S. Rosenberger: Der Faktor Persönlichkeit in der Politik

Cover
Titel
Der Faktor Persönlichkeit in der Politik. Leadershipanalyse des Kanzlers Willy Brandt


Autor(en)
Rosenberger, Sigrid E.
Reihe
Forschung Politik
Erschienen
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Schmidt, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung im Rathaus Schöneberg

Wie politische Führungspersönlichkeiten handeln, warum so und nicht anders, und wie sich das auf den politischen Prozess und die Entscheidungen in der Politik auswirkt, das versucht die Politikwissenschaft zu beantworten, wenn sie „political leadership“ („politische Führung“) untersucht. Für die Analyse der Persönlichkeit Willy Brandts und ihres Einflusses auf den politischen Prozess während seiner Kanzlerschaft orientiert sich Sigrid E. Rosenberger vor allem am amerikanischen Politikwissenschaftler James MacGregor Burns. Dessen Thesen rückt sie zu Beginn ihres Buch, das auf einer Diplomarbeit am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien basiert, in den Mittelpunkt der Definition von „leadership“ und der dazu gehörigen Komponenten (S. 14-41). Letztlich unterscheidet Burns zwei Idealtypen von „leadership“, die verschiedene Ziele verfolgen: „transactional und transforming leadership“. Demnach geht es dem „transactional leader“ in erster Linie um eine pragmatische und effiziente Ausübung seiner Führungsrolle; der „transforming leader“ hingegen ist ein Visionär, der sozialen Wandel und Strukturveränderungen in Politik und Gesellschaft herbeiführen will.

Vor diesem theoretischen Hintergrund entwickelt Rosenberger drei Analyseebenen, mit deren Hilfe das Spezifikum der „leadership“ Brandts ermittelt werden soll: „Persönlichkeit“ (hier nun subsumiert unter Biografie und Charisma), „Inhalt“ (Weltanschauung und Politikverständnis, Vision, Politikfelder), „Machttechnik“ (Führungsstil, Personalpolitik, Medien und öffentliche Meinung, Krisenmanagement). Wer jedoch in der nachfolgenden Analyse bei den Feldern „Inhalt“ (S. 110-124) und „Machttechnik“ (S.124-149) neue Einsichten erwartet, wird arg enttäuscht. Gründlich arbeitet Rosenberger die einzelnen Punkte ab. Aber sie tut dies nicht mit Hilfe primärer Quellen, sondern sie bedient sich fast ausschließlich der wahrlich üppigen Literatur über Brandt, die auch die genannten Teilbereiche seines Lebens und Wirkens bereits vielfach beschrieben hat. Mit unzähligen langen Zitaten zeichnet Rosenberger ein schon oft gemaltes Brandt-Bild nach, wobei sie die Klischees, die es auch enthält, nicht hinterfragt. Sie versucht erst gar nicht, tiefer zu dringen und Brandtsche Entscheidungen, Reden und Auftritte und deren öffentliche Wirkung aus eigener Anschauung zu analysieren. Der Leser wird stattdessen mit absoluten Urteilen anderer Autoren überschüttet, die wenig bis nichts erklären, sondern zumeist verklären. Über Brandts Fähigkeit zur Empathie heißt es beispielsweise: „Er verstand es, die Emotionen der Menschen zu wecken und sie aus ihrer Befangenheit gegenüber Politik zu lösen. Er gab dem Wechselspiel zwischen Führer und Geführtem eine spezielle Richtung.“ (S. 100)

Am Ende ihrer Arbeit findet Rosenberger die Annahme bestätigt, bei Willy Brandt habe es sich um einen „transforming leader“ gehandelt, dessen „leadership“-Qualitäten vor allem in den Bereichen „Persönlichkeit“ und „Inhalt“ lagen. Dabei verweist sie auf sein Charisma sowie seine „politischen Visionen“ in der Ostpolitik, „durch die der Lauf der Geschichte geändert wurde.“ (S. 151) Dass die Ostpolitik während der Kanzlerschaft Brandts transformierenden Charakter besaß, der sich nicht auf die Außenpolitik der Bundesrepublik beschränkte, ist ohne Zweifel richtig. Was jedoch die „Vision“ der Ostpolitik angeht, so vermisst man eine stärkere Auseinandersetzung mit den Fragen, welche gedanklichen Wurzeln hatte die Ostpolitik, wie entwickelten sich ihre Elemente und welche Ziele, die sich im Laufe der Jahre durchaus veränderten, verbanden Brandt und seine (jeweiligen) Anhänger mit ihr. Es kann nämlich keine Rede davon sein, dass es Anfang der siebziger Jahre einen Punkt gab, an dem die „große Vision“ „ausgearbeitet“ war, wie Rosenberger meint. Das Urteil über ihre historischen Wirkungen ist nicht zuletzt deshalb umstritten, weil sich Brandts persönliche Ostpolitik nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler 1974 dynamisch weiterentwickelte, ganz besonders nach 1982. Dadurch veränderte sich – nicht zum ersten Mal – auch die Anhängerschaft des „leaders“. Das gilt bereits für die Jahre zwischen 1957 und 1969, was Rosenberger aber völlig übersieht bzw. nicht thematisiert, obwohl sie der Beziehung zwischen Führer und Geführten hohe Bedeutung zumisst. Es wäre indessen sehr interessant, sich der Frage zu widmen, was stärker wog: Passte sich Brandt mit seinem Politikangebot den bereits vorhandenen Wünschen und Zielen großer Gruppen in der Gesellschaft an und gewann so neue Anhänger (und verlor alte)? Oder waren es hauptsächlich seine bahnbrechenden Visionen, die er mutig der Öffentlichkeit präsentierte und die viele Menschen faszinierten und überzeugten? Wer transformierte wen?

Diese Problemstellung berührt auch die innenpolitischen Leistungen Brandts während seiner Kanzlerschaft, mit denen er das Format eines„transforming leader“ nicht erreicht habe, so Rosenberger. „Zwar konnte er auf der symbolischen Ebene innenpolitische Weichen stellen und dadurch den Anstoß für eine tiefgreifende Kulturrevolution der Lebensstile in der Gesellschaft der Bundesrepublik der 1970er Jahre liefern. Die praktische Umsetzung von nicht wenigen Vorhaben scheiterte jedoch an der mangelhaften Durchsetzungsfähigkeit des deutschen Kanzlers.“ (S. 151 f.) Zu fragen ist aber: Begann die „Kulturrevolution“ nicht schon 1968? Scheiterten die meisten innenpolitischen Vorhaben der Ära Brandt nicht eher an einem grundlegenden Wandel der ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen ab 1973 als an der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit des Kanzlers? Auch dies wird in der Arbeit allenfalls gestreift. Völlig unberührt bleibt, wie Brandt damals die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen einschätzte und wie er darauf praktisch reagierte. Hier wird abermals der größte Mangel des Buchs deutlich: Es betritt nicht die Niederungen des politischen Tagesgeschäfts, in dem sich „leadership“ mühsam herausbildet und bewähren muss. Alles wird aus einer abgehobenen Perspektive betrachtet und mit gestanzten Urteilen kommentiert.

Im Bereich „Machttechnik“ spricht Rosenberger Brandt „leadership“-Qualitäten weitgehend ab. „Bisweilen fehlte ihm das sprichwörtlich ‚gesunde‘ Verhältnis zur Macht. Er litt unter den Angriffen seiner politischen Gegner, er schob Entscheidungen in wichtigen Situationen auf die lange Bank, beging personelle Fehler und in manchen Krisensituationen bestimmte Resignation sein Handeln.“ (S. 152) Die Autorin hat sich die Worte Klaus Harpprechts offenbar nicht zu Herzen genommen, der ihr im Interview, das im Anhang abgedruckt ist, sagte: „Das Bild des prüfenden, des zweifelnden, des fragenden, des zögernden Brandt ist durch diverse Filme oder das Theaterstück von Michael Frayn […] überbetont worden. Es gab das ja alles, ja, aber ein Mann, der nicht entscheidungsfähig ist, ein Mann, der nicht machtbewusst ist, wird nicht Chef einer großen Partei, wird schon gar nicht Berliner Bürgermeister und Chef dieser schwierigen Berliner Partei, und er wird auch nicht Bundeskanzler. Den Machtpolitiker Brandt unterschätzt man durchgehend.“ (S. 176)

Schon deswegen würde es sich lohnen, die Akten zu studieren. Gerade der Brandt-Nachlass und die Unterlagen seiner damaligen Mitarbeiter im Kanzleramt böten reichlich Material, um den persönlichen Faktor Brandts bei wichtigen Entscheidungen und beim Krisenmanagement während seiner Kanzlerschaft, z.B. in Form von Fallstudien, genau unter die Lupe zu nehmen. Von einer Diplomarbeit muss man das gewiss nicht verlangen. Wenn sie als Buch veröffentlicht wird, darf man allerdings erwarten, dass wenigstens gedruckte Quellen in möglichst großer Zahl herangezogen werden, insbesondere die Dokumente der Willy-Brandt-Edition „Berliner Ausgabe“. Doch Rosenberger führt im Literaturverzeichnis nur die Einleitungen von drei, bis 2002 erschienenen Bänden dieser Edition auf und zeigt ein erstaunliches Desinteresse an dem, was ihr einen unmittelbaren Zugang zum Politiker und Staatsmann verschafft hätte. Wer aber Brandts Persönlichkeit und Führungsqualitäten als Kanzler und Parteivorsitzender zwischen 1969 und 1974 näher kommen und vor allem neue Erkenntnisse darüber gewinnen will, muss lesen, was er selbst damals gesagt und geschrieben hat.

Ärgerlich sind schließlich zahlreiche Fehler im Umgang mit Namen und Ereignissen, die entweder auf fehlende historische Kenntnisse oder mangelnde Sorgfalt schließen lassen: Aus Franz Neumann wird durchweg „Fritz Neumann“; Helga Grebing mutiert zu „Herta Grebing“; Horst Ehmke heißt plötzlich „Klaus Ehmke“; die Gründung der SED wird als „Zusammenschluss der SPD und KPD“ bezeichnet; die Währungsreform 1948 soll den „Status von zwei deutschen Staaten“ „verfestigt“ haben; beim „Kampf um die Nachfolge“ des verstorbenen Kurt Schumacher habe sich Brandt „noch nicht durchsetzen“ können – ihm sei „Ollenhauer vorgezogen“ worden; das Chruschtschow-Ultimatum und die Abgeordnetenhauswahlen 1958 finden schon ein Jahr früher statt; der „Radikalenerlass“ von Januar 1972 wird als Reaktion auf das Olympiaattentat von München im September 1972 deklariert usw. Das Lektorat des Buchs lässt auch wegen zahlreicher Rechtschreib-, Grammatik- und Zeichensetzungsfehler sehr zu wünschen übrig.

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