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Titel
Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ/DDR 1945 bis 1953


Autor(en)
Ohlerich, Gregor
Reihe
Probleme der Dichtung 36
Erschienen
Heidelberg 2005: 25fps-filmproduction
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Barck, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Verfasser dieser ambitionierten Dissertationsschrift setzt sich zum Ziel, Literatur nicht mehr primär an einer politisch-ideologischen oder individuell-moralischen Entwicklung zu messen, sondern als einen unabhängigen kulturellen Raum mit eigenen Funktionsregeln zu analysieren (S. 12). Sein dekonstruktivistischer Ansatz stützt sich im „Modell des literarischen Feldes” auf eine Kombination der Konzepte von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. Das Interpretament des literarischen Feldes in Bezug auf SBZ/DDR-Literatur ist bereits von Ursula Heukenkamp 1 Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka 2 sowie Ute Wölfel 3 praktiziert worden. Im Unterschied zu diesen Arbeiten jedoch zeichnet sich die vorliegende durch eine auffallende literaturhistorische Bescheidenheit und empirische Dürftigkeit aus, die mir eine Folge der überdimensionierten Theorie-Reflexionen zu sein scheint und die praktischen Schwierigkeiten signalisiert, das theoretischen Konstrukt auch tatsächlich umzusetzen.

Für das literarische Feld wird für die Phase 1945-1948 die Herausbildung des „autonomen” und „heteronomen” Pols untersucht. Am „autonomen” Pol hätten sich die im Sinne der bürgerlichen Tradition der Weimarer Republik zugehörigen Autor/innen gesammelt. Als habituell bürgerliche Intellektuelle unterschiedlicher politischer Couleur bestanden Autoren wie beispielsweise Ricarda Huch, Ernst Wiechert und Bernhard Kellermann auf künstlerischer Autonomie. Am Beispiel Johannes R. Bechers und des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, der bis 1948 noch eine überparteiliche Politik betreiben konnte, wird gezeigt, wie der Dichter innerlich zerrissen worden sei zwischen dem Festhalten an Autonomie und politischer Indienstnahme. Die Vertreter des „heteronomen” Pols sieht Ohlerich in „gewollter Nähe und Offenheit zum politischen Feld” (S. 169). Die größte Gruppe dieser „marxistisch orientierten Intellektuellen”, die auch mit Willi Bredel als „werktätige Intelligenz” bezeichnet werden (S. 171), kam aus dem Moskauer Exil. Hierher gehörte Becher natürlich genau so, und es zeigt sich die Problematik des schematischen Verfahrens der Pol-Zuordnung. Auch im Falle des Kulturbundes und des Aufbau-Verlags zeigt sich, dass sich die Positionen eher überlagerten und das Pol-Modell die literaturhistorische Komplexität nicht angemessen reflektiert. Wenn in diesem Abschnitt der 1947er Schriftstellerkongress als „großer Show down” zwischen den Vertretern der beiden Pole, als „letzter Kampfplatz um die symbolische Vorherrschaft im literarischen Feld” (S. 190) charakterisiert wird, liegt zudem meines Erachtens eine deutliche Verzeichnung des noch teilweise offenen Ausgangs dieses Ereignisses vor.

Für die zweite Phase 1948-1951 kommt als Novum die Herausbildung des „häretischen Pols” hinzu. Mit der Rückkehr der West-Emigranten/innen wie Bertold Brecht, Ernst Bloch, Anna Seghers und Stefan Hermlin sei es zu einer „Mehrzahl von poetologischen Ansichten” (S. 204) gekommen. Durch „interne Ausdifferenzierungsvorgänge” habe sich der „häretische Pol” konstituiert, der für „eine neue, sozialistische Autonomie der Literatur stehe, die sich über künstlerisch-ästhetische Mittel definierte anstatt über politische Aussagen” (S. 205). Kulturpolitisch lagen seine Vertreter/innen wie diejenigen des heteronomen Pols auf der Linie der SED, gerieten jedoch immer wieder in Konflikte, „da sie stets den emanzipatorischen Charakter, das utopische Potential von Literatur zu stärken suchten.” In dieser „Utopiefalle” (ein von Thomas Rosenlöcher übernommener Begriff, S. 215) sieht der Verfasser die Bindungskraft durch das sozialistische Projekt begründet, es sei zu einer „strukturellen Komplizenschaft zwischen dem literarischen und dem politischen Feld” (S. 217) gekommen.

Anhand von drei Autoren sollen exemplarisch unterschiedliche Positionen am „häretischen Pol” differenziert werden: Bertolt Brecht, Peter Huchel und die von ihm geleitete Zeitschrift „Sinn und Form”, sowie Anna Seghers. Während die Beispiele Brecht (Konzept radikaler Aufklärung, Vorstellung einer realistischen Ästhetik, Traditionsauffassung) und Seghers, deren Zugehörigkeit zum „häretischen Pol“ er in ihrem „energisch vertretenen Anspruch auf ein eigenständiges Realismuskonzept” (S. 241) begründet sieht, innerhalb des Konstrukts noch einigermaßen stimmig entwickelt werden, wirft der Huchel-Teil Fragen auf. Es beginnt mit der Zuordnung: Huchel war ja kein West-Emigrant sondern kommt aus der Tradition der „inneren Emigration”, was für Huchels Literaturverständnis und sein Programm einer literarischen Zeitschrift von europäisch-weltliterarischem Rang ausschlaggebend war. Huchel war kein SED-Parteimitglied, und er verstand sich wohl auch nicht unbedingt als Marxist. Die von ihm der Zeitschrift zugrunde gelegte „Ästhetik der Vieldeutigkeit” (S. 229) basierte auf entschiedenem Antifaschismus und einem Aufklärungs- und Erziehungskonzept, wie es auch von der SED-Literaturpolitik vertreten wurde. Die Zuordnung zum „häretischen Pol” in Gänze überzeugt nicht, denn ähnlich wie bei Anna Seghers wäre eine Bindung an den „heteronomen Pol” ebenso schlüssig.

Ambivalenzen zeigen sich auch bei näherer Betrachtung der von Huchel seinerzeit geleiteten Zeitschrift „Sinn und Form“. Einerseits hatte sie sich im Rahmen der literaturpolitischen, stalinistisch geprägten Linie zu bewegen, das heißt sie hatte mancherlei Zugeständnisse zu machen, wie etwa das Stalin-Sonderheft 1953, auf das Ohlerich gar nicht eingeht. Gleichzeitig sorgt sie alleine mit den 14 Beiträgen von Ernst Bloch in dieser Phase für das Bekanntwerden einer utopischen „Denkwelt”, die in philosophischer Argumentation und Erbe-Orientierung auf das „Unabgegoltene” quer zur offiziellen Ideologie stand. Das gilt ebenso für die Abdrucke von Texten Theodor W. Adornos, Max Horckheimers wie Walter Benjamins und Charles Baudelaires. Zweifellos legte Huchel seinem Programm einen weiten Literaturbegriff zugrunde, doch in seinem Bemühen, den „häretischen” Ort der Zeitschrift zu beweisen, vergallopiert sich der Verfasser schon mal: Demnach enthalten die Briefe Romain Rollands an Louis Gillet aus der Zeit der Jahrhundertwende (!) „diverse Anspielungen auf die kulturpolitischen Debatten der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre in der DDR” (S. 239). Gemeint ist wohl, dass man solche Anspielungen hätte herauslesen können, ob dies aber bei der Auswahl durch Huchel eine Rolle gespielt hat, bleibt völlig spekulativ.

Die dritte Phase von 1950 bis 1953 wird unter der Überschrift „Inthronisierung des sozialistischen Realismus’“ abgehandelt. Nach Erläuterungen zur zentralen Rolle der Realismustheorie von Georg Lukács, die Ohlerich (zu generalisierend) als „philosophische Grundlage des ‚sozialistischen Realismus’ in der SBZ/DDR” (S. 260) ansieht, erscheint als Ergebnis von Auseinandersetzungen die Verpflichtung der Autoren auf “den ‚sozialistischen Realismus’ sowjetischer Prägung, dessen Hauptaspekt ein sozialer Optimismus” (S. 272) gewesen sei. An drei Schriftstellern soll gezeigt werden, wie diese Autoren des „heteronomen Pols” mit der Doktrin umgegangen seien. Willi Bredel habe sich als Arbeiterschriftsteller insbesondere das Konzept der Volkstümlichkeit zu Eigen gemacht und Eduard Claudius sei im Garbe-Stoff mit der Figur des „positiven Helden” um Differenzierung bemüht gewesen. Bei Bodo Uhse sieht Ohlerich im „Konzept der eingreifenden Literatur” eine individuelle Anwendung der Doktrin. Seinem Roman “Die Patrioten” (1954), der zwar ein Beispiel für die Volksfrontliteratur der 1950er-Jahre ist, nicht aber für die „Aufbau-Literatur” (S. 285) dieser Phase, liege eine Hommage an Stalin zugrunde und er imaginiere ein „besseres, kämpfendes Deutschland” (S. 286). Das Scheitern Uhses am zweiten Band des Romans, führt Ohlerich auf Diffamierungen „ihm [auch und gerade als Jude] und seinen Texten gegenüber” (S. 289) sowie auf die Erschütterungen durch den XX. Parteitag der KPdSU zurück. Uhse, der kein Jude war, ist ein Beispiel für gebrochene Autoren aus der Exilgeneration, die sich als sensible Künstlernaturen im Konflikt mit den Forderungen der Partei und ihren eigenen Möglichkeiten im Schreiben und Leben zerrieben.

Am Ende resümiert Ohlerich, dass seine konstruktivistische Sichtweise ihm eine „Multiperspektivität” des wissenschaftlichen Ansatzes ermöglicht habe, der „jenseits der gängigen Deutungsmuster von Staats- und Stasiliteratur versus kritisch-oppositionellem Schreiben” (S. 296) fungiere. Dem kann zugestimmt werden, wenngleich die Ausführungen in vielem literaturhistorisch nicht überzeugen.

1 Heukenkamp, Ursula, Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, Berlin 1996.
2 Dahlke, Birgit; Langermann, Martina; Taterka,Thomas, LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart Weimar 2000.
3 Wölfel, Ute, Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR, Würzburg 2005.

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