Ph. Löser u.a. (Hgg.): Universität der Gelehrten

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Titel
Universität der Gelehrten - Universität der Experten. Adaptionen deutscher Wissenschaft in den USA des neunzehnten Jahrhunderts


Herausgeber
Löser, Philipp; Strupp, Christoph
Reihe
Transatlantische Historische Studien 24
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
171 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfrid Halder, Technische Universität Dresden

Historia magistra vitae – längst sind wir erkenntnistheoretisch gebrannten Kinder der Postmoderne der vollmundig formulierten Selbstgewissheit vergangener Zeiten verlustig gegangen, dahin ist der Fortschrittsoptimismus unserer Vorväter in der Zunft. Und doch kann Geschichtswissenschaft immer noch erhellende Beiträge zu gegenwärtigen, um Zukunftsmodelle ringenden Diskussionen liefern. Das stellt der vorliegende Band unter Beweis – und dies gerade in einem Bereich, der uns alle beschäftigt, werden wir doch unverwandt mit neuen Negativmeldungen zum Thema Bildungsmisere gePISAckt. Denn die Beiträge des Bandes, der ursprünglich auf eine Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Washington im April 2002 zurückgeht, zeigen nicht zuletzt zweierlei: Zum einen, dass Auseinandersetzungen um Sinn oder Unsinn der Übertragung von in einem Land entwickelten Bildungskonzepten auf ein anderes alles andere als neu sind. Zum anderen, dass dergleichen Übertragungen nicht einfach 1:1 erfolgen, sondern dass dabei in einem produktiven Prozess durch Wechselwirkungen mit den Voraussetzungen des vorhandenen Bildungssystems länderspezifische Anpassungen stattfinden. Dies sollten insbesondere diejenigen zur Kenntnis nehmen, die glauben vor der vermeintlich drohenden Gefahr der radikalen Trennung von bewahrenswerten eigenen Bildungstraditionen warnen zu müssen, wenn bei Reformbestrebungen in Schule und Hochschule anderwärts Anleihen genommen werden.

Die beiden Herausgeber verweisen in ihrer Einleitung (S. 7-30) natürlich zu Recht darauf, dass in der aktuellen bildungspolitischen Debatte immer wieder die hier befürwortete und dort bestrittene Vorbildfunktion des US-amerikanischen Bildungssystems ins Feld geführt wird. Angeregt von dieser Debatte wollen sie als – indirekten – Beitrag dazu den deutsch-amerikanischen Wissenschaftsbeziehungen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgehen. Ausgangspunkt ist die gemeinhin verbreitete Ansicht, dass das in diesem Zeitraum weltweit als besonders leistungsfähig betrachtete deutsche (resp. preußische) Bildungssystem auch tief greifenden Einfluss insbesondere auf die amerikanische Hochschullandschaft ausgeübt hat. In der Überzeugung, dass beim Transfer deutscher Bildungsvorstellungen verschiedene Mittlerpersönlichkeiten herausragende Bedeutung hatten, sind die einzelnen Beiträge zumeist auf die Tätigkeit einer oder mehrerer dieser Personen konzentriert. Löser und Strupp geben ansonsten einen Überblick über die deutsch-amerikanischen Wissenschaftsbeziehungen im Untersuchungszeitraum. Sie verdeutlichen nicht zuletzt, dass bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Zahl amerikanischer Studenten an deutschen Hochschulen eingeschrieben war (bei anhaltend steigender Tendenz), und dass aus deren Reihen dann in der Regel die wichtigsten Mittlerpersönlichkeiten hervorgingen. Sie gehen davon aus, dass in den 1890er-Jahren „mehr als 2.000 Amerikaner“ in Deutschland studierten (S. 13). Setzt man diese Zahl in Beziehung zu den insgesamt an deutschen Hochschulen Immatrikulierten (1891: 33.992) 1, fällt sie noch beeindruckender aus.

Es folgen insgesamt sieben Fallstudien, die ein breites Fächerspektrum abdecken und von amerikanischen und deutschen Wissenschaftler/innen stammen. Deren erste, für die Thomas Albert Howard verantwortlich zeichnet, befasst sich mit dem Einfluss der deutschen Theologie auf dieses Fach in den USA (Deutsche Universitätstheologie in den USA. Edward Robinson und Philip Schaff; S. 31-51). Vielleicht hätte in der Überschrift deutlich gemacht werden sollen, dass es um protestantische Theologie geht. Gleich hier tritt ein Umstand hervor, den auch die anderen Beiträge untermauern: Im 19. Jahrhundert waren es weniger Einwanderer bzw. Emigranten, die mit ihrem Expertenwissen wesentlich zum Transfer von wissenschaftlichen Methoden und Inhalten beitrugen, als vielmehr zumeist gebürtige Amerikaner, die einen Teil ihrer akademischen Ausbildung im Ausland absolviert hatten. Der gebürtige Schweizer Schaff, der in Tübingen, Halle und Berlin studierte hatte, gelangte in die USA durch einen für ihn selbst überraschenden Ruf nach Mercersburg, Pennsylvania. Robinson hingegen, typischer für die Mehrzahl der vergleichbaren Mittlerpersönlichkeiten, hatte sein in den USA aufgenommenes Studium in Berlin, Göttingen und Halle fortgesetzt und war dann zurückgekehrt.

Christoph Strupp (Auf der Suche nach der neuen Form. Andrew Dickson White, Gründungspräsident der Cornell University; S. 53-69) hat sich mit dem Wirken eines Mannes befasst, dessen Gestaltungsspielraum besonders groß war, da er an der Spitze einer neu gegründeten Hochschule stand. White konnte, begünstigt durch den Reichtum seiner Eltern, nach einigen Semestern in Yale, in Europa weiter studieren und hat den alten Kontinent kreuz und quer durchreist. Dauerhaft positive Eindrücke hinterließ die Zeit an der Berliner Universität bei ihm, auch wenn gerade Leopold von Ranke ihn dort enttäuschte. Nachdem White nach seiner Rückkehr in die USA eine vielfältige berufliche Karriere keineswegs nur im akademischen Bereich absolviert hatte, kam er seit 1868 als Mitgründer der Cornell University auf seine europäischen Erfahrungen zurück. Dass er diese fruchtbar machte, ohne das europäische System einfach zu kopieren, zeigt etwa der Umstand, dass an der Cornell University bereits seit 1872 uneingeschränkt auch Frauen studieren durften. Das hat in Deutschland bekanntlich rund dreißig Jahre länger gedauert.

Die beiden folgenden Beiträge von David Cahan (Hermann von Helmholtz und die Ausgestaltung der amerikanischen Physik im Gilded Age; S. 71-87) und Jeffrey Slansky (Das Gilded Age als Reifeprüfung. G. Stanley Halls Psychologie der Industrialisierung; S. 89-103) zeigen, dass keineswegs nur der geisteswissenschaftliche Bereich dem Einfluss von jenseits des Atlantiks unterlag. Cahan etwa weist 20 amerikanische Studenten bzw. Postdocs nach, die zwischen 1871 und 1894 in Helmholtz’ Berliner Seminar studierten, und die später sämtlich als Professoren an amerikanischen Hochschulen oder in Forschungseinrichtungen wirkten.

Mit Henry Adams tritt dann bei Philipp Löser („Negative Forces have Value“. Zur Aneignung und Überbietung des Wissenschaftsparadigmas bei Henry Adams; S. 105-122) ein Historiker in den Vordergrund. Adams hat zwar eine Zeitlang in Berlin gelebt, dort aber aufgrund von Sprachproblemen wohl nur wenig Zeit unmittelbar an der Universität verbracht. Später hat er gleichwohl als zeitweiliger assistance professor in Harvard wesentlich zur Übernahme methodischer Grundsätze im Anschluss an Ranke durch die amerikanische Geschichtswissenschaft beigetragen.

Im Beitrag von Gabriele Lingelbach (Die Gründung von Schools of Political Science an amerikanischen Universitäten. Ein anachronistisches Experiment am Ende des neunzehnten Jahrhunderts; S. 123-139) stehen weniger einzelne Persönlichkeiten im Vordergrund als vielmehr die von unterschiedlichen Kräften unternommenen Versuche, die Ausbildung künftiger politischer Verantwortungsträger in neuer Form zu institutionalisieren. Neben innerfachlichen Faktoren sieht Lingelbach einen entscheidenden Grund für das Scheitern derartiger Bestrebungen in der tief sitzenden Abneigung der amerikanischen Gesellschaft gegen „Berufspolitiker“. Der vom Anspruch her sozial offene Freiheitsgedanke vertrug sich nicht mit der Vorstellung einer eigens an öffentlichen Bildungsinstitutionen herangezogenen „monopolisierenden Funktionselite“. Schließlich wendet sich Christie Hanzlik-Green (Erwachsenenbildung und die Rolle des akademischen Experten. Die Anfänge der Extension Lectures der University of Wisconsin, 1890-1897; S. 141-162) den Wirkungsmöglichkeiten universitärer Lehreinrichtungen über die unmittelbare akademische Klientel hinaus zu. Es überrascht wenig, dass sie als einen wesentlichen Erfolgsfaktor hierfür die Zeit und die Energie ausmacht, welche die beteiligten Professoren zu investieren bereit bzw. in der Lage waren.

Der vorliegende Sammelband, der insgesamt dem Paradigma des Kulturtransfers verpflichtet ist, kommt unspektakulär daher. Dennoch ist er wichtig, zeigt er doch, dass die Geschichtswissenschaft zwar nicht als „magistra vitae“ unmittelbar retrospektiv Lösungskonzepte für Gegenwartsprobleme aufzuzeigen vermag, aber dass sie in der Lage ist, aktuelle Problemdiskussionen mithilfe historischer Vergleichsperspektiven zu nuancieren. Denn im Lichte der hier nachvollzogenen wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert erscheint die gegenwärtige und womöglich zukünftige Übernahme von Elementen des amerikanischen Bildungssystems nicht als Fremdimport, sondern lediglich als eine weitere Etappe eines längst bestehenden Austauschverhältnisses.

Anmerkung:
1 Vgl. Hohorst, Gerd; Kocka, Jürgen; Ritter, Gerhard A., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914, München 1975, S. 76.

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