N. Roemer: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany

Titel
Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith


Autor(en)
Roemer, Nils H.
Reihe
Studies in German Jewish Cultural History and Literature
Erschienen
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 45,98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christhard Hoffmann, Historisches Institut, Universität Bergen, Norwegen

Die Geschichte der jüdischen Geschichtskultur im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat sich in den letzten 15 Jahren als ein besonders lebendiges und fruchtbares Forschungsfeld erwiesen. Präziser als auf anderen Gebieten lassen sich der Wandel und die Vielfalt jüdischer Identitäten in der Neuzeit an den jeweiligen Konstruktionen und Deutungen der eigenen Vergangenheit ablesen. Akkulturation und Integration der Juden in Deutschland gingen einher mit der Entwicklung eines bürgerlich-emanzipatorischen Geschichtsbildes, das die lebensweltlichen Veränderungen als sinnvoll erscheinen ließ, sie legitimierte und dadurch weiter vorantrieb. Als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann – bedingt durch die verzögerte Emanzipation, die neu erstarkte Judenfeindschaft und eine fortschreitende Säkularisierung – das Bewusstsein einer Krise der Moderne unter den deutschen Juden verstärkte, führte dies zu einer „Rückkehr zur Geschichte“, das heißt zu einer Akzentuierung von solchen Geschichtsbildern, die sich zur Selbstbehauptung jüdischer Identität eigneten. Angesichts der zentralen Bedeutung von „Geschichte“ als Medium einer jüdischen Minderheitenkultur in Deutschland ist das Thema – weit über den engeren Bereich der Wissenschaftsgeschichte oder der Judaistik hinaus – von allgemeinem Interesse.

Nils Roemers Studie, die auf seiner bei Yosef H. Yerushalmi im Jahre 2000 an der Columbia University abgeschlossenen Dissertation basiert, nähert sich der jüdischen Geschichtskultur aus einem speziellen Blickwinkel. Sie untersucht erstmals die Popularisierungs- und Rezeptionsgeschichte der Wissenschaft des Judentums und fragt danach, inwieweit ihre Werke ein breiteres Publikum gefunden und zur Ausprägung einer spezifischen Diasporakultur beigetragen haben. In 12 kurzen, chronologisch geordneten Kapiteln, die die Zeit von der Aufklärung bis zum Fin de siècle umfassen, wird die Entwicklung der jüdischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert einmal nicht auf die großen Namen (Zunz, Jost, Geiger, Graetz) reduziert, sondern aus dem Blickwinkel der sich herausbildenden jüdischen Öffentlichkeit dargestellt. Dabei geht es nicht nur um die inhaltliche Rezeption, das heißt um die sich zunehmend in verschiedene konfessionelle Richtungen (reform, neo-othodox, konservativ) ausdifferenzierenden Wertungsmuster und ideologischen Positionen, sondern auch um die organisatorische Basis, das heißt um die Infrastruktur der jüdischen Geschichtskultur in Deutschland: die Zeitschriften, Lese- und Geschichtsvereine, Buchgemeinschaften, Leihbibliotheken, Rabbinerseminare und Schulen. Besonders am Beispiel des 1855 von Ludwig Philippson gegründeten „Instituts zur Förderung der israelitischen Literatur“, einem bis 1873 existierenden Buchklub, dessen Mitgliederzahl zwischen 2500 und 3500 lag und der die wichtigsten Werke der jüdischen Wissenschaft in preiswerten Ausgaben zugänglich machte, kann Roemer die Herausbildung eines überkonfessionellen jüdischen Lesepublikums prägnant deutlich machen. Indem das Literaturinstitut nur solche Werke in sein Buchprogramm aufnahm, die den Kriterien ideologischer Neutralität und allgemeiner Lesbarkeit genügten, wirkte es entscheidend auf die Wissenschaft des Judentums ein und beschleunigte deren Funktionswandel von einer abgehobenen Elitekultur zu einer Institution öffentlicher Erziehung. Der Geschichtsschreibung fiel dabei eine Schlüsselrolle zu.

Dies alles ist gut dokumentiert, überzeugend argumentiert und innovativ. Roemer verknüpft seine Beobachtungen zur strukturellen Entwicklung der jüdischen Geschichtskultur im 19. Jahrhundert nun aber mit der inhaltlichen These, dass die Hinwendung zur Geschichte in der jüdischen Öffentlichkeit nicht Ausdruck der Säkularisierung war, sondern, ganz im Gegenteil, ein kulturelles Programm zur Wiederbelebung religiöser Bindungen bedeutete. Angesichts politischer Rückschläge und der zunehmenden Auflösung traditioneller Religiosität hätten jüdische intellektuelle Meinungsführer sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stillschweigend vom säkularen Projekt der Aufklärung und dem liberalen Fortschrittsglauben verabschiedet und für die jüdische Gemeinschaft das Recht auf kulturelle und religiöse Differenz eingefordert: “German Jews became fearful of the secular and homogenizing principles of the Enlightenment that threatened to unravel German Jewish communities. German Jews, therefore, had to defend their civic equality with liberal arguments and reassert their distinctiveness by tacitly reformulating their relationship to the cultural politics of liberalism”(S. 82). Geschichte und Religion wurden die wichtigsten Quellen eines neuen jüdischen Gemeinschaftsgefühls. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast überall entstehenden Geschichtsvereine verbreiteten eine „re-theologisierte“ Version jüdischer Geschichte, die sich vom säkularen Emanzipationsparadigma des Jahrhundertbeginns deutlich unterschied: „Jewish historians replaced the redemptive narrative of emancipation and the belief in progress of humanity as the propelling force in Jewish history with the notion of providence that elevated Judaism above the realm of profane history“ (S. 10). Die Popularisierung der jüdischen Geschichte habe nicht ein säkulares jüdisches Selbstverständnis, sondern eine neue Bindung an die jüdische Religion geschaffen, die somit ein wesentlicher Faktor in der Selbstdefinition der deutschen Juden blieb.

Roemers pointierte These mag als Gegengewicht gegen eine in der Literatur immer wieder anzutreffende gedankenlose Gleichsetzung von modernem Geschichtsbewusstsein und Säkularisierung eine gewisse Berechtigung haben, sie ist jedoch ihrerseits einseitig und gibt ein schiefes Gesamtbild. Zwei Kritikpunkte müssen hier genügen: Erstens zieht Roemer seine weitreichenden Schlüsse auf der Basis relativ begrenzten Quellenmaterials. Wenn man andere Bereiche populärer jüdischer Geschichtskultur – wie z.B. die Mendelssohn- und Lessingfeiern oder die Emanzipationsfeiern – einbezieht, zeigt sich, dass ein bürgerlich-emanzipatorischer Fortschrittsglaube unter den deutschen Juden auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark und sogar dominierend blieb. Auch der kritische Impuls der Wissenschaft ließ sich nicht überall von den verbandspolitischen Bestrebungen nach Identitätsbildung durch Kodifizierung eines historischen „Erbes“ an die Kandare nehmen. Roemer geht ausführlich auf die nostalgische Rehabilitierung des Ghettos in der deutsch-jüdischen Geschichtskultur ein. Aber die kritischen Studien eines Isidor Kracauer, der die vormoderne Welt des Ghettos gerade nicht nostalgisch verklärte, sondern die materiellen und sozialen Lebensbedingungen in der Frankfurter Judengasse minutiös erforschte, erwähnt er mit keinem Wort. Kurz: Jüdische Geschichtskultur am Ende des 19. Jahrhundert war – und dies ist der zweite Kritikpunkt – wesentlich pluralistischer und polyphoner als es Roemers These von der Wiederkehr der Religion suggeriert.

Roemer entwickelt keinen theoretisch-systematischen Rahmen, mit dem er seinen Untersuchungsgegenstand auf den Begriff bringen kann. In seinem Sprachgebrauch differenziert er nicht zwischen verschiedenen Formen der Vergangenheitsrepräsentation und verwendet „history“, „memory“ oder „heritage“ ohne klar definierte Unterscheidung. Dadurch wird seine Darstellung oft unscharf und vage. Was er treffend als das populäre Geschichtsbild der jüdischen Geschichtsvereine herausarbeitet, müsste man mit David Lowenthal als „heritage“ bezeichnen: eine Sammlung von dekontextualisierten, zeitlosen Bildern, in denen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Dienste der Identitätsbildung aufgehoben sind. Bedeutet der nostalgisch geprägte Blick auf die authentisch gelebte Religiosität der Vergangenheit, wie er z.B. in Adolph Kohuts prachtvoll illustrierter „Geschichte der deutschen Juden. Ein Hausbuch für die jüdische Familie“ (1898) zum Ausdruck kommt, aber eine Rückkehr zur Religion? Hier ist Skepsis angebracht. Ebenso wenig wie der urbanisierte deutsche Großstadtbürger durch die Romantisierung des Landlebens wieder zum Bauern wurde oder der Emigrant durch die nostalgische Verklärung seiner Heimat zum Rückwanderer, wurde der säkularisierte jüdische Bürger durch eine historische Vergegenwärtigung traditionell geprägter Lebenswelten wieder religiös. Hier handelt es sich doch eher um eine Begleiterscheinung der Säkularisierung, nicht um eine Alternative zu ihr. Diese Zusammenhänge hätten eine tiefere Reflektion verdient als sie in dieser sonst ideenreichen und immer anregenden Studie geboten werden.

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