Titel
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Konfliktmanagement im Alltag des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates


Autor(en)
Owzar, Armin
Reihe
Historische Kulturwissenschaft 8
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Rehling, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Zur inneren Gründung bzw. Integration der Kaiserreichsgesellschaft gehörte die Konstruktion von „Reichsfeinden“. Damit waren massive Konflikte verbunden, wie durch Forschungen zum Kulturkampf, zur Sozialistengesetzgebung, zum Antisemitismus und zum Aufkommen einer „Frauenfrage“ gut belegt ist. Doch trotz des sicheren Wissens um die Exklusionsfreudigkeit des deutschen Kaiserreichs, das seine Identität durch die Konstruktion von Alteritäten in Form der Reichsfeinde stabilisierte, ist bisher der Konfliktaustrag zwischen den Gesellschaftsgruppen und Milieus, die interpersonale Alltagskommunikation, kaum in den Blick genommen worden.

Armin Ozwar behandelt dieses Problem in seiner Studie, die aus einer Habilitationsschrift an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hervorgegangen ist, am Beispiel der Hansestadt Hamburg. Ausgehend von der Diagnose, dass sich die Kaiserreichsgesellschaft in verschiedene sozialmoralische Milieus differenziert habe, deren heterogene Lebens-, Denk- und Kommunikationsstile sich entlang der sozialhistorischen Kategorien Nationalität, Religion, Klasse, Alter und Geschlecht organisieren lassen, stellt er im Anschluss an Paul Watzlawicks Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ die These auf, dass es im Kaiserreich eine Kultur des präventiven Schweigens gegeben habe. Da präventives Schweigen nur vorliegen kann, wenn es Räume gruppenübergreifenden Kontaktes gibt, fragt Armin Owzar zunächst danach, ob die Segregation und Segmentierung der Kaiserreichsgesellschaft auf strukturelle Faktoren wie Wohnverhalten und Zeitbudget zurückzuführen sind, oder ob es sich um ein Resultat sozialen Handelns handelt. Zu diesem Zweck untersucht er Kommunikationsräume daraufhin, ob sie offen, halboffen oder geschlossen waren, um dadurch Aufschluss darüber zu gewinnen, inwieweit es Möglichkeiten zu Kommunikation zwischen den Klassen, Religionen, Ethnien, Altersgruppen und Geschlechtern gab, um dann in einem weiteren Teil zu untersuchen, wie die Kommunikation in den Räumen, in denen diese übergreifende Kommunikation möglich war, aussah. Das Quellenkorpus, auf das hier zurückgegriffen wurde, setzt sich aus Vigilanzberichten, Anstands- und Benimmbüchern sowie Selbstzeugnissen zusammen. Möglicherweise hätten sich in diesen Quellengattungen durch einen diskursanalytischen Zugriff weitere Erkenntnisse gewinnen lassen, etwa durch die Berücksichtigung der „Stereotype“ nicht nur im Kapitel über die Juden. Gerade bei den Anstands- und Benimmbüchern spielen Stereotype eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Konstruktion von Identitäten und Alteritäten. Ihre Berücksichtigung hätte zu differenzierteren Aussagen über die gesellschaftlichen Gruppen geführt, welche jetzt das erste große Teilkapitel über „Topographie hanseatischer Kommunikationsgemeinschaften“, das den Hang der Kaiserreichsgesellschaft zu Segmentierung und Segregation entlang von Klasse, Religion, Ethnie und Geschlecht überzeugend darlegt, gelegentlich etwas schwächen. Besonders spannend war der Exkurs zu einer neueren sozialhistorischen Kategorie, der „sexuellen Orientierung“, am Ende dieses Kapitels, der aber leider seinem Anspruch, die Kommunikationsgemeinschaft der Homosexuellen zu beleuchten, nicht ganz gerecht wird. Armin Owzar überträgt hier die Ergebnisse über die für diesen Zeitraum deutlich besser erforschte männliche Homosexualität auf die weibliche, was zu massiven Widersprüchlichkeiten zu den im vorhergehenden Kapitel getroffenen Aussagen über den Raum der Geschlechter führt. Auch Homosexuelle haben sich in dem zweigeteilten Raum der Geschlechter bewegt, so dass man nicht von einem homosexuellen Kommunikationsraum sprechen kann, sondern in einen schwulen und einen lesbischen Raum differenzieren muss.

Im zweiten Teil seiner Studie beleuchtet Armin Owzar das „Wie“ der Kommunikation näher und kommt zu dem spannenden Ergebnis, dass Streit, Dissenz und Konflikt im Kaiserreich sozial geächtet waren. Traten Konflikte auf, so wurden sie durch Schweigen und Kommunikationsabbruch beendet, was Armin Owzar am Ende zu dem Fazit veranlasst, dass das präventive Beschweigen im Kaiserreich funktionale Züge trug, „das erst unter den veränderten Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit auch kontraproduktive Folgen zeitigte.“ (S. 427) Die Strategie des „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ sei insofern für das Kaiserreich eine angemessene Methode des Konfliktmanagements gewesen.

Einer solchen Argumentation kann ich nicht ganz folgen, weil sie einige Ursachen und Folgen dieses Kommunikationsverhaltens, das, wie Armin Owzar richtig anmerkt, in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik fortwirkte, verkennt. Wenn man Paul Noltes Hinweis folgt, dass die „Gesellschaft“ keine gegebene Größe darstellt, sondern ein Konstrukt ist, das es zu historisieren gilt 1, kommt man zu dem Schluss, dass es sich bei dem Begriffspaar politisch/unpolitisch um einen historischen Topos handelt, an dem die Konfliktscheu der wilhelminischen Gesellschaft in der Ablehnung des Politischen als synonym „zu unheilbar zerstritten“ und „unsachlich, interessengeleitet“ oszilliert. Eine Deutung von „politisch“, die das Kaiserreich bis zu seinem Ende prägte und auch in der Weimarer Republik fortwirkte.2 1918 ist sie in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zu einem regelrechten Manifest der Parlamentarismusskepsis geworden.3 Unter diesem Aspekt wäre die Frage, ob die Gesellschaft des Kaiserreichs aus heutigem Verständnis politisch oder unpolitisch war (S. 406-411), überflüssig gewesen. Statt dessen wäre die meines Erachtens interessantere Erkenntnis, dass die wilhelminische Gesellschaft Konflikte gefürchtet und vermieden hat, weil ihre Mitglieder meinten, die Integration der Familie, der Partei, des Vereins, des eigenen Milieus oder der Gesamtgesellschaft durch Dissenz zu gefährden, mehr in den Vordergrund getreten.

Eben wegen dieser Angst vor Desintegration waren die Mitglieder der wilhelminischen Gesellschaft permanent bemüht, alle auf die eigene Linie, die als „unpolitisch und sachlich“ (S. 269), eben als der einzige richtige Weg angesehen wurde, zu bringen. Wo das aussichtslos erschien, wurde durch Kommunikationsabbruch und Exklusion gestraft, so dass die zeitgenössische Diagnose, die Gesellschaft sei vom Zerfall bedroht, zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung wurde. Die Segregation und Segmentierung der Milieus wurde mit dem Argument, die jeweils anderen trieben die Gesellschaft auseinander, immer aggressiver fortgeschrieben. Dort, wo wie in den Volksheimen der Versuch unternommen wurde, alle Glieder der Gesellschaft in einem „herzlichen Gemeinschaftsgefühl“ (S. 140) aneinander zu binden, wohnte diesem Ansinnen schon der harmonistische, keinesfalls pluralistische Wunsch nach einem gesellschaftsübergreifenden Konsens inne, der im gesamten politischen Spektrum immer auch die Option beinhaltete, die politischen Gegner zu ihrem Glück zu zwingen. Insofern ist das präventive Schweigen meines Erachtens keine Strategie des Konfliktmanagements gewesen, denn die bestehenden Konflikte wurden weder an einer Eskalation noch an ihrer Ausbreitung gehindert. Statt dessen wurden Konflikte und Kompromisse als destruktiv und gesellschaftsgefährdend geächtet, was insofern zu einer Eskalation des Grundkonfliktes führte, als es, wie Armin Owzar selbst feststellt, schnell nicht mehr länger um den Austrag einer Meinungsverschiedenheit, sondern um die physische Vernichtung des Vertreters der anderen Auffassung ging. Der Träger einer anderen Meinung wurde als existentielle Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erlebt. Dass einem solchen Konfliktverständnis eine problematische Wesensähnlichkeit zu „Volksgemeinschaft“ und „Gemeinschaftsfremden“ innewohnt, auf die man nach 1914 aufbauen konnte4, dürfte, ohne einen neuen, alten Sonderweg postulieren zu wollen, offensichtlich sein. Leider bleibt diese spannende Diagnose zugunsten der traditionellen strukturhistorischen Kategorien in Armin Owzars Studie unterbelichtet, ertrinkt teilweise regelrecht in den statistischen Auswertungen der Kategorien, so dass das überaus spannende Potential dieser Arbeit nicht voll ausgeschöpft wurde.

Anmerkungen
1 Nolte, Paul, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000.
2 von dem Bussche, Raimund, Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998
3 Mann, Thomas, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918.
4 Bruendel, Steffen, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Verhey, Jeffrey, Der „Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.