. Doch während Studien über einzelne Unternehmen oder Biografien längst innerhalb der Geschichtswissenschaft große Anerkennung erworben haben, erzeugen Einzelstadtstudien ohne Vergleichsperspektiven leicht den Eindruck heuristischer Begrenztheit und werden in der breiten Fachöffentlichkeit deshalb häufig nur wenig beachtet. Sicherlich, auch Springer vermeidet es, systematisch der Frage nachzugehen, wie repräsentativ seine Einzelbefunde für die DDR-Städte sind und begnügt sich stattdessen diesbezüglich eher mit kursorischen Bemerkungen und weiterführenden Literaturangaben zu Beginn eines jeden Kapitels. Ihm kommt allerdings zu Gute, dass Schwedt als Standort eines neuen Chemie-Giganten ein Ausnahmefall darstellt, noch am ehesten vergleichbar mit Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda. Auch sollte nicht vergessen werden, dass die DDR-Stadtgeschichtsforschung bislang im Vergleich zu anderen Forschungsbereichen im Rückstand liegt, so dass Vergleiche auf der Basis der Sekundärliteratur sich derzeit noch als schwierig erweisen. Doch das Problem, wie DDR-Stadtforschung in Zukunft sinnvoll betrieben werden sollte, ist damit nicht erledigt. Da vergleichende Gesamtstudien über mehrere Städte, die die hohe Qualität der hier vorliegenden Arbeit erreichen wollen, wegen des immensen zeitlichen Forschungsaufwandes kaum zu erwarten sind, ist es realistischer und wohl auch weiterführender, sich auf einzelne stadtgeschichtliche Forschungsfelder zu beschränken und stattdessen mehrere Städte bzw. Stadttypen in den Blick zu nehmen. Das Buch über Schwedt böte hierfür eine gute Ausgangsbasis, gerade weil in ihm so viele Bereiche angesprochen werden. Vielleicht findet Philipp Springer auf der Basis seiner sehr gehaltvollen Ergebnisse selbst noch die Zeit, in einem Aufsatz darzulegen, wie eine vergleichende DDR-Stadtforschung zukünftig aussehen könnte – und sollte.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension