J. Hahn u.a. (Hgg.): Medizin im Nationalsozialismus

Titel
Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums


Herausgeber
Hahn, Judith; Kavcic, Silvija; Kopke, Christoph
Reihe
Wissenschaft 82
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Mabuse-Verlag
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Winkler, Berlin

Im Dezember 2003 versuchte der interdisziplinäre Workshop „Medizin und Konzentrationslager“ des Zentrums für Human- und Gesundheitswissenschaften (ZHGB) der Berliner Hochschulmedizin, Aspekte der Medizingeschichte und der Konzentrationslagerforschung miteinander zu verknüpfen. Bedürfen doch, so die Herausgeber/innen, „beide Forschungsrichtungen der Erkenntnisse der jeweils anderen Forschungsperspektive, um das komplizierte Geflecht von wissenschafts- und gesundheitspolitischen, rassenhygienischen und vernichtungspolitischen Zielen und deren Umsetzung im ‚Dritten Reich’ [zu] untersuchen und angemessen beurteilen zu können“ (S. 20).

Analog zum Workshop gliedert sich der vergleichsweise zeitnah erschienene Tagungsband in drei Abschnitte. Zunächst werden die Opfer einer kriminellen Medizin in den Blick genommen und an ausgewählten Beispielen die Kategorien „Gesundheit“ und „Krankheit“ vergegenwärtigt. In einem zweiten Teil nimmt sich das Buch den Interessen jener Institutionen und wissenschaftlicher Netzwerke an, die die nationalsozialistische Gesundheits- und Wissenschaftspolitik „vor Ort“ umsetzten. Der letzte Teil richtet den Blick auf Personen und Institutionen, die aufgrund ihrer Tätigkeiten Kenntnis von den gesundheitlichen Verhältnissen in den Lagern besaßen, also „Mitwisser“ waren (S. 20ff.).

Als Orte der „gestaffelten Selektion“ beschreibt Oliver Tauke die Häftlingskrankenbauten des KZ Mittelbau-Dora. Die sich 1942 langsam abzeichnende militärische Niederlage des Deutschen Reiches veränderte den Blick des Regimes auf die KZ-Häftlinge (nicht zuletzt auch auf die ausländischen Zwangsarbeiter/innen). Wurden die Häftlinge bis dahin mit eher sinnloser Arbeit, u.a. zum Zweck der „Erziehung“, beschäftigt, erlangte deren Arbeitskraft nun eine wachsende Bedeutung. Die Aufrechterhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit sollte – allerdings bei minimalem Aufwand – möglichst lange gewährleistet werden. Die daraufhin praktizierten lagerinternen Selektionsmechanismen umfassten die Einweisung in einen „Schonungsblock“ ebenso wie die Abschiebung in das Sterbelager „Boelcke-Kaserne“ in Nordhausen. Es ist verdienstvoll, dass Tauke das Elend in diesem Lager beschreibt (S. 41f.), rückt doch bei der gängigen – und nicht nur medialen – Darstellung des „Dritten Reiches“ („Hitlers Frauen“, „Der Untergang“ usw.) dieser Aspekt des NS-Alltags mehr und mehr in den Hintergrund.

Auf die propagandistische Nutzung des Krankenreviers des KZ Sachsenhausen geht Dorothee Wein ein. Führungen durch Küche, Bücherei, Wäscherei und das Krankenrevier des „Musterlagers“ bei Oranienburg waren fester Bestandteil im „Besuchsprogramm“ von Journalisten, Teilnehmern von Polizeischulen sowie Vertretern verbündeter bzw. neutraler Staaten. Diesen wurde ein musterhaft geführtes und zuvor von Schwerkranken geräumtes Krankenrevier präsentiert, dessen medizinische Ausstattung sich auf einem vergleichsweise hohen technischen Niveau befand. Es war daher wenig verwunderlich, dass das „Musterlager“ bei den meisten Besuchern einen positiven Eindruck hinterließ, wie Wein mit Hilfe ihres interessanten Perspektivenwechsels darlegt, bei dem auch ehemalige „Besucher“ zu Wort kommen (S. 61ff.).

Der Beitrag von Iris Hax basiert auf den Forschungsergebnissen der von ihr erarbeiteten Dauerausstellung „Medizin und Verbrechen – Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen“. Am Beispiel von vier Häftlingen schildert Hax das Prozedere von erzwungenen Sterilisations- bzw. Kastrationsverfahren. Die Autorin greift dabei auf Krankenakten aus dem Staatsarchiv Moskau zurück, die es ihr ermöglichen, anschauliche Biografien von Männern zu schreiben, die sich gegen das um sie gezogene Netz rassistischer, erbbiologischer und sozialdarwinistischer Argumentationslinien und Praktiken nicht zu wehren vermochten. Ihre soziale Unangepasstheit wurde ihnen zum doppelten Verhängnis: So wurden sie nicht nur an der Fortpflanzung gehindert, sondern auch als Männer gebrochen.

Daniela Claudia Angetter beschreibt das Verhältnis des Nationalsozialismus zu alternativen Heilverfahren als eines, das von gegenseitiger Affinität geprägt war. Aufgrund des ganzheitlichen Ansatzes von Vertretern der Naturheilkunde erwarteten die Nationalsozialisten „von dieser Seite größeres Verständnis für biologische Maßnahmen wie Sterilisierungen, Ehetauglichkeitsprüfungen usw.“ (S. 94), während einige Naturheilkundler hofften, mit Hilfe des „neuen Staates“ ihre Position in der Medizin stärken und ausbauen zu können. So erklären sich zum Beispiel die biochemischen Versuche von Homöopathen im KZ Dachau. Die beteiligten Naturheilkundler erwähnt Angetter namentlich, die seinerzeit Auftrag gebenden „heute noch bekannten Pharmafirmen“ (S. 99) bleiben indes ungenannt. Schön wäre gewesen, etwas mehr darüber zu erfahren, ob und wie die beteiligten Naturmediziner ihr wissenschaftliches Erkenntnisinteresse definierten bzw. wie die „Versuchsergebnisse“ anschließend verwendet wurden.

Der Beitrag von Marion Hulverscheidt zur Malariaforschung im „Dritten Reich“ überspringt im besten Sinne die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, werden doch die fachfremden Leser/innen mit detailliertem und dabei verständlichem medizinischen Fachwissen versorgt. Im Mittelpunkt ihres Aufsatzes steht der Mediziner Claus Schilling. Mit Hilfe eines einflussreichen Netzwerkes konnte er – trotz einer gewissen Gegenwehr aus dem Kollegenkreis, der vor allem die wissenschaftliche Qualität seiner Arbeit anzweifelte – ab 1942 Menschenversuche im KZ Dachau durchführen. Bei seinen Immunisierungsversuchen an etwa 1.200 Insassen starben mindestens 300 Personen (S. 122). Als Schilling 1945 im Prozess gegen die Dachauer Wachmannschaften zum Tode verurteilt wurde, engagierte sich der ehemalige Kollegenkreis eher mäßig und trat nicht geschlossen für ihn ein. Sah doch die Tropenmedizin in Schilling die geeignete Person, der man den eigenen „Ballast der Kriegsjahre“ anhängen, sich selbst aber exkulpieren konnte (S. 126).

Alexander Neumann widmet sich dem bislang noch wenig erforschten Sanitätsdienst des Heeres, dem immer noch der Mythos anhaftet, „sauber“ geblieben zu sein. Dabei kümmerten sich die Mediziner des Heeressanitätsdienstes nicht allein um die Organisation und die Durchführung der Verwundetenversorgung, sie besaßen, wie Neumann schlüssig nachweist, Kenntnis von Menschenversuchen in Konzentrationslagern und leisteten auch Beihilfe zu diesen. Verschiedene Heeresärzte bemühten sich aktiv um eine Mitarbeit bei Humanexperimenten. Wenn ihre Versuche an KZ-Häftlingen indes zu vernachlässigen waren, lag dies, wie Neumann resümiert, nicht an „einer humanen Einstellung oder etwaigen ethischen Bedenken“ (S. 138), sondern vielmehr daran, dass „SS (und Luftwaffe) die Häftlinge für sich selbst reserviert sehen wollten“ (S. 139). Der Heeressanitätsdienst hielt sich daher mehr an sein eigenes „Menschenreservoir“, nämlich an die sowjetischen Kriegsgefangenen.

Die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische (ab 1941 kriminalbiologische) Forschungsstelle“ (RHF), ist der Gegenstand des Beitrags von Barbara Danckwortt. Die dem Reichsgesundheitsamt angegliederte „erbwissenschaftliche Forschungsstelle“ nahm sich im Zuge des Himmler-Erlasses zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ von 1938 der „rassenbiologischen“ Untersuchung und Einstufung von Sinti und Roma an. Mit Hilfe von erzwungenen Befragungen von „Zigeunern“, Vermessungen, sereologischen Untersuchungen usw. trug die RHF im Laufe der Jahre eine erhebliche Datenmenge zusammen. Diese mündete schließlich in so genannten „Rassegutachten“, die die Grundlage für die Sterilisation, Verhaftung, Deportation und Ermordung tausender Menschen bildete.

Angelika Uhlmann beschäftigt sich mit der medizinischen Fakultät der Reichsuniverstität Straßburg und deren Versuchen an Häftlingen im nahe gelegenen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. Ziel der im November 1941 gegründeten „Kampfuniversität“ war die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses, der in den deutsch besetzten Gebieten Führungsfunktionen übernehmen sollte. Dabei wurde die medizinische Fakultät mit ihrem Zentral-Medizinischen Forschungsinstitut quasi zum „Vorreiter auf dem Gebiet der indisziplinären Zusammenarbeit“ (S. 174). Die Verknüpfung von praktischer Forschung und wissenschaftlicher Lehre führte u.a. zu Impfstoffversuchen gegen Fleckfieber an den Häftlingen im nahen Konzentrationslager. Der Aufbau einer „jüdischen“ Schädel- und Skelettsammlung bildete einen weiteren Schwerpunkt der „Forschungsarbeit“ der Medizinischen Fakultät. Weil diese Machenschaften deutscher Wissenschaftler Verhandlungsgegenstand in verschiedenen Prozessen der Nachkriegszeit waren, sind sie vergleichsweise gut erforscht. Uhlmanns Ankündigung, sich auch mit der „bis jetzt wenig diskutierten Frage der historischen Mitverantwortung der nicht direkt an den Menschenversuchen beteiligten Fakultätsmitglieder“ (S. 165) zu beschäftigen, räumt sie leider nur zwei Seiten ihres Beitrages ein. Sie kommt zu dem Schluss, dass von „einem Gefühl der Mitverantwortung oder gar Mitschuld […] nach dem Krieg nichts zu bemerken“ (S. 185) gewesen sei. Nur zwei ehemalige Institutsangehörige räumten ihr nachträgliches Bedauern darüber ein, dass sie sich zur „Kampfuniversität“ haben verpflichten lassen. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, inwieweit die Fakultäts- bzw. Universitätsöffentlichkeit Kenntnis von den sprichwörtlichen Leichen im Keller des Anatomischen Instituts der Straßburger Medizinischen Fakultät besessen hat.

Norman Pohl nimmt sich in seinem Beitrag der „Preußischen Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene“ (WaBoLu) an. Diese 1901 gegründete Landesbehörde war neben der Untersuchung und Beurteilung der Luftverunreinigung durch Industriebetriebe, der öffentlichen Müllentsorgung und der Prüfung von Mitteln zur Schädlingsbekämpfung vor allem für Wasseranalysen zuständig. Nach 1933 dehnte sich der Aufgabenbereich der 1942 zur „Reichsanstalt für Wasser- und Luftgüte“ avancierten Einrichtung auf die Gelände von (projektierten) Arbeits- und Konzentrationslagern aus. Wissenschaftler der Anstalt untersuchten auch die Brunnen des KZ Auschwitz. Pohl weist eindrücklich darauf hin, dass die beauftragten Wissenschaftler ihre gutachterliche Tätigkeit in keinen weiteren Sinnzusammenhang stellten. Leider haftet diesem informativem Beitrag ein kleines Manko an. Die Behauptung, dass sogar die „Jüdische Selbstverwaltung“ von Theresienstadt als „formale Auftraggeberin“ (S. 188) der WaBoLu auftrat – ein Hinweis, der entsprechende Neugier weckt –, wird durch keinen eindeutigen Nachweis belegt bzw. relativiert (S. 205ff.).

Der Sammelband profitiert ohne Zweifel von seinem Ansatz, Aspekte sowohl der Medizingeschichte als auch der Konzentrationslagerforschung miteinander zu verbinden. Damit werden neue Forschungsperspektiven eröffnet, die den spektakulärsten Aspekt der „Medizin im Konzentrationslager“, die Menschenversuche, nicht vernachlässigt. Zugleich werden jene Institutionen, Personen und Netzwerke zum Teil erstmals in den Blick genommen, die den Weg zu diesen Menschenversuchen erst möglich machten.

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