V. Gerhardt; H.-C. Rauh (Hg.): Anfänge der DDR-Philosophie

Cover
Titel
Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern


Herausgeber
Gerhardt, Volker; Rauh, Hans-Christoph
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
567 S.
Preis
DM 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herzberg, Guntolf

I.
Ansätze zu einer Geschichte der DDR-Philosophie gibt es mehrere: zwei parteiamtliche Glanzgeschichten (1979 und 1988), die materialreiche und die philosophische Produktion jedoch nur von außen betrachtende kritische Darstellung von Norbert Kapferer („Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945-1988“, 1990), die zahlreichen Einzelstudien zu Personen und Vorgängen sowie die erste Darstellung des Endes der DDR-Philosophie in meinen beiden Büchern („Abhängigkeit und Verstrickung“, 1996 und „Aufbruch und Abwicklung“, 2000). Diesen schließt sich als weiterer Zwischenschritt der vorliegende Band –hervorgegangen aus einer Konferenz an der Berliner Humboldt-Universität und um mehrere Beiträge ergänzt – mit 19 Aufsätzen von 15 Autoren an, eingegrenzt auf die Jahre 1945 bis 1958. Die Autoren gehörten zum überwiegenden Teil zu den DDR-Philosophen und waren in dem behandelten Zeitraum noch Schüler oder Studenten.

Als Zeitzeuge aus der unmittelbaren Nachkriegszeit präsentierte sich Hans-Joachim Lieber, späterer Rektor der Freien Universität Berlin. Die Lehrer der DDR-Philosophie, die für die Zeit ab 1945 repräsentativ waren und sofern sie noch leben, fehlten dagegen demonstrativ und verweigern sich überhaupt einer kritischen Darstellung ihres Faches.

II.
Der Band gibt keine Geschichte des philosophischen Denkens in der DDR, sondern geht unter sehr verschiedenen Aspekten an die Anfangsjahre heran:
als persönliche Erinnerungen an die Zeitumstände,
als konzeptioneller Versuch, die Vorgeschichte der DDR-Philosophie begrifflich und historisch genau zu erfassen (Peter Ruben), oder als Längsschnitt bestimmter Ereignisse (Hans-Christoph Rauh an Hand einiger Zeitschriften – allerdings in unüberschaubaren und dadurch zumeist unverständlichen Bandwurmsätzen, Camilla Warnke über die Hegel-Rezeption in der SBZ/DDR),
als Würdigung der marxistischen Lehrer (Ernst Bloch, Georg Lukács, Klaus Zweiling, Georg Klaus, Wolfgang Harich),
als Erinnerung an das Wirken bürgerlicher Philosophen in der SBZ/DDR (Hans-Georg Gadamer, Günther Jacoby, eine Dokumentensammlung zu Hans Leisegang),
zu bestimmten Stationen von marxistischen Philosophen in der DDR (über Ernst Bloch in Leipzig, über Walter Hollitscher in Berlin, über Leo Kofler in Halle),
zu einzelnen philosophischen Disziplinen ( Logik und Naturphilosophie)
sowie weitere Beiträge und ein Dokumentenanhang, zusammengestellt von H.-C. Rauh.

III.
Die Qualität der einzelnen Aufsätze ist sehr unterschiedlich. Zusammen ergeben sie einen Eindruck, mit welchen Schwierigkeiten die marxistischen und die nichtmarxistischen Philosophen zu kämpfen hatten, wie gering die durchschnittliche Qualifikation der Lehrergeneration war, wie sie trotzdem auf die damalige Studentengeneration begeisternd gewirkt hat, welche Abbrüche es schon vor den Krisenjahren 1956-58 gab. Oft wird auch auf die Hintergründe der sich herausbildenden philosophischen Arbeit eingegangen: auf die ideologischen Vorgaben aus der Sowjetunion wie von der SED mit ihren Funktionären und Ideologen der „reinen Lehre“ (Kurt Hager, Ernst Hoffmann, R.O. Gropp). Wie jedoch ein Philosophiestudium aussah, welche Literatur zur Verfügung stand (und welche nicht) oder mit welchen Kompromissen auf geistigem und politischem Gebiet ein philosophischer Bildungsweg angereichert war, wird man hier nicht suchen dürfen. Doch es gibt Beispiele, die das Philosophieren unter den rigiden ideologischen Bedingungen charakterisieren.

Wer heute wissen will, wie die geistige Atmosphäre in jenen Anfangsjahren war, der lese die Ausfälle gegen Hollitscher auf einer gegen ihn vom ZK der SED anberaumten Tagung 1950 in Berlin (S. 443-449) oder die schlimmen Beschimpfungen Koflers durch R. O. Gropp in der „Einheit“ 1950 (S. 464 ff) über die brillanten Vorlesungen Harichs zur Geschichte der Philosophie und die gegen ihn vorgebrachten ideologischen Vorwürfe 1952/53 (also lange vor seiner Verhaftung) die im Anhang (erneut) publizierte Denkschrift von Günther Jacoby „Über die gegenwärtige Universitätsphilosophie in der Deutschen Demokratischen Republik“ (1954/55) die Auseinandersetzungen um Hegel, die die DDR-Philosophie tief spalteten wie das Werk eines Nichtphilosophen zum exemplarischen Lehr- und Musterbuch für DDR-Philosophen hochstilisiert wurde (Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“).

Als theoretisch anspruchsvolle Bausteine für eine politisch-ideologisch konzipierte oder das innerphilosophische Geschehen umfassende Geschichte der Philosophie in der DDR eignen sich von allen Beiträgen meines Erachtens nur wenige: Wegen ihrer konstitutiven Fragestellungen die Aufsätze von Peter Ruben &#8222;Von der Philosophie und dem deutschen Kommunismus&#8220; und Norbert Kapferer &#8222;>... vom philosophischen Erbe abgetrieben<?&#8220;, wegen der Materialfülle die Aufsätze von Camilla Warnke zur Hegel-Rezeption und zu Harichs Vorlesungen sowie Lothar Kreisers großer Überblick über die Lehre und Lehrinhalte der Logik an den philosophischen Fakultäten 1945 bis 1954.

IV.
Wegen ihrer paradigmatischen Bedeutung soll auf die ersten dieser Aufsätze genauer eingegangen werden.

Ruben gibt nicht nur eine akzeptable Definition von DDR-Philosophie (&#8222;die im Gebiet der einstigen SBZ und nachfolgenden DDR unternommenen akademischen Anstrengungen ...., die mit der Errichtung dieses Staats verbundenen politischen und ökonomischen Absichten der deutschen Kommunisten philosophisch zu begründen bzw. zu legitimieren&#8220;), sondern entwirft in prägnanten Zügen auch deren Genese: die sich über 150 Jahre &#8211; seit Moses Hess &#8211; hinziehende Verbindung zwischen modernem Kommunismus und Philosophie. Während Karl Marx 1844 den Konnex von Philosophie und Proletariat herstellte, ist die eigentliche kommunistische Philosophie von Friedrich Engels (&#8222;Anti-Dühring&#8220; 1878) geschaffen worden, deren &#8220;weitere Durchbildung ... eine deutsch-russische Gemeinschaftsbildung&#8220; gewesen sei, &#8222;die ganz wesentlich von Georgi Plechanow im heftigsten Konflikt mit Eduard Bernstein begründet worden ist&#8220;.

Deshalb gibt es auch eine sozialdemokratische und eine kommunistische Interpretation des Marxismus. Karl Kautsky repräsentierte trotz Lenins Kritik den Marxismus seiner Zeit &#8211; doch gehört er nicht zu den Wurzeln der DDR-Philosophie. Deren Weg geht von Plechanow &#8211; der 1883 die russische Marx-Rezeption begründete &#8211; über Lenin und den Leninismus in die KPD.
Die frühe DDR-Philosophie - das ist die interessante These von Ruben - ist bereits in der Weimarer Republik und im engsten Kontakt mit dieser Partei begründet worden, doch deren wichtigste marxistische Theoretiker August Thalheimer (1884-1948) und Kurt Sauerland (1905-1937) wurden als Un-Personen nie in die DDR-Philosophie eingelassen. Diese entwic kelte sich &#8211; politisch konkurrenzlos - aus Stalins kleiner Schrift &#8222;Über dialektischen und historischen Materialismus&#8220; (1938). Dazu Ruben: &#8222;Was immer danach an Lehrbüchern und sonstigen Texten in der DDR verfaßt worden ist, hat jene 35 Seiten mindestens zur stillen Richtschnur.&#8220;

Kapferer geht in seinem Beitrag speziell den Bruchstellen im Denken von Lukács und Bloch nach &#8211; wie also beide bildungsbürgerlichen Philosophen über die Annäherung und produktive Beschäftigung mit der marxistischen Philosophie schließlich seit den dreißiger Jahren immer stärker zu Ideologen und Propagandisten auch des Stalinismus wurden, worunter sichtbar die Qualität ihrer Arbeiten litt &#8211; und wirft dabei die schlichte Frage auf, die konzeptionell jede Darstellung der Geschichte der DDR-Philosophie beeinflussen wird: &#8222;Was gehört zum Werk?&#8220; Am gutuntersuchten (und nach wie vor kontroversen) Beispiel Martin Heideggers stellt er paradigmatisch die Frage, &#8222;ob politisches Verhalten (politische Reden, Bekenntnisse in Briefen, Zeitungsartikel, Kontakte, Parteizugehörigkeit, Denunziation etc.) dem philosophischen Corpus zugeschlagen werden dürfen oder nicht&#8220;.

Im Falle Heideggers haben sich sehr divergierende Positionen herausgeschält, deren &#8222;Spannweite von völliger Trennung der Philosophie von der Politik (bei Arendt, Rorty) bis zur Einheit von Philosophie und Politik (Adorno, Bourdieu, Farias)&#8220; reicht. Also durchaus kein Scheinproblem. Kapferer geht diesen Denkwegen sorgfältig nach, sein Resultat heißt schon für die dreißiger Jahre, daß Bloch und Lukács als Propagandisten der Partei schrieben und dies &#8222;keine bloße Nebentätigkeit zu ihrer eigentlichen, sonst rein philosophischen Arbeit war, sondern im Zentrum ihres geistigen Schaffens stand&#8220;. Dies verfolgt er nun bis in die Zeit ihres Wirkens in der DDR und dürfte dem erneuten kritischen Durchdenken der wohl einflußreichsten marxistischen Philosophen in jenem Staate dienen. Doch die konzeptionelle Frage &#8222;Was gehört zum Werk&#8220; sollte für die gesamte DDR-Philosophie gestellt werden. Nicht zuletzt gehörte es zum definierten Selbstverständnis des gesamten Marxismus, die untrennbare Verbindung von Philosophie und Politik und Arbeiterklasse und SED gebetsmühlenartig herunterzuleiern. Die heutige Gegenposition vieler (ehemaliger) Marxisten lautet, dies als zeitbedingte Akkomodierung auszuklammern, womit natürlich ein Großteil der philosophischen Produktion sich erledigt hätte. Doch bei einer wissenschaftlich seriösen Darstellung der Geschichte der Philosophie in der DDR wird man sich &#8211; belehrt durch die &#8222;Fälle&#8220; Heidegger, Lukács, Bloch - dieser Frage in voller Schärfe stellen müssen.

V.
Das Buch zeigt &#8211; und das ist nicht erstaunlich &#8211; unterschiedliche politische Sichtweisen und philosophische Wertungen. Da gehen persönliche Erinnerungen an die eigene Entwicklung und heutige Beurteilungen der radikal veränderten akademischen Landschaft ein, etwa wenn
die fünfziger Jahre &#8211; die Hoch-Zeit des Stalinismus in der Philosophie und den Gesellschaftswissenschaften - insgesamt als diskussionsfreudig und positiv gesehen werden (Heinz Liebscher) oder die persönliche Vorbildwirkung der Lehrer auch ihr philosophisches Ouevre jener Jahre aufwertet. Dazu gehört auch, daß Reinhard Mocek eine Erfolgsgeschichte der marxistischen Naturphilosophie zu schreiben versucht, die nicht überzeugt und Ergebnisse behauptet, ohne sie zeigen zu können. Wie man eine philosophische Disziplin, die in dem abgesteckten Zeitraum nicht gerade zu den Stärken der DDR-Philosophen gehörte, historisch genau und kritisch behandeln kann, zeigt Kreiser mit seinem Logik-Beitrag.

Es fällt auf, daß alle Autoren sich sehr in der Würdigung der einst hochgepriesenen Klassiker Marx, Engels, Lenin zurückhalten, umgekehrt fällt aus dem Rahmen allein H.-C. Rauh mit seinen überkompensierenden peinlichen Wortschöpfungen wie &#8222;stasifaschistoid&#8220;, &#8222;stalin-faschistoid&#8220; oder den Kennzeichnungen &#8222;materialistisch->widerspiegelungstheoretisch< vereinseitigte ursprüngliche Marxsche <praxis<-dialektische Philosophie&#8220; (gemeint ist Lenin) oder &#8222;leninistisch-vulgärmarxistisch verelendeter Pseudo-Marxismus&#8220; (gemeint ist Stalin).

Was durch diesen Band aus der Vergessenheit herausgehoben wurde und dadurch zu weiteren Bausteinen einer künftigen Gesamtdarstellung werden sollte, sind neben den bereits genannten Vorlesungen Harichs zur Geschichte der Philosophie (von C. Warnke bereits aus ihren Mitschriften auf CD festgehalten) das durch P. Ruben vorgestellte Riesenmanuskript von Zweilings Vorlesungen &#8222;Der marxistische philosophische Materialismus&#8220; (1955-58) und die von Hubert Laitko erwähnten, inzwischen auch in Marburg 1991 erschienenen Vorlesungen Hollitschers zur Dialektik der Natur (1949-50).

Der Anhang bringt auf knapp 50 Seiten einige interessante Dokumente: darunter einen Fragebogen der Sowjetischen Militäradministration von 1948 für die Philosophielehrkräfte in Ostdeutschland über deren Verhältnis zum Materialismus und zu ihren wichtigsten philosophischen Auffassungen (hier mit den Antworten von Hans Leisegang), die Studienpläne für das Fach Philosophie 1951 und 1956, schließlich die (immer berühmter werdende) Denkschrift von Günther Jacoby zur Universitätsphilosophie.

VI.
Dieser Band schließt einige wesentliche Lücken unserer bisherigen Kenntnis. Die wirklichen Lehrer und die wirklichen Behinderer der marxistischen Philosophie werden klar genannt &#8211; es empfiehlt sich als geistige Entspannungsübung ein Vergleich dieses Buches mit der eingangs genannten parteiamtlichen Darstellung desselben Zeitraumes von 1979. Was in diesem Band eindeutig zu kurz kommt, ist die genaue Darstellung der großen Auseinandersetzungen um eine erneuerte Philosophie in der kurzen Zeit 1956/57. Eines der wichtigsten Ereignisse auf dem Gebiet der Philosophie &#8211; die &#8222;Freiheitskonferenz&#8220; vom Mai 1956 &#8211; kommt generell nur am Rande vor. Bei der Ehrenschuld, die durch die Aufnahme der bürgerlichen Philosophen in der SBZ/DDR in diesen Band abgeleistet wird (mehr ist es noch nicht), hat man auf jeden Fall Rudolf Schottländer vergessen. Genauer sollten auch - über die hier vorliegenden meist dürren Daten hinaus &#8211; die Karrieren der DDR-Philosophen untersucht werden.

Ein Vorschlag zum Abschluß: Sollte einmal eine umfassende Geschichte der Philosophie in der DDR zu schreiben beabsichtigt sein, so sollte dies nicht mehr im konzeptionellen Rahmen des Teilstaates DDR geschehen, sondern wäre in Übereinstimmung mit heutigen historiographischen Konzepten in einem gesamtdeutschen Philosophiegebäude zu realisieren.

Literaturverzeichnis:
Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR. Von 1945 bis Anfang der sechziger Jahre. Hg. von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1979
Philosophie für eine neue Welt. Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie. Hg. von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED unter Leitung von V. Wrona, Berlin 1988
Kapferer, N.: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945-1988, Darmstadt 1990
Herzberg, G.: Abhängigkeit und Verstrickung. Studien zur DDR-Philosophie, Berlin1996
-: Aufbruch und Abwicklung. Neue Studien zur Philosophie in der DDR, Berlin 2000

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