Titel
Victor Gruen. From Urban Shop to New City


Autor(en)
Wall, Alex
Erschienen
Barcelona 2005: Actar Editorial
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 44,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wencke Haferkorn, Institut für Europäische Urbanistik, Bauhaus-Universität Weimar

Wo liegen die Ursprünge unserer heutigen Baukultur des Konsums? Wie lassen sich ‚Mutter- und Vaterschaft’ von Shopping-Centern, dem heutigen Erfolgsmodell des global agierenden Einzelhandels, rekonstruieren? Alex Wall, Professor für Städtebau und Entwerfen an der TH Karlsruhe, spannt zu jenen Fragen ein Geschichtsfenster in Raum und Zeit sowie zu einer hierfür entscheidenden Person auf. Nordamerika von 1950 bis 1970: Wir sehen darin den alltäglichen Massenkonsum, den Triumph des Autos, den ungeheuren Landfraß, die aufkommenden Shopping-Center als Inbegriff der suburbanen Revolution, den Kollaps der Innenstädte, die mühevollen Ansätze des Urban Renewal und damit den Beginn der heute noch konfliktreichen Dialektik von downtown und suburbia. Diese neuartige Raum-Zeit des nachkriegszeitlichen American way of life wusste ein Heimatgenosse von Arnold Schwarzenegger maßgeblich mitzugestalten: der österreichische Architekt und Kabarettist Victor Gruen (1903-1980).

Zu einigen bereits erschienenen Monografien von und über Victor Gruen, geboren als Viktor Grünbaum, gesellt sich nun die Publikation von Alex Wall, der zehn Jahre seiner Forschung unter anderem dieser charismatischen und seinerzeit überaus populären Persönlichkeit widmete.1 Wall zeichnet den Werdegang des europäischen Architekten nach, der in den 1920er-Jahren in Wien als „Ladengestalter“ begann, in den 1930er-Jahren aufgrund jüdischer Abstammung in die USA flüchtete, dort als „Pionier der Shopping-Center“ seit 1950 maßgeblich die nordamerikanische Siedlungsentwicklung beeinflusste, später gefeiert wurde als „Retter der Downtowns“ und am Ende seines Lebens den „Architekten als Umweltgestalter“ propagierte. Wenn auch Gruen kein großer Formgeber war wie Le Corbusier oder Louis I. Kahn und in der eigenen Zunft zunehmend in Vergessenheit gerät, so ist es sein größter Verdienst, dass die heutige Handelsbaukunst als ein transatlantisches Vexierspiel fortlebt und viele Motive vom „Palladio der Handelsarchitektur“ noch heute ihre Anwendung finden (sollten). Diese Erkenntnisse werden im aufschlussreichen Kompendium von Alex Wall veranschaulicht, der damit einen erfreulichen Beitrag zu den wenigen Biografien über Handelsbau-Architekten leistet.

Das Werkrepertoire von Gruen verdeutlicht Alex Wall bereits im Buchtitel und in einer methodisch interessanten Lesart: Beginnend bei den ‚small projects’ im Ladenbau leitet er zu Gruens ‚big ideas’ über und erläutert dann dessen Projekte, die das gesamtstädtische ‚masterplanning’ umfassen. Diese verständnisförderliche Lesart weckt Reminiszenzen an „S,M,L,XL“, einer Architektenbibel von Rem Koolhaas.2 Die Inhaltsstruktur der Monografie gleicht thematisch vier „Whoppern und einem Brownie“: Zwischen den Sandwichlagen wie Gruens Leitmotiven und allgemeinen gesellschaftspolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Tendenzen werden 30 bedeutende Projekte in aufsteigendem Maßstab umfassend erläutert. Mit einem persönlichen Statement von Alex Wall zur zukünftigen Planungskultur findet das Buch seinen Abschluss.

Im ersten Kapitel „Commerce is the Engine of Urbanity“ werden Gruens Anfänge im Ladenbau in Wien, New York und Kalifornien dokumentiert. Bereits in seiner Heimatstadt Wien gelangt der junge Gruen in den frühen 1920er-Jahren zu der Erkenntnis: „Handel ist der Motor der Urbanität“. Schnell stellen sich die beruflichen Weichen in Richtung Handelsarchitektur, begünstigt durch das bourgeoise Familienumfeld, die Wiener Stadtkultur, seine Vorliebe für das Werk des Architekten Adolf Loos (1870-1932) und sein Mitwirken im politischen Kabarett. Zweifelsohne hat das Theatermilieu didaktischen und inspirierenden Einfluss auf Gruen, dessen choreografische Kenntnisse später der Projektierung von Shops und Stores in Nordamerika zugute kommen. Alex Wall veranschaulicht, wie und warum Gruen die Straße und die Schaufenster als Bühnen des städtischen Lebens (urban stages) interpretiert. Dank seines gewitzten Ideenreichtums weiß er Filialketten wie Barton’s oder Grayson’s Victory Stores verkaufsförderlich zu gestalten: als „Peepshows“ der Ware oder großformatige Passepartouts in das ätherische Innenleben eines Konsumparadieses.

Im zweiten Kapitel thematisiert Wall die Ursachen und Folgen der landesweiten „suburbanen Revolution“ in den USA nach 1945.3 Gruen als „Strömungstechniker“ von Menschen, Autos und Waren erkennt darin die Chance für eine neue Bautypologie des Konsums: dem Shopping-Center. Ihm zufolge vermag eine bewusst geplante Ansammlung von Einzelhandelsgeschäften, Gastronomie und Dienstleistung das zwischenmenschliche Leben in den gesichtslosen, endlos repetitiven Siedlungsclustern der Eigenheime und Highways zu rezentrieren. Als aggressiver Promoter sieht Gruen im Shopping-Center ein Experiment des öffentlichen Lebens. Der endgültige Durchbruch dieses Bautyps gelingt ihm mit dem Northland Shopping-Center bei Detroit (1951) und dem Southdale Shopping-Center bei Minneapolis (1956), letzteres das erste überdachte und vollklimatisierte Center der Welt.4 Anhand weiterer Bauten verdeutlicht Wall, wie Gruen das Shopping-Center als nordamerikanisches Erfolgsmodell wegweisend begründet und damit zu Recht als der herausragende Pionier der Shopping-Center in die Geschichte eingeht. Mit seinen baulichen Innovationen wie dem „Knochenprinzip“, der „vollklimatisierten Einhausung“ und seiner „Schaufensterphilosophie“ weiß er das Center als Bühne des öffentlichen Lebens anspruchsvoll zu orchestrieren. Die Konsumtempel versprechen traumhafte Rendite: Mit der einsetzenden Inflation von stereotypen Nachahmungen wird das Center zu einer von Asphaltglacis umgebenen big box banalisiert.

Alex Wall kommt im dritten anspruchsvollen Kapitel „The Car and the City“ auf die räumlichen Folgen und Chancen zu sprechen, seit die „nation on wheels“ unterwegs ist: Mittelschichten der Bevölkerung und Kaufkraft kehren den amerikanischen Downtowns den Rücken zu, es kommt zu landesweiten Trading-Down-Prozessen und zur Verödung der Innenstädte. Zu deren Revitalisierung lässt Gruen nun riesige Center-Komplexe in die Innenstadt „einlaufen“. Wall pointiert humorvoll: Southdale goes to Town. Gekonnt tanzt Gruen auf zwei Hochzeiten. Einerseits perfektioniert und verfeinert er die Center-Konzepte auf der grünen Wiese, andererseits will auch er zur Rettung und zum Revival der Innenstädte beitragen und wartet mit einem brachialen Stadtumbau-Vorschlag auf: Eine mehrspurig ausgebaute Ringstraße mit Parkleitsystem und angelagertem Kranz von mehrgeschossigen Parkhäusern soll autofrei gehaltene, fußgängerfreundliche Stadtkerne einkesseln. In all seinen Projekten heißt das Zauberwort ‚access’.

Das vierte Kapitel widmet Alex Wall den weniger bekannten Visionen von Gruen. In Zeiten der Metabolisten (1960) denkt auch der gefeierte Place-Maker über gesamtstädtische Alternativen zum „urban sprawl“ nach.5 Seine Theorie einer „Cellular Metropolis“ beinhaltet ein Modell für eine netzwerkorientierte, multizentrale Stadtregion. Er nimmt damit die heutigen Herausforderungen der Planer vorweg und sieht sie als verantwortungsvolle Umweltgestalter. Gruen gründet 1968 die „Victor Gruen Foundation for Environmental Planning“, das erste Institut für umweltgerechtes Planen und Bauen in Nordamerika. Im gleichen Jahr kehrt er nach Wien zurück und vollendet 1975 sein legendäres Buch „Die lebenswerte Stadt“.

Victor Gruen hatte Humor – Alex Wall auch. Ihm gelingt eine sympathische Biographie über den Place-Maker, die sein Lebenswerk umfassend würdigt. Gern folgt man dieser Zeitreise mit der methodisch interessanten Erzählperspektive, ansprechenden Buchgestaltung und dem suggestiven Bildmaterial. Bei der allzu offensichtlichen Emphatie des Autors für Victor Gruen vermisst man freilich stellenweise eine kritische Distanz. Private Schlüsselerlebnisse des Architekten lässt Alex Wall leider unkommentiert oder ganz fort. So verschwindet in seiner Erzählung die zweite Ehefrau und Projektpartnerin Elsie Krummeck spurlos, und auch Kinder scheint es keine gegeben zu haben. Dennoch zeichnet sich die Monografie durch überraschende Gedankengänge und scharfsinnige Erkenntnisse aus: Das Shopping-Center sei keine reine amerikanische Erfindung oder gar periphere „Ausgeburt“ gewesen, sondern stelle in der allgemeinen Historiografie/Genealogie großflächiger Handelsbauten eine logische Konsequenz dar. Wall zufolge sind diese Center in ihrer genuinen Form komplexe Bauten, die weitreichende planerische Kenntnisse von den Wirkkräften der Stadt, des Handels und der Urbanität voraussetzen.

Alex Wall nutzt die Biografie von Victor Gruen für ein abschließendes Plädoyer einer neuen Stadtbaukunst, die die künstlerisch ambitionierte Architektur und die abstrakten Raumwissenschaften miteinander versöhnen soll. Diesen Anspruch verkörperte Victor Gruen par excellence. Walls abschließender Wunsch für ein neues ,programming’ lautet daher: „an architecture that is ,urban’, and a new planning that is made legible by design“ (S. 244). So großartig wie dieser finale Satz ist das gesamte Buch!

Anmerkungen:
1 Vgl. Hardwick, Jeffrey M., Mall-Maker: Victor Gruen, Architect of an American Dream, Philadelphia, Pa. 2004. Gruen, Victor, Die lebenswerte Stadt: Vision eines Umweltplaners, Wien 1975; ders., Shopping Towns, USA: The Planning of Shopping Centers, New York 1960.
2 Koolhaas, Rem; Mau, Bruce, Small, Medium, Large, Extra-Large, Köln 1997.
3 Das Shopping-Center als Inbegriff der suburbanen Revolution verdankt seinen Erfolg maßgeblich vier föderalen Gesetzen der USA: dem Housing Act (1934), dem Veterans Act (1944), dem Federal-Aid Highway Act (1956) sowie den Abschreibungsbegünstigungen von Handelsimmobilien seit 1954.
4 Mit der Country Club Plaza in Kansas City entstand 1922 das erste Shopping-Center, entworfen von E.B. Delk und George Kessler.
5 Der Planungsbegriff „urban sprawl“ bezeichnet zersiedelte Raumflächen, die im Zuge der zumeist unkontrollierten Ausdehnung von Siedlungsclustern wie Wohnen, Arbeiten etc. entstehen.

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