L. Raphael u.a. (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft

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Titel
Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte


Herausgeber
Raphael, Lutz; Tenorth, Heinz E.
Reihe
Ordnungssysteme - Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 20
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Kießling, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die Kritik an der ehrwürdigen Disziplin der Ideengeschichte ist seit Jahrzehnten die immer gleiche. Weltabgehobene Gipfelwanderungen, so lautet der Vorwurf, habe sie bisher vor allem unternommen. Wie aber kann es gelingen, einer solchen Kritik zu entkommen? Wie kann die traditionelle Ideengeschichte zu einer modernen „neuen Ideengeschichte“ umgeformt werden? Auch hier hat es nicht an Vorschlägen gefehlt. Hans Joachim Schoeps, selbst meist als Vertreter einer herkömmlichen Geschichtswissenschaft begriffen, bemühte sich 1959 programmatisch um eine um den Begriff des „Zeitgeistes“ kreisende Geistesgeschichte, die er vor allem auch von der Ideengeschichte absetzte. Ebenfalls auf die 1950er-Jahre des letzten Jahrhunderts datieren die ersten Versuche der sogenannten Cambridge School um John Pocock und Quentin Skinner, den traditionellen Texten der Ideengeschichte, ihren jeweiligen – und vor allem sprachlich begriffenen – historischen Zusammenhang (wieder)zugeben. Das hat ihnen den Vorwurf eingebracht, ebenfalls letztendlich am Höhenkamm zu verweilen, und ähnliche Einwände wurden auch gegen einen weiteren Versuch erhoben, die Ideengeschichte zu modifizieren, gegen die Begriffsgeschichte und ihr großes Lexikonprojekt der „Geschichtlichen Grundbegriffe“.

Das von 1997 bis 2003 von der DFG geförderte Schwerpunktprogramm „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit – Ansätze zu einer neuen ‚Geistesgeschichte‘“ stellt einen der jüngsten Versuche dar, der Disziplin neues Leben einzuhauchen. Nun ist sozusagen der Berichtband erschienen, der in knapp 20 Beiträgen Ergebnisse der insgesamt 31 geförderten Projekte, von denen noch nicht alle abgeschlossen sind, vorstellt. Den fünf Abschnitten, unter denen die Beiträge gesammelt sind („Frühneuzeitliche Politik-Diskurse“, „Theorien in Recht, Politik und Gesellschaft“, „Nation und Politik seit dem 19. Jahrhundert“, „Normen: Recht, Moral, Religion in der Moderne“, „Wissenschaftliche Ideen, Diskurse und Praktiken“), sind dabei jeweils kurze Kommentare angefügt, in denen sich der Band gleichsam schon einmal selbst reflektiert.

In dankenswerter Weise im Band noch einmal abgedruckten Ausschreibungstext war die Frage nach der Wirksamkeit von Ideen in den Mittelpunkt gerückt worden. Das Programm machte sich damit auf, eine, wenn nicht die zentrale Forderung an die Ideengeschichte umzusetzen, nämlich die der „Kontextualisierung“ der untersuchten Ideen. Lutz Raphael nimmt die Frage nach der Wirkung von Ideen im einleitenden Kapitel noch einmal auf und kleidet sie, wie schon der Ausschreibungstext, in eine Bemerkung von Peter Burke, nach der die „ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert“, überwunden werden müsse. (S. 11) Misst man den Erfolg des Unternehmens – das Vorwort spricht von „Rechenschaft“, die es abzulegen gelte – an diesem Sammelband, fällt die Bilanz allerdings gemischt aus. Das liegt auch daran, dass einige Beiträge etwas lakonisch geraten sind und inhaltliche Ergebnisse nur andeuten, aber nicht weiter ausführen. Doch selbst wenn man dies in Rechnung stellt, bleiben einige gewichtige Probleme nur unzureichend geklärt, die sich aus einem erneuerten Paradigma Ideengeschichte ergeben.

Zu diesen Problemen gehört zum Beispiel die Frage, was bei einer Ideen- oder Geistesgeschichte (die beiden Termini werden in den meisten Beiträgen synonym verwendet) eigentlich der Untersuchungsgegenstand ist. Das reicht dann von klassischen Autoren wie Locke, Shaftesbury und Hume (Theo Stammen/Susanne Schuster: Wie lässt sich Gemeinsinn institutionalisieren? Politisch-theoretische Positionen des Common Sense Diskurses von John Locke zu Edmund Burke) bis zu Schulbüchern und Schriftwechseln von Industriellen (Moritz Föllmer/Andrea Meissner: Ideen als Weichensteller? Polyvalenz, Aneignung und Homogenitätsstreben im deutschen Nationalismus 1890-1933) oder Gerichts- und Verwaltungsakten (Maren Hoffmeister: Deskriptionen und Erektionen. Projektion auf den Körper des Mörders). An eine Definition dessen, was Ideen sind, wagt sich dabei kaum einer der Beiträge. Im Ausschreibungstext war von „gedachten Ordnungen“, verstanden ebenso als „intellektuelle Leistungen“ wie „Allerweltswissen“, die Rede. (S. 526) Lutz Raphael betont in seinem einleitenden Beitrag noch einmal, dass das Programm von „Deutungssysteme[n] und Denkstile[n]“ ausging, die als Teil von „Verbreitungs- und Kommunikationsprozessen“ verstanden und in „Wissens- und Wissenschaftsordnungen“ gesucht worden seien. (S. 11) Damit deutet sich aber bereits das nächste offene Problem an. Inwieweit unterscheidet sich ein solches weites Verständnis von Ideengeschichte noch von den vielen kulturhistorischen Arbeiten, die ihrerseits „Ordnungssysteme“, „Weltdeutungen“ oder die „Bedeutung der Bedeutung“ (Ute Daniel) zum Gegenstand haben? Viele Beiträge des Bandes machen den Eindruck, als könnten sie nahtlos in solche Parameter eingeordnet werden. Das Bemühen um Ideengeschichte erscheint in einem solchen Zusammenhang schlicht unnötig.

Ein ähnlicher Eindruck drängt sich auf, wenn vor allem auch mit Blick auf die Wirkung von Ideen auf diskursgeschichtliche Verfahren zurückgegriffen wird. Das Problem der Kontextualisierung ist damit natürlich gelöst, weil sich bei Diskursen der Dualismus von Theorie und Praxis nicht stellt. Diskurse sind qua definitionem nicht von Haltungen und Handlungen abgehobene Ideenzusammenhänge. Natürlich ist es fruchtbar und sinnvoll, Nationsvorstellungen nicht nur bei Treitschke und Thomas Mann, sondern auch in Autobiografien des „normalen“ Bürgertums (Dagmar Günther: Der Ort des Nationalen in der autobiographischen Selbstthematisierung deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs – eine Bilanz) oder bei Industriellen wie in dem schon genannten Beitrag von Föllmer und Meissner aufzusuchen. Natürlich sind Körper und Sexualitätsvorstellungen (Susanne zur Nieden: Der homosexuelle Staatsfeind – zur Geschichte einer Idee) lohnende Untersuchungsfelder. Aber warum das nicht gleich (eine bei den genannten Beispielen im Übrigen gelungene) Diskursgeschichte nennen?

Auch bei anderen Beiträgen bleiben gerade im Zusammenhang der Wirkung oder besser der Verbreitung von Ideen in unterschiedlichen Wissens- oder Gesellschaftsbereichen Fragen offen. Etwa wenn Sandra Pott den komplizierten Prozess der Säkularisierung in verschiedenen Wissenschaftsbereichen der frühen Neuzeit mit einer Passage aus Achim von Arnims Kronenwächtern beleuchtet (Sandra Pott: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte). Es ist mehr als die Pedanterie der Historiker/innen, wenn man sich hier zumindest Andeutungen wünscht, wie das Zusammenspiel der verschiedenen Textgattungen zu denken ist. Vielverspechender ist da der Ansatz von Raimund Ottow (Die „Cambridge School“ und die Interaktion politischer Diskurse in England vor der Zeit Elisabeth' I. bis zur Revolution), innerhalb eines „Diskursfeldes“ die Interaktion unterschiedlicher Diskurse zu verfolgen und zu analysieren. Leider beschreibt Ottow dann vor allem die verschiedenen Denkschulen und deutet deren Interaktionen nur an.

Doch genug der Kritik. Löst man sich einmal von der Vorgabe des Bandes, Wege zu einer neuen Ideengeschichte zu zeigen, sind viele der Beiträge lesenswert. Dazu gehört etwa auch Thorsten Langes Artikel über die „Diffusion“ des wissenschaftlichen Neoliberalismus in die meinungsbildende Presse in der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien während der 1970er und 1980er-Jahre des 20. Jahrhunderts oder die von Ruth Rosenberger, Lutz Raphael und Johannes Platz gemeinsam vorgelegten Überlegungen zum Aufkommen, zur Verbreitung und Entwicklung betriebspsychologischer Erkenntnisse und Erfahrungen in westdeutschen Industrieunternehmen. Sehr lesenswert sind auch Frank Beckers Beobachtungen zum Bild der Einigungskriege im deutschen Kaiserreich, die er selbst bezeichnenderweise nicht Ideengeschichte, sondern versuchsweise eine „Kulturgeschichte der Ideen“ nennt (Auf dem Weg zu einer „Kulturgeschichte der Ideen“? Deutung der Einigungskriege und bürgerlicher Militarismus im Deutschen Kaiserreich). Was sich in solchen Beiträgen an Ergebnissen zeigt, setzt sich in vielen anderen Untersuchungen der letzten Jahre fort, erinnert sei nur an die zahlreichen Studien zur „Westernisierung“, Demokratisierung oder Liberalisierung der alten Bundesrepublik. An solchen empirischen Arbeiten wird deutlich, dass Burkes Satz von der ruinösen Trennung von Ideen und Gesellschaft als überholt gelten kann. Das liegt aber wohl weniger an Überlegungen zu einer Erneuerung der Ideengeschichte, sondern an dem anhaltenden allgemeinen Trend zu kulturhistorischen Fragestellungen. Oder anders formuliert: Es scheint hier ein Fall vorzuliegen, bei dem die wissenschaftliche Praxis der theoretischen Reflexion weit voraus ist.

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