Cover
Titel
1956 - DDR am Scheideweg.


Autor(en)
Prokop, Siegfried
Reihe
Edition Zeitgeschichte 32
Erschienen
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Das Buch wurde in der Überzeugung geschrieben, dass die Vorstellungen der parteiinternen Opposition den ostdeutschen Irrweg beendet, die nötige Geistesfreiheit hergestellt und dem Sozialismus eine glänzende Zukunft eröffnet hätten. Seine tragischen Helden sind die zu hohen Strafen verurteilten SED-Intellektuellen Gustav Just (der das Vorwort verfasste), Walter Janka und Wolfgang Harich. Der Triumph Ulbrichts über diese Abweichler erscheint als das Verhängnis, dem die ständige Misere und das schließliche Ende der DDR anzulasten sind. Der Auffassung, die sozialistische Idee sei gut gewesen, aber durch eine sie zunichte machende Praxis verdorben worden, widerspricht freilich die auf S. 34 zustimmend zitierte Erkenntnis des italienischen Parteichefs Togliatti, „dass die stalinistische Entartung des Systems [für die Ulbricht in der DDR stand] nicht an die Person Stalins gebunden war, sondern zwangsläufig aus dem System hervorging“. Siegfried Prokop ist der Ansicht, dass die Chance ungenutzt blieb, die Chruschtschows Absage an Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU eröffnet hatte. Erst die Erfahrung des Ungarn-Aufstandes habe den Kremlchef seit dem Spätherbst 1956 dazu bewogen, auf Ulbricht als vermeintlichen Garanten stabiler Verhältnisse in der DDR zu setzen. Bis dahin, so wird auf Grund der Erinnerung des Ulbricht-Rivalen Schirdewan an ein ermutigendes Gespräch mit Chruschtschow angenommen, sei dieser bereit gewesen, ihn als Vertreter eines besseren Sozialismus zu unterstützen.

Im Vergleich zu 1953 zeigen sich markante Übereinstimmungen und Unterschiede. In der SED regte sich jeweils latent vorhandene Unzufriedenheit mit Ulbricht, als die sowjetische Führung gegen die von diesem vertretene politische Ausrichtung Stellung bezog. Das geschah jedoch vor dem Hintergrund völlig verschiedener gesellschaftlicher Situationen. 1953 befand sich die DDR in einer äußerst kritischen Lage. Zwar verringerte der vom Kreml oktroyierte „Neue Kurs“ die Unzufriedenheit der „bürgerlichen“ Schichten, doch leitete die gleichzeitig durchgeführte Normenerhöhung Proteste der Arbeiterschaft ein, die in eine landesweite Erhebung gegen das sozialistische System übergingen. Die von der Partei herangezogene Intelligenz identifizierte sich demgegenüber mit dem System und stand daher dem Aufstand breitester Bevölkerungsschichten ablehnend gegenüber. 1956 hatten sich die Einstellungen nahezu umgekehrt. Die Massen, vor allem die Arbeiter, blieben passiv. Die Opposition ging von parteinahen Intellektuellen aus, die sich im Namen sozialistischer Ideen gegen Ulbrichts Politik und Herrschaft wandten.

Diese entscheidende Differenz kommt in dem Buch klar zum Ausdruck. Die Darstellung betrifft die „teilweise Unzufriedenheit der SED-Intellektuellen“ mit dem Ulbricht-Kurs, das „Unbehagen unter den Schriftstellern“, das „Aufbegehren der Künstler“, die „studentische Opposition“, die „Kulturbunddebatten“ und die „Konstituierung des Kreises der Gleichgesinnten“, der Just, Janka, Harich und andere informell vereinte. Zwar ist von erheblichen ökonomischen Problemen die Rede, doch ist – anders als 1953 – kein größerer Missmut auf Seiten der Massen zu vermelden. Auf die ersten Anzeichen beginnender Unzufriedenheit unter den Arbeitern hin war man sich auf der 28. ZK-Tagung im Juli 1956 einig, dass es den Wirtschaftsleitungen nicht erlaubt werden könne, mit irgendwelchen Begründungen die Löhne zu beschneiden. Solche „Herzlosigkeit und Sorglosigkeit“ stoße „begreiflicherweise“ auf den „Widerstand der Belegschaften“.

Das erfolgreiche Bemühen, eine Ansammlung sozialen Sprengstoffs zu verhindern und dafür auch sowjetische Hilfslieferungen zu erwirken, ließ kein größeres Unterstützungspotenzial für die Ulbricht-Gegner entstehen. Deren Ziel, an die Stelle des bestehenden, nicht als wahrhaft sozialistisch anerkannten Systems müsse ein Sozialismus treten, der die zugrunde liegenden Ideen ernstlich verwirkliche, entsprach nicht der im Lande vorherrschenden Haltung, die sich gegen den Sozialismus überhaupt richtete. Die opponierenden SED-Intellektuellen machten keinen Versuch, die Öffentlichkeit unter Hinweis auf die gemeinsame Gegnerschaft zum Ulbricht-Kurs für sich zu gewinnen oder auch nur in der Partei für ihre Vorstellungen zu werben. Beides wäre freilich schwierig gewesen, weil die marxistisch-leninistische Struktur jede von den amtlichen Leitlinie abweichende Aktivität mit dem vernichtenden Verdikt der „Fraktionstätigkeit“ oder sogar einer „konterrevolutionären“ Machenschaft bedrohte. Die innerparteilichen Opponenten beschränkten sich darauf, im engsten Kreise Details ihres Programms – der Kritik an Ulbrichts Herrschaftspraxis und der Reform von Wirtschaft, Landwirtschaft und Justiz – auszuarbeiten. Ihnen fehlte ein Politiker mit Statur, der sich an ihre Spitze gesetzt hätte, und sie waren sich ihrerseits nicht klar darüber, wen sie sich als Führer wünschten. Vermutlich war das einer der Gründe dafür, dass sie zu handeln versäumten, solange sie noch eine Chance sowjetischen Rückhalts hatten.

Als sich der Kreml entschloss, den Ungarn-Aufstand mit allen Mitteln als „Konterrevolution“ zu bekämpfen, war die Chance verpasst. Ulbricht erhielt die Gelegenheit, seine Widersacher in der SED trotz ihrer statutenkonformen Haltung zu Konterrevolutionären zu erklären und damit die Bühne für ihre Ausschaltung vorzubereiten. Mit der Kampfansage an die „Konterrevolution“ im Land empfahl er sich zugleich der sowjetischen Schutzmacht als Hüter sozialistischer Stabilität, der den feindlichen Kräften keine Chance ließ, das bestehende System mit Aufweichung zu bedrohen.

Diese Entwicklung lässt sich in Prokops Buch an zahlreich wiedergegebenen Beratungen, Gesprächen und Ausarbeitungen und am Wortlaut einiger abgedruckter Dokumente ablesen. Es wird eine Fülle von Einzelheiten referiert, ohne dass ein analytisches Fazit gezogen würde. Als Resümee der präsentierten Details formuliert der Autor in einem „Epilog“ sein Bedauern, dass die kurzzeitig „möglich“ und „greifbar“ erschienene Idealform des Sozialismus nicht Realität wurde. Nachdem in der vorangegangenen Zeit die „höhere soziale Qualität einer neuen Gesellschaftsordnung“ sich „nirgends wirklich“ habe „etablieren“ können und das System unter Stalin „zur absoluten Unmenschlichkeit“ pervertiert sei, habe die „ungarische Tragödie im Oktober/November 1956“ Ulbricht den Vorwand geliefert, „die Revolte der Intellektuellen niederzuwerfen“. Dass die Pläne des „Kreises der Gleichgesinnten“ der DDR das Heil gebracht hätten, steht für Prokop außer Frage. „Die Reformen hätten verwirklicht werden können, wenn, wie es zwischen Karl Schirdewan und Nikita Chruschtschow verabredet worden war, Ulbricht gestürzt worden wäre und an seine Stelle ein ‚deutscher Gomułka‘ (Paul Merker, Franz Dahlem oder Karl Schirdewan) getreten wäre.“ Der Autor hat dabei das sozialistische Regime Polens 1956 als Verkörperung der wahren sozialistischen Idee vor Augen. „Wären die Reformen in der DDR verwirklicht worden, wie sie im Sommer und Herbst sich abzeichneten bzw. wie sie [von der parteiinternen Opposition] konzipiert worden waren, hätte die DDR einen ähnlichen Entwicklungsweg wie das Nachbarland Polen beschritten.“ (S. 295f)

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