A. Brockmann: Erinnerungsarbeit im Fernsehen

Cover
Titel
Erinnerungsarbeit im Fernsehen. Das Beispiel des 17. Juni 1953


Autor(en)
Brockmann, Andrea
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Meyen, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München

Zeitgeschichte im Fernsehen boomt. „Soviel Hitler war nie“, hat Norbert Frei zum 60. Jahrestag des Kriegsendes geschrieben und den „Ausstoß der Medien“ als Indiz für das „immer noch“ wachsende Interesse des Publikums gesehen.1 Mit diesem Interesse ist die Kritik der Historikerzunft an der „Televisualisierung von Geschichte“ gewachsen. Dem Fernsehen wird vorgeworfen, überall dort auf inhaltliche Präzision und Belege zu verzichten, wo es für die Zuschauer/innen langatmig und ermüdend werden könnte. In der Literatur finden sich Schlagworte wie Manipulation, Simplifikation oder Trivialisierung. Dieser erhobene Zeigefinger ist mit der Angst vor der „Macht der Bilder“ verbunden und davor, dass der „packende und fesselnde Geschichtslehrer“ Fernsehen die Fachleute weiter marginalisieren könnte. Populärster Historiker dürfte in Deutschland längst der Journalist Guido Knopp sein, der im ZDF mit Serien wie „Hitlers Helfer“ und dem Magazin „History“ Erfolg hat und dafür prompt mit dem Etikett „unterhaltsame Geschichtspornographie“ bestraft wurde.2

Andrea Brockmann liegen solche Verdikte fern. In ihrer Münsteraner Dissertation (betreut von Wolfgang Jacobmeyer) vertritt sie die These, dass Fernsehen „kein Medium der Geschichtsschreibung“ sei und folglich nicht als „Verlängerung der akademischen Geschichtsschreibung“ verstanden werden könne. Brockmann sieht „televisuelle Erinnerungsarbeit“ als „Deutungskonkurrenz“. Fernsehen erzähle „Vergangenes nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und Darstellungskonventionen“ und müsse folglich „fester Gegenstandsbereich historiographischer Forschung werden“ (S. 314, 317). Brockmanns Arbeit erhebt den Anspruch, einen „adäquaten wissenschaftlichen Zugang zur Konstruktion von Geschichte im Medium Fernsehen zu finden“ (S. 3).

Damit ist das Ziel verbunden, ein Konzept für „eine gemeinsame Forschungspraxis“ von Geschichts- und Kommunikationswissenschaft zu entwickeln (S. V). Diese Idee ist nur durch das institutionelle Umfeld zu erklären, in dem sich Andrea Brockmann bewegt hat. Koreferent ihrer Dissertation war der Literaturwissenschaftler Siegfried J. Schmidt, der das letzte Jahrzehnt seiner akademischen Karriere am Münsteraner Institut für Kommunikationswissenschaft verbracht hat. Wegen seiner geisteswissenschaftlichen Wurzeln steht Schmidt dem Wissenschaftsverständnis der Historiker/innen und ihren Gütekriterien für die Qualität wissenschaftlicher Arbeit sehr viel aufgeschlossener gegenüber als der Kern der Kommunikationswissenschaft, die sich in Deutschland als empirische Sozialwissenschaft versteht und mit einer Analyse wie derjenigen von Brockmann wohl nur wenig anzufangen wüsste.

Solche Rezeptionsbarrieren sind bedauerlich, da Brockmann am Beispiel des 17. Juni 1953 in aller Ausführlichkeit zeigt, wie Fernsehinhalte entstehen, und da es ihr außerdem wenigstens ansatzweise gelingt, Kommunikationsprozesse nachzuzeichnen, die durch die entsprechenden Sendungen ausgelöst wurden. Herausragend ist das Unterkapitel über die Dokumentation „Jene Tage im Juni“, die 1983 im ersten Programm gezeigt wurde (S. 183-211). Bevor Brockmann hier zur „Kontextualisierung und Interpretation“ im Rahmen ihrer hermeneutischen Textanalyse kommt, diskutiert sie den biografischen Hintergrund des Autors Jürgen Rühle (1924–1986), beschreibt den Inhalt des Films und die Probleme, die es bei der Beschaffung von visuellen und auditiven Quellen gab, beschäftigt sich dann mit der „filmischen Konstruktion eines Geschichtsbildes“ und dokumentiert am Ende sowohl Teile der öffentlichen Diskussion, die im Feuilleton vor und nach der Ausstrahlung geführt wurde, als auch Auszüge aus der Zuschauerpost.

Etwas knapper wird dieses Verfahren anschließend für die anderen Sendungen durchexerziert, die an den Gedenktagen 1963, 1973 und 1983 im westdeutschen und nach der Wiedervereinigung dann im „gesamtdeutschen Programm“ (S. 251) gelaufen sind. Außerdem gibt es ein Kapitel über die „ideologische Tabuisierung im Fernsehen der DDR“ (S. 235-251). In diesen Detailstudien erweist sich das „zirkuläre Verfahren zur historischen Medienanalyse“ (S. 105), das Brockmann entwickelt hat, als sehr brauchbar. Hervorzuheben ist außerdem, dass die Autorin eigene Erfahrungen in der WDR-Redaktion Fernsehfilm gesammelt hat, die sie vor allem im Abschnitt „Audiovisuelle Quellen als Grundlage der Authentizität“ einbringen konnte.

Bei allen Leistungen zeigt Brockmanns Studie auch die Probleme, die interdisziplinäres Arbeiten mit sich bringt. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist zunächst zu kritisieren, dass sich die Ausführungen über das „Staatsfernsehen der DDR“ (S. 64-70) auf einseitige und teilweise veraltete Literatur stützen. Vollkommen unberücksichtigt geblieben sind hier zum Beispiel die zahlreichen Arbeiten der DFG-Forschergruppe zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens.3 Schwerer ins Gewicht fällt das weitgehende Ausblenden der Zuschauerperspektive. Expertenurteile und in Rundfunkarchiven überlieferte Briefe sind dafür jedenfalls kein Ersatz. Das „Übergewicht zeitgeschichtlicher Themenangebote“ im Fernsehen und hier vor allem des Nationalsozialismus zum Beispiel mit der „überlieferten Materialbasis“ und den Vorlieben von Programmverantwortlichen zu erklären (S. 100f.), greift zu kurz.

Auf Zuschauerseite sind die Nachrichtenfaktoren Thematisierung und Nähe die zentralen Auswahlkriterien, wobei der Begriff Nähe keineswegs nur auf die „Emotionalisierung historischer Stoffe“ und den „Einsatz fiktionalisierender Erzählformen und Techniken“ zielt, wie Brockmann meint (S. 98). Das Interesse an historischen Themen wird aus dem aktuellen Lebensumfeld gespeist, und zu diesem Lebensumfeld gehört die Agenda der Massenmedien, die der Faktor Thematisierung beschreibt.4 Guido Knopp hat schon vor fast zwei Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass Sendungen, die sich nicht mit der Zeitgeschichte beschäftigen, sondern mit geografisch oder kulturell entfernten Gebieten und Ereignissen, nur ein begrenztes Publikum finden können.5 Der Nationalsozialismus ist den Deutschen vor allem deshalb „nah“, weil diese Zeit ihre kollektive Identität prägt und so das Interesse an Geschichte deshalb mindestens so lange dominieren wird, bis sie nicht mehr zum Erfahrungshorizont der Zeitgenossen gehört.

Aus Historikersicht mag es außerdem sehr nachvollziehbar sein, von einer „Verpflichtung zur exakten Kennzeichnung des Quellenmaterials“ zu sprechen und vor allem beim Einsatz von Zeitzeugen eine „solide Quellen- und Überlieferungskritik“ zu fordern (S. 96f.). Dem „Eigencharakter“ und der „Darstellungslogik“ von Geschichtssendungen im Fernsehen (S. 3) wird dies aber nur bedingt gerecht. Die Zuschauer wollen verschiedene Perspektiven gegeneinander abwägen und sich selbst eine Meinung bilden können. Die Zeitzeugen stehen deshalb genau wie historische Dokumente für Glaubwürdigkeit und Authentizität – vor allem dann, wenn sie eine Sicht liefern, die den Tenor der Sendung differenziert oder ihm sogar widerspricht. Dass es sich dabei um eine subjektive Perspektive handelt, ist dem Publikum genauso bekannt wie die Möglichkeit des Regisseurs, historisches Bildmaterial und Expertenaussagen zu „verdrehen“ und „zusammen zu schneiden“.6

Da Geschichte im Fernsehen keine Mode ist, sondern ein Trend, tut historische Forschung gut daran, sich dieses Themas anzunehmen und die Redakteure sowie ihr Publikum nicht mit Verachtung und Unverständnis zu strafen. Andrea Brockmanns Studie kann dafür sicher als Maßstab dienen.

Anmerkungen:
1 Frei, Norbert, 1945 und wir. Die Gegenwart der Vergangenheit, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 7-22, hier S. 7.
2 Kansteiner, Wulf, Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion. Hitler und das „Dritte Reich“ in den Fernsehdokumentationen von Guido Knopp, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 626-648, hier S. 646.
3 Allein in der Schriftenreihe „Materialien – Analysen – Zusammenhänge“, die diese Forschergruppe im Leipziger Universitätsverlag herausgibt, sind seit 2001 knapp 20 Bände erschienen; siehe <http://www.ddr-fernsehen.de/publikationen.shtml.>
4 Meyen, Michael; Pfaff, Senta, Rezeption von Geschichte. Eine qualitative Studie zu Nutzungsmotiven, Zuschauer-Erwartungen und zur Bewertung einzelner Darstellungsformen, in: Media Perspektiven 2006, S. 102-106.
5 Knopp, Guido, Geschichte im Fernsehen. Perspektiven der Praxis, in: ders.; Quandt, Siegfried (Hgg.), Geschichte im Fernsehen. Ein Handbuch, Darmstadt 1988, S. 1-9, hier S. 6.
6 Meyen/Pfaff (wie Anm. 4), S. 105f.

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