K.-W. Welwei: Res publica und Imperium

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Titel
Res publica und Imperium. Kleine Schriften zur römischen Geschichte


Autor(en)
Welwei, Karl-Wilhelm
Herausgeber
Meier, Mischa; Strothmann, Meret
Reihe
Historia- Einzelschriften 177
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Losehand, Stuttgart

Mit "Res publica und Imperium" legen Mischa Meier (Tübingen) und Mereth Strothmann (Bochum) den zweiten Band der Kleinen Schriften von Karl-Wilhelm Welwei vor, der zwei weitere große Forschungsschwerpunkte des Bochumer Althistorikers widerspiegelt: das Römische Reich (namentlich die Zeit der Republik und die frühe Kaiserzeit) sowie die römisch-germanischen Beziehungen.1 Die neben der praktischen Sinnhaftigkeit gegebene Bedeutung solcher Zusammenstellungen verstreuter Forschungsergebnisse einzelner herausragender Vertreter/innen der geschichtswissenschaftlichen Zunft liegt auf der Hand: das Interesse der Geschichtswissenschaft ist immer auch auf sich selbst gerichtet, die Kenntnis der Genese wissenschaftlicher Meinungen und Urteile ist für die Forschenden, die selbst auch bis zu einem gewissen Grade "auf den Schultern" ihrer Vorgänger/innen und Lehrer/innen stehen, von unabweisbarem Wert. Während in technischen oder naturwissenschaftlichen Disziplinen neue Erkenntnisse die alten unwiderruflich ablösen und diesen im wissenschaftlichen Diskurs keine weitere Bedeutung mehr zukommt, kann sich die Geschichtswissenschaft der Geschichte ihres Erkenntnisprozesses und -fortschritts nicht plausibel entziehen.

Die publizierten "Kleinen Einzelschriften" Welweis zur römischen Geschichte sind chronologisch in vier Abteilungen gegliedert: "1. Das frühe Rom - Die Formierung der res publica Romana", "2. Mittlere Republik und der Konflikt mit Karthago", "3. Zwischen Republik und Prinzipat" und "4. Prinzipat".2 Bei den insgesamt neunzehn Beiträgen handelt es sich um photomechanische Reprografien, so dass eine Zitation nach der originalen Seitenzählung ermöglicht wird. Der Sammelband selbst ist natürlich ebenso zitationsfähig, tritt aus ersterem Umstand aber gegenüber den Einzelbeiträgen zurück und erfüllt somit nicht den Zweck einer "neuen" oder weiteren Publikation, sondern hat nur die (dienende) Funktion einer Sammlung von schon Vorhandenem.

Im Einzelnen enthält der Band folgende publizierte Aufsätze: In der ersten Abteilung 1.1 "Lucius Iunius Brutus: Zur Ausgestaltung und politischen Wirkung einer Legende", 1.2 "Die Machtergreifung des Aristodemos von Kyme", 1.3 "Die frührömische Klientel im Spiegel der Überlieferung", 1.4 "Gefolgschaftsverband oder Gentilaufgebot? Zum Problem eines frührömischen familiare bellum (Liv. II 48,9)", 1.5 "Piraterie und Sklavenhandel in der frühen römischen Republik"; in der zweiten Abteilung 2.1 "Si vis pacem, para bellum - eine Maxime römischer Politik?", 2.2 "Hieron II. von Syrakus und der Ausbruch des ersten Punischen Krieges", 2.3 "Die Belagerung Sagunts und die römische Passivität im Westen 219 v. Chr.", 2.4 "Zum Metus punicus in Rom um 150 v. Chr.", 2.5 "Demokratische Verfassungselemente in Rom aus der Sicht des Polybios"; in der dritten Abteilung 3.1 "Das Sklavenproblem als politischer Faktor in der Krise der römischen Republik", 3.2 "Das Angebot des Diadems an Caesar und das Luperkalienproblem", 3.3 "Caesars Diktatur, der Prinzipat des Augustus und die Fiktion der historischen Notwendigkeit", 3.4 "Augustus als vindex libertatis. Freiheitsideologie und Propaganda im frühen Prinzipat", 3.5 "Römische Weltherrschaftsideologie und augusteische Germanienpolitik", 3.6 "Probleme der römischen Grenzsicherung am Beispiel der Germanienpolitik des Augustus"; in der vierten Abteilung 4.1 "Verdeckte Systemkritik in der Galbarede des Tacitus", 4.2 "Zur Ansiedelungspolitik Marc Aurels"; 4.3 "Die 'Löwen' des Caracalla".3

Neben den offensichtlichen generellen Schwerpunkten "res publica" und "imperium" (der zweite Begriff ist dabei ein Homonym: einerseits die Befehlsgewalt als Auftrag an einen Einzelnen, andererseits die davon abgeleitete gängige Bezeichnung für die römische Herrschaft bzw. das römische Herrschaftsgebiet) stellen die römisch-germanischen Beziehungen einen weiteren Schwerpunkt dar, die in den Beiträgen 3.5, 3.6, 4.2 und 4.3 beleuchtet werden. Ebenfalls Früchte eines besonderen Forschungsinteresses Welweis sind die Artikel zur Sklaverei (1.5 und 3.1).

Von besonderem Reiz sind die verschiedenen thematischen Querverbindungen, die sich zwischen einzelnen Beiträgen ziehen lassen. Dabei betreffen diese Linien nicht nur die von den Herausgebern und von den Titeln und Sachthemen der Beiträge her offensichtlichen Verknüpfungen, sondern jene, die sich dem Leser über die oben genannten hinaus erschließen. Wenn auch unausgesprochen, so lassen sich doch viele der in den Beiträgen behandelten Themen als Beispiele für reale Fiktionen, fiktive Realitäten und Anachronismen in der römischen Geschichte heranziehen. Ganz offensichtlich handeln gleich die ersten Beiträge der Sammlung (1.1 "Brutus", 1.2 "Aristodemos", 1.3 "frührömische Klientel") von der Transformation realer Ereignisse in ein (bewusst) instrumentalisiertes fiktionales Geschehen, bzw. in eine absichtlich auf ein bestimmtes Ideal hin modifizierte Überlieferung. Indikator für diesen "roten Faden" durch die "Kleinen Schriften" Welweis sind auch die Beiträge zur Zeit "zwischen Republik und Prinzipat", namentlich 3.2 "Luperkalienproblem", 3.3 "Caesars Diktatur", 3.4 "vindex libertatis" und 3.5 "Weltherrschaftsideologie". Hat nicht Friedrich Nietzsche den Historikern die Warnung ins Stammbuch geschrieben, aus "ficta" nicht "facta" zu machen?4 Und doch muss man nicht so weit gehen, mit ihm zu behaupten, dass "alle Historiker [...] von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung" erzählen, selbst wenn man die Erkenntnisse der Hirnforschung berücksichtigt, dass das menschliche Gehirn – einfach gesagt – nicht zwischen "wahrer" und "falscher" (fiktionaler) Erinnerung unterscheidet. So lassen sich durch Legende, durch Propaganda und durch Ideologie bewusst oder unbewusst neue "Realitäten" schaffen, die (neurologisch und psychologisch gesehen) so "real" sind wie die eigentliche Wirklichkeit.

Auch der Ideologie – oft genug theoretische Grundlage realer Fiktion oder fiktionaler Realität – wird in Welweis Schriften gedacht, sei es der "Freiheitsideologie [...] im frühen Prinzipat" (3.4), ein Beitrag der sich aufgrund seiner Auseinandersetzung mit den Res Gestae Divi Augusti auch mit der Konstruktion einer solchen "realen Fiktion" beschäftigt, sei es im Beitrag zur "Weltherrschaftsideologie" am Beispiel augusteischer Germanienpolitik (3.5). Mit letztgenanntem Beitrag korrespondieren die Untersuchungen zu einer "Maxime römischer Politik?" (2.1) und zur "Galbarede des Tacitus" (4.1). Anhand der neuzeitlichen Vorstellung und Erwartung "si vis pacem, para bellum" wird jener Begriff ausgefaltet, der in den Medien und Publikationen der Gegenwart eine Renaissance erfahren hat: die pax Romana (und ihre Verwandte, die pax Americana in der Fassung der amerikanischen "Neocons"). Auch die (natürlich wieder fiktive) Galbarede bei Tacitus (hist. 1,15-16) handelt von "Frieden" und "Freiheit", und dem, was die Römer nach innen und außen im Rahmen ihrer Freiheits- und Weltherrschaftsideologie darunter verstanden. Die Beiträge 3.5 "Weltherrschaftsideologie", 3.6 "Grenzsicherung", 4.2 "Ansiedelungspolitik" und schließlich 4.3 "Die 'Löwen'" runden als konkrete thematische Beispiele für römische "Friedens- und Sicherheitspolitik" im Rahmen der römischen Herrschaftsideologie anhand der Germanien- und Germanenpolitik im Prinzipat diesen Themenkomplex ab. So werden die Beiträge Welweis durch ihren inneren Bezug auch zur Gegenwart fruchtbar.

Forschung bedeutet, Puzzleteilchen in einem oft unüberschaubaren Haufen ihre Verbindung und Beziehung zu anderen Teilchen im Haufen abzuringen, um so peu à peu ein vollständigeres Bild zu gewinnen. Obwohl "Einzelschriften" beherbergend, finden sich in diesem Sammelband doch viele Puzzleteilchen, die einander ergänzen – und so wieder einen Teil jenes Bildes ergeben, das Ziel und Streben der historischen Wissenschaften ist.

Anmerkungen:
1 Der erste Band wurde veröffentlicht als: Welwei, Karl-Wilhelm, Polis und Arché. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, hg. v. Mischa Meier, Stuttgart 2000.
2 Vgl. zum Begriff "Principat": Bleicken, Jochen, Prinzipat und Dominat. Gedanken zur Periodisierung der römischen Kaiserzeit, Wiesbaden 1978.
3 Im Folgenden werden zur besseren Übersicht nicht mehr die vollen Titel, sondern nur noch die von Rezensenten eingeführten Nummern zusammen mit einem (hoffentlich erklärenden) Stichwort im Text verwendet.
4 Nietzsche, Friedrich, Morgenröthe. Gedanken über moralische Vorurtheile, Buch 4, 307 (erschienen 1881).

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