J. Fohrmann (Hrsg.): Gelehrte Kommunikation

Cover
Titel
Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Fohrmann, Jürgen
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
566 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Stöber, Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft, Universität Bamberg

Der Sammelband präsentiert Ergebnisse eines kulturwissenschaftlichen Projekts der DFG und des Landes NRW: „Medien und kulturelle Kommunikation“. Beantwortet werden soll, „ob es möglich ist, das ‚So-Sein’ wissenschaftlicher Texte konstitutiv auf die mediale Situation, die von ihr abhängigen gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse, die mit ihnen verbundenen wissenschaftlichen Kommunikationskulturen und – als Schnittstelle all dieser Parameter – auf das Archiv und die spezifische Arbeitsweise zu beziehen“ (S. 9). In den Band wurde offensichtlich viel Fleiß gesteckt, überdies ist er ansprechend illustriert und gediegen gedruckt, widmet sich einem interessanten Thema und formuliert durchaus richtige Einschätzungen; wenn nicht theoretisiert wird, ist er sogar angenehm zu lesen. Doch die Beliebigkeit des Kommunikations- und Medienbegriffs, manch krasses Fehlurteil und die Missachtung einiger wissenschaftlicher Grundregeln schmälern den Gewinn.

Das erste Kapitel von Leander Scholz und Andrea Schütte behandelt das humanistische Kommunikationsnetzwerk; das zweite von Hedwig Pompe widmet sich dem Zusammenhang von Zeitung und gelehrter Kommunikation in der Aufklärung; Jürgen Fohrmann steuert den dritten Teil zur Mediennutzung von (realen und sprachlichen) Monumenten im 19. Jahrhundert bei; der vierte stammt von Erhard Schüttpelz und behandelt Medien „In Krieg und Frieden (1943-1960)“. Drei der vier Kapitel behandeln „Kommunikations-Wissenschaften“ im weitesten Sinne: Rhetorik im ersten, frühe Zeitungskunde im zweiten und Kybernetik/Informationstheorie sowie Linguistik im letzten. Nur das dritte Kapitel wählt mit der Betrachtung von Philosophie und Geschichtswissenschaft einen anderen Bezugsrahmen. Damit steht sich der Band erkenntnistheoretisch in drei von vier Fällen selbst im Weg: Wenn die expliziten Äußerungen der jeweiligen Wissenschaften zum Kommunikationsgebrauch nachweisen sollen, dass die technischen Neuerungen die Kommunikationsmodi veränderten, hätte man keine Wissenschaften auswählen dürfen, die qua Amt eine unterschiedliche Perspektive einnehmen. Denn mit der Auswahl werden schon a priori unterschiedliche Ergebnisse festgelegt. Anspruchsvoller wäre es gewesen, die impliziten Kommunikationsmodi zu untersuchen. Oder man hätte es mit der Analyse des Diskurses einer einzigen Wissenschaft bewenden lassen.

Die chronologische Abhandlung deckt 600 Jahre ab, von Petrarca über Hegel und Dilthey bis Norbert Wiener. Abgesehen vom letzten Kapitel enthält jedes Kapitel mindestens einen Exkurs: Der im ersten über die Nase ist amüsant, aber randständig; der im zweiten über die „Zeitung in der rhetorischen Konfiguration der Historia“ ist so zentral, dass die Bezeichnung Exkurs etwas wundert; die beiden des dritten haben mit Wissenschaft wenig zu tun, sie handeln von Napoleon und anderen „Personen von Rang“.

Die Grundthese des Sammelbands folgt dem Diktum McLuhans: „The medium is the message.“ Mit einem theoretischen Apparat, der von Harold D. Innis über Marshall McLuhan, Elisabeth Eisenstein, Michael Giesecke, Niklas Luhmann bis Michel Foucault reicht, soll die Aussage belegt werden, dass die technische Verfasstheit des medialen Kommunikationssystems der Kommunikation ganz maßgeblich den Stempel aufdrücke. Die Grundaussage des Buches ist nicht falsch, aber auch nicht zu verabsolutieren. Allerdings müsste man, um ansatzweise die eingangs genannten fünf Fragen beantworten zu können, definieren, was unter Medien verstanden wird. Die hier offerierte Medien-Beliebigkeit reicht von Einzelmedien wie dem Film bis zu basalen Kulturtechniken wie Schrift und Sprache, vom Analogon zum Begriff Kommunikationstechnik bis hin zu – wenn ich Jürgen Fohrmann richtig verstanden habe – dem „Hauch des Geistes, [...] pneumatische Supposition“ (S. 462, vgl. S. 20).

Nach dem schwer verdaulichen theoretischen Auftakt beginnt das humanistische Kapitel mit einer Fallstudie über Petrarca, an die sich eine weitere zu Erasmus anschließt. Diese Vorgehensweise hätte Potenzial besessen, wenn man Petrarca als Nullmessung für die humanistische Kommunikationskultur vor Gutenberg begriffen hätte. Zwar behaupten Leander Scholz und Andrea Schütte an mehreren Stellen den elementaren Einfluss der Buchdruckerkunst, doch Erasmus’ Rhetorik-Buch „Copia“ macht deutlich, dass zwischen der Kommunikationskultur eines Petrarca, Cusanus oder Erasmus kaum ein Unterschied auszumachen ist. Scholz bezieht sich auf Elisabeth Eisenstein – zu Recht. Allerdings hatte Eisenstein genau das Gegenteil der hier vertretenen These herausgearbeitet: Nämlich dass der Humanismus das Entscheidende und der Buchdruck nur sein Multiplikationsfaktor war. 1 Das erste Kapitel konterkariert also die eigene These mit schlagenden Beispielen. Wenn man Giesecke aufmerksamer gelesen hätte, wäre aufgefallen: Die Buchdruckkultur war (zunächst) die Apotheose der Schreibkultur des ausgehenden Mittelalters. 2

Das zweite Kapitel fasst die frühe zeitungstheoretische Literatur im Großen und Ganzen ordentlich zusammen. Allerdings werden kaum neue Texte ausgegraben: Die zentralen Texte wurden von Kurth 3 und Hagelweide 4 schon vor Jahrzehnten ediert. Etliches wird zweiter Hand zitiert und zuhauf werden die Säulenheiligen dieses früh- bis aufklärerischen Diskurses bemüht. Allerdings, und das ist ein schwerwiegendes handwerkliches Versäumnis, erfährt man kaum Biografisches über die Autoren. Wie so etwas zu halten ist, haben unlängst Meyen und Löblich demonstriert. 5

Über merkwürdige Fehlurteile stolpert man en passant: Die Intelligenzblätter werden zur „relativ homogenen“ Zeitungsgattung erklärt (S. 166). Fohrmann sieht in ihnen eine „Engführung von Intelligenz, Geldströmen und Zeitschrift“ (S. 15). Die maßgeblichen Arbeiten von Böning u.a. haben die Vielfalt dieser Gattung aufgezeigt. 6 Und dass Intelligenzblätter nichts mit Intelligenz zu tun hatten, vermittelt jede kommunikationswissenschaftliche Einführung. Andere problematische Urteile ließen sich anführen.

Zum dritten Kapitel mögen sich andere kompetenter äußern; im Nachhinein fragt sich der Rezensent allerdings, warum ausgerechnet mit Leopold von Ranke die Sprach-Monumente exemplifiziert wurden, statt beispielsweise mit Theodor Mommsen. Im vierten Kapitel wird nicht nur die schlichte These Kittlers vertreten, der Krieg sei der Vater aller wesentlichen Medienrevolutionen, sondern noch gesteigert: Der Zweite Weltkrieg sei zudem der Vater der modernen Kommunikationswissenschaft (S. 493, 496). Wenn Kittler recht hätte: Warum beginnt dann dieser Band richtiger Weise mit Gutenberg? Und was ist mit den frühen Wurzeln der Kommunikationswissenschaft in der Zwischenkriegszeit? Schüttpelz nennt ja selbst einige Namen (Lazarsfeld, Lewin u.a.). Die grundlegende Studie von Averbeck widerlegt den wissenschaftshistorischen Reduktionismus schlagend. 7 Zudem gelingt es Schüttpelz, Luhmanns Kommunikationsverständnis und das der Palo-Alto-Schule so miteinander zu verquicken, als meinten beide dasselbe (S. 504). Dabei sind gegensätzlichere Grundkonzeptionen kaum vorstellbar.

Man könnte abschließend einige der interessanten Zitate, die das Buch zusammenbindet, gegen das Unterfangen selbst verwenden: Friedrich Nietzsche: „Die monumentale Historie täuscht durch Analogien.“ (S. 411); Wilhelm Dilthey: „Daher sind die soziologischen und geschichtsphilosophischen Theorien falsch, welche in der Darstellung des Singularen einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktionen erblicken.“ (S. 439); Friedrich Meinecke: „Erst muß der Weg der Kausalitäten unbeirrt bis zum letzten erreichbaren Punkt gegangen werden, erst dann darf, ja muß man zu jenen überkausalen Mitteln greifen, um dem aus der Tiefe wirkenden Bedürfnisse nach Lebenswerten zu genügen.“ (S. 454). Das wäre in der Verdichtung sicher zu scharf, beweist aber, dass mit zusammengetragenen Zitaten alles zu belegen ist; zudem ist vielleicht nicht auszuschließen, dass ein Satz von Clemens von Brentano, der sich ebenfalls zitiert findet (S. 402), gegen den Rezensenten zu wenden ist: „Die Philister [...] rezensieren Dinge, die sie nicht verstehn“. Zugegeben: Das letzte Satzfragment des Textes hat der Rezensent in der Tat nicht verstanden: „Tischleindeckdich“ (S. 551). Was wollte Erhard Schüttpelz damit sagen?

Anmerkungen:
1 Eisenstein, Elisabeth L., The printing press as an agent of change. Communications and cultural transformations in early-modern Europe, Cambridge 1979.
2 Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1998.
3 Kurth, Karl (Hg.), Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung, Brünn 1944.
4 Hagelweide, Gert (Hg.), Kaspar Stielers Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, Bremen 1969.
5 Meyen, Michael; Löblich, Maria, Klassiker der Kommunikationswissenschaft. Fach- und Theoriegeschichte in Deutschland, Konstanz 2006.
6 Böning, Holger: Das Intelligenzblatt, in: Fischer, Ernst; Haefs, Wilhelm; Mix, York-Gothart (Hgg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800, München 1999, S. 89-104.
7 Averbeck, Stefanie, Kommunikation als Prozeß. Soziologische Perspektiven in der Zeitungswissenschaft 1927-1934, Münster 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension