A. Kenkmann u.a. (Hgg.): Nach Kriegen und Diktaturen

Cover
Titel
Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert


Herausgeber
Kenkmann, Alfons; Zimmer, Hasko
Reihe
Villa ten Hompel 7
Erschienen
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ gilt im internationalen Vergleich als beispielhaft. Harald Welzer bezeichnet sie – wenn auch ein wenig polemisch – als einen „der wenigen Exportartikel made in Germany, die noch Bewunderung und Anerkennung finden“.1 Politische Umbrüche haben seit den späten 1980er-Jahren in Lateinamerika, Südafrika sowie Teilen Asiens, in Ostmitteleuropa und in Jugoslawien die Aufarbeitung von Regimeverbrechen und (Bürger-)Kriegserfahrungen in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Ohne eine umfassende gesellschaftliche Thematisierung der vorausgegangenen „Staatsverbrechen“ werden Demokratisierungsprozessen allerdings nur geringe Chancen eingeräumt.2 „Schlussstrich“ und „Vergessen“ stehen in einem deutlichen Kontrast zum Imperativ des öffentlichen Erinnerns. Die bestehenden Gräben müssen auf nationaler Ebene überbrückt werden, auch wenn gleichzeitig Formen negativer Erinnerung zu einer globalen Norm geworden sind.

Dass Aufarbeitungsprozesse sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft weisen, unterstreicht der aus einer interdisziplinären Tagung in der Villa ten Hompel in Münster (http://www.muenster.de/stadt/villa-ten-hompel) hervorgegangene Sammelband.3 Er vereinigt jeweils sechs Beiträge, die sich mit „Bilanzen“ und „Perspektiven“ des internationalen Umgangs mit der Vergangenheit beschäftigen. Einer knapp gehaltenen Einleitung der Herausgeber folgt ein grundsätzlicher Beitrag Moshe Zimmermanns, der am Beispiel des israelisch-palästinensischen Konflikts eindrücklich herausstellt, wie „absolut“ gesetzte Geschichtsbilder bestehende Konflikte verschärfen. Wie lässt sich nun staatliche und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit gestalten, damit „bessere“ Resultate erzielt werden können?

Die Mehrheit der Beiträge behandelt die Aufarbeitung von Regimeverbrechen im Rahmen postdiktatorischer Transitions- und Transformationsprozesse. Mit der Demokratisierung in Argentinien und Chile befasst sich der Beitrag von Ruth Fuchs und Detlef Nolte. Am Beginn des Aufarbeitungsprozesses stand in beiden Staaten jeweils die Suche nach der Wahrheit; eine zweite Phase war vom Widerstand der Täter und ersten Amnestien geprägt. Die Aufarbeitung nahm so die Form einer „zweiten Geschichte der Diktatur“ an. Danach begann eine erneute Phase der Wahrheitssuche, die sich nun auf Institutionen wie Wahrheitskommissionen und eine demokratische Öffentlichkeit stützen konnte. Erst hier fanden Politik und Recht (wieder) zueinander. Seither lässt sich zumindest ein Grundkonsens über das Ergebnis der Aufarbeitungsbemühungen ausmachen, der auch Optionen für die Zukunft eröffnet: Die Regimeverbrechen sind jetzt im kollektiven und kulturellen Gedächtnis verankert. Die zum Teil tiefen Risse in den Gesellschaften sind dadurch zwar noch nicht gekittet, doch befinden sich Täter und Opfer zumindest in einem gemeinsamen Diskursuniversum.

Hier liegt auch ein möglicher Maßstab für eine „Bewertung“ des Umgangs mit der Vergangenheit: Ob die Aussöhnung der verschiedenen Parteien oder die Stabilisierung der Demokratie als primäres Ziel angesehen wird, muss jeweils im gemeinsamen Diskurs vor Ort ausgehandelt werden. Dabei fällt auf, dass Fuchs und Nolte nicht auf die beiden europäischen Kolonialmächte Spanien und Portugal eingehen, die über eine ähnliche Geschichte verfügen. Durch eine solche zusätzliche Vergleichsebene hätte sich die unterschiedliche „Basis“ präzisieren lassen, von der aus die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Militärdiktaturen, die nur wenige Jahre an der Macht waren, unterscheiden sich in ihren Auswirkungen auf Gesellschaft und Rechtssystem deutlich von Diktaturen, die sich über 40 oder 50 Jahre an der Macht gehalten haben: Während im ersten Fall Re-Demokratisierung nötig ist, bedarf es im letzteren einer viel grundlegenderen Demokratisierung.

Trotz Versäumnissen und Desinteresse besonders in den 1960er-Jahren (siehe den Beitrag Marc von Miquels) hat die bundesrepublikanische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus Vorbildcharakter gewonnen, wie Knut Amelung in seinem knappen Überblick zu den gesetzlichen Grundlagen der Beurteilung des DDR-Unrechts darstellt. Für Japan dokumentiert Petra Buchholz einen hierzulande unbekannten, gleichwohl massenhaften Trend, in öffentlichen autobiografischen Erinnerungen an persönliches Leid, teilweise aber auch an Täterschaft zu erinnern. Dies geschieht in Form von „Eigengeschichten“, die besonders von Angehörigen der Generation der heute 60- bis 70-Jährigen publiziert werden.

Während es den internationalen Strafgerichtshöfen auf der völkerrechtlichen Ebene teilweise an einer Instanz zur entschlossenen Umsetzung ihrer Entscheidungen mangelt (siehe Rainer Huhles Aufsatz), können deren Schlüsselkonzepte wie Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit, Rehabilitation, Versöhnung und Prävention auch im Rahmen außerjuristischer Verfahren umgesetzt werden – solange der gesellschaftspolitischen Komponente der Aufarbeitung Genüge getan wird. Hatte schon Gunnar Theißen im „Bilanzen“-Kapitel gezeigt, dass Wahrheitskommissionen eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit zwar unterstützen und begleiten, keinesfalls aber ersetzen können (fehlender Strafverfolgungsdruck), so stärkt Lutz van Dijk diese Lesart noch durch Beispiele aus der Praxis der südafrikanischen Erinnerungsarbeit: Die Erfahrungen andauernder gesellschaftlicher Ungleichheit gehen im Rahmen der Kommissionen zumeist unter. Gerd Hankel rückt mit seinem Beitrag die vorkoloniale Gacaca-Justiz in Ruanda in den Blickpunkt. Diese hatte die Funktion, widerstreitende Interessen zum Ausgleich zu bringen. Anerkannte Personen der Gemeinschaft fällten nicht nur einen Schuldspruch, sondern regelten auch die Formen der Wiedergutmachung und des Ausgleichs.

Wolfgang Höpkens Beitrag beschäftigt sich mit den Folgen von Diktatur und Bürgerkrieg in den verschiedenen Teilstaaten Ex-Jugoslawiens. Die doppelte Rolle vieler Beteiligter als Opfer und Täter erschwert den Umgang mit der historischen Erfahrung zusätzlich. Sowohl auf Ebene der Politik wie auf Seiten der Bevölkerung wird die Vergangenheit „asymmetrisch“ wahrgenommen, d.h. jeweils aus der eigenen Opferperspektive. Dass die Verarbeitung im Rahmen der neuen „postnationalen Konstellation“ in Kroatien weitaus besser gelungen sei als Höpken annimmt, glaubt dagegen Siegfried Gehrmann.

Von den Eigengeschichten japanischer Kriegsteilnehmer und den Ansätzen der traditionellen Gacaca-Justiz in Ruanda abgesehen, bietet der Sammelband keine grundlegend neuen Aspekte, die über bisherige Veröffentlichungen zu diesem Themenfeld hinausgehen.4 Gleichwohl eignet er sich als einführender Überblick zu aktuellen Diskussionsfeldern. Seine Stärken liegen eher dort, wo sich Bilanzen und Perspektiven ergänzen (Südafrika) oder in der Beurteilung der Aufarbeitungsbemühungen voneinander differierende Beiträge die Vielschichtigkeit der Probleme in der Praxis vor Augen führen (Ex-Jugoslawien bzw. Kroatien).

Juristisch gesehen geht es bei Regimeverbrechen immer auch um eine „Besserstellung“ einer politisch-staatlich abgeleiteten Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten. Die Besonderheit der Staats- oder Regimekriminalität wurde gerade in der juristischen Praxis in Deutschland in vielerlei Hinsicht ausgeblendet. Dies gilt auch für den vorliegenden Sammelband, der sich kaum den weltweit doch unterschiedlichen juristischen Argumentationsfiguren widmet. Wolfgang Naucke hat demgegenüber den Begriff „staatsverstärkte Kriminalität“ vorgeschlagen.5 Er kennzeichnet deutlicher das Wechselspiel zwischen den einzelnen Tätern und den staatlichen Strukturen, die sie in ihrem Interesse einsetzen. Auch in Deutschland haben sich Phasen der Anerkennung von Schuld mit aufkommenden Opferdiskursen abgewechselt, und erst heute scheint ein Standpunkt erreicht zu sein, hinter den nicht mehr ohne weiteres zurückgegangen werden kann. Der Exportartikel „Vergangenheitsbewältigung made in Germany“ zeigt eben auch, dass manchmal nur das endlich besser wird, was lange währt. In diesem Sinne wird die Beschäftigung mit der Vergangenheit „nach Kriegen und Diktaturen“ auch im 21. Jahrhundert ein wichtiges Thema bleiben.

Anmerkungen:
1 Welzer, Harald, Nervtötende Erzählungen. Die Bewältigung der Vergangenheit in Deutschland gilt als vorbildlich. Was bewältigt ist? Gar nichts, in: Frankfurter Rundschau, 7.5.2005, Beilage „Deutschland danach“, S. 1.
2 Vgl. schon: Jäger, Herbert, Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, Frankfurt am Main 1989.
3 Vgl. auch den Tagungsbericht von Matthias M. Ester: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=105>.
4 Vgl. u.a. Smith, Gary; Margalit, Avishai (Hgg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt am Main 1997; König, Helmut; Kohlstruck, Michael; Wöll, Andreas (Hgg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen 1998; Knigge, Volkhard; Frei, Norbert (Hgg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002; Radkau, Verena; Fuchs, Eduard; Lutz, Thomas (Hgg.), Genozide und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert, Wien 2004.
5 Naucke, Wolfgang, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, Frankfurt am Main 1996.