B. Holtwick: Der zerstrittene Berufsstand

Titel
Der zerstrittene Berufsstand. Handwerker und ihre Organisationen in Ostwestfalen-Lippe (1929-1953)


Autor(en)
Holtwick, Bernd
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 36
Erschienen
Paderborn u.a. 2000: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
DM 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffens, Sven

Bei der anzuzeigenden Publikation handelt es sich um eine 1999 an der Universität Bielefeld vorgelegte Dissertation, die unter Hans-Ulrich Wehler und Heinz-Gerhard Haupt angefertigt und für die Publikation leicht überarbeitet worden ist. Die Arbeit stellt eine, um es vorweg zu sagen, überaus gelungene und anregende Verbindung und Fortentwicklung der mit den Namen von Wehler und Haupt verbundenen historiographischen Tendenzen, der Struktur- und Gesellschaftsgeschichte einerseits, der sowohl politischen, als auch kulturellen Sozialgeschichte andererseits, dar.

Es macht die Bedeutung dieser Studie aus, daß sie inhaltlich Perspektiven entfaltet, die weit über den ausgewählten regionalen Rahmen hinausreichen, und daß sie methodisch in einer Weise verfährt, die eine kurze, aber griffige theoretische Reflexion mit breiter empirischer Analyse verbindet. Das Ergebnis ist eine dynamische, multifaktorielle Vision der Entwicklung einer sozialen Gruppe und ihrer Organisationen. Inspiriert von der Synthese, die Geoffrey Crossick und Heinz-Gerhard Haupt zur Geschichte des (hauptsächlich west-)europäischen Kleinbürgertums im 'langen' 19. Jahrhundert vorgelegt haben 1, behandelt Holtwick einen noch wenig bekannten Aspekt — die Sozialgeschichte der organisierten handwerklichen Interessenvertretung — für eine in dieser Hinsicht noch wenig untersuchte Periode — von der Weimarer Republik bis zur frühen Bundesrepublik Deutschland —, das Ganze im Rahmen einer Regionalstudie.

Gegen die Wahl Ostwestfalen-Lippes als Untersuchungsraum ist im Prinzip nichts einzuwenden, zumal die Quellenlage offenbar eine recht günstige ist; problematisch erscheint dagegen die implizite Behauptung, es handele sich um eine für Deutschland repräsentative Region (S.32), was aus mindestens zwei Gründen sicher nicht zutrifft: Erstens sind wirkliche Großstädte hier nicht zu finden (die bedeutendsten Städte sind Bielefeld, Herford und Paderborn), und zweitens ist die Vorgeschichte der Handwerksorganisationen dieser Region nur eingeschränkt vergleichbar mit derjenigen anderer deutscher Regionen.

An ungedruckten Quellen zieht Holtwick hauptsächlich solche institutioneller Provenienz heran, an gedruckten vor allem zahlreiche Organe der Handwerkspresse, aber die Basis, sprich die Handwerker selber kommen kaum direkt zu Wort. Der letzte Punkt bezeichnet natürlich eine bedeutende Einschränkung der Analyse. Die Bibliographie ist erfreulich ausgedehnt, deckt den regionalen Untersuchungsraum ab, berücksichtigt auch andere Regionen und den nationalen Kontext und schließt zudem mehrere Titel zum französischen Handwerk des 20. Jahrhunderts ein, kurz, alles Wesentliche ist hier zu finden. Ein kleiner Mangel besteht darin, daß die benutzten Periodika in der Bibliographie leider undatiert, d.h. ohne Angabe der faktisch erschienenen (oder zumindest der konsultierten) Jahrgänge genannt werden (S.411-412). Ergänzt wird der laufende Text durch einige Abbildungen, Graphiken und Tabellen sowie durch einen umfangreichen, vor allem aus 85 Tabellen und 14 Graphiken bestehenden Anhang (S. 337-404).

Leitende Fragen Holtwicks betreffen die komplexe sozio-kulturelle Physionomie der Handwerker und das Wechselspiel zwischen der Basis und ihren Organisationen einerseits, zwischen den Organisationen und dem gesamtgesellschaftlichen Kontext andererseits. Nicht um eine apologetische Success-story des Handwerks, der Handwerksinnungen und -kammern geht es — wenngleich Holtwick die tatsächlich beachtlichen Erfolge gebührend beleuchtet —, sondern um eine kritische, nuancierte Analyse der "internen Konflikte von Sozialformationen" (S.1) am Beispiel der Handwerker.

Für den theoretischen Rahmen greift Holtwick auf das Kapital-, das Distinktions- und das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück und erweitert letzteres um bzw. korrigiert es durch das Konzept kognitiver Regelsysteme, wie es Hansjörg Siegenthaler entworfen hat 2. Diese forschungspraktische Konstruktion erlaubt es, in der Analyse über das hinauszugehen, was früher einmal Ideologiekritik geleistet hat, und den historischen Akteuren eine (relative) Rationalität und Kompetenz zuzuerkennen, die hilft, sowohl eingeschliffene Verhaltensweisen, als auch Lern- und Anpassungsprozesse zu erklären.

Wesentlich für den von Holtwick verfolgten Ansatz ist die Erkenntnis, daß 'das Handwerk' weder eine naturwüchsige Essenz, noch eine ungebrochene historische Kontinuität, noch eine soziale Homogenität besaß und daß sich somit hinter dem Kollektivplural 'Handwerk' eine Gemengelage divergenter sozialer Situationen verbarg. Hier greift Holtwick auf die von Theodor Geiger in den 1930er Jahren einprägsam formulierte These von der sozialen Zerklüftung der Handwerkerschaft zurück — allerdings ist schon Gustav Schmoller und anderen hellsichtigen Beobachtern des 19. Jahrhunderts dieses Phänomen aufgefallen —, Zerklüftung, die in ihrer einfachsten Ausprägung an der Betriebsgröße ablesbar war. Holtwick unterscheidet in von ihm selber gewählter Terminologie zwischen "Kleinsthandwerkern" (d.h. Selbständige ohne Beschäftigte), "mittleren Handwerkern" (d.h. Selbständige mit bis zu neunzehn Beschäftigten) und "Handwerksunternehmern"; bildeten die Letzteren nur eine zahlenmäßig kleine Minderheit, so stellten die "mittleren Handwerker" die Mehrheit, sahen aber unter sich die nur wenig kleinere Gruppe der proletaroiden 'Alleinmeister' in Stadt und, mehr noch, auf dem Land. Die Ungleichheit der sozialen Lage, der Arbeitsweise und der wirtschaftlichen Mentalität dieser drei Gruppen, so lautet das Argument, bedingte interne "Distinktionskämpfe" (Bourdieu), aus denen letztlich die Kleinsthandwerker als Verlierer und die mittleren Handwerker als Gewinner hervorgehen sollten. Wenn also im Diskurs der historischen Subjekte von 'dem Handwerk' die Rede ist, so handelt es sich um eine intentionale Konstruktion, die die Vorstellung von Einheit, Geschlossenheit und Kontinuität bewirken sollte und mußte, eben weil erhebliche Spannungen innerhalb 'des Handwerks' bestanden.

Dies erklärt die im Titel angezeigte Periodisierung, denn die Gewerbenovelle von 1929 und die Handwerksordnung von 1953 waren Meilensteine auf dem Weg der (Selbst-)Definierung von 'Handwerkern' im rechtlichen und organisatorischen Sinne. Holtwick geht aber auch recht ausführlich auf die Vorgeschichte ein und skizziert die deutsche wie die regionale Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert (Kap.1-3) und arbeitet dabei neben den eher traditionellen Charakteristika - Stichwort 'personales Wirtschaften' (in revidierter Form übernommen von Wilhelm Wernet) i.S. von arbeiten in kleineren Betrieben sowie produzieren, wirtschaften innerhalb kleinerer, überschaubarer Märkte und sozialer Netze — vor allem die Traditionsbrüche und Wandlungen heraus. Gerade der letzte Punkt verdient Beachtung, auch wenn der Topos der Anpassung der Handwerker an die Industriegesellschaft schon früher formuliert worden ist, wohl am einflußreichsten von Wolfram Fischer, den Holtwick allerdings kaum rezipiert.

Als wichtigste Ergebnisse lassen sich festhalten: 1. das Bild eines vormodernen Überhangs in Mentalität und Verhalten der Handwerker, ihrer angeblichen wirtschaftlichen Rückständigkeit und ihres vermeintlichen Hanges zur politischen Radikalität muß modifiziert, wenn nicht revidiert werden; personales Wirtschaften ließ sich sehr wohl in die kapitalistische Wirtschaftsform integrieren; und was die politische Haltung der Handwerker in den 1930er Jahren betrifft, so ist zwar eine bürgerlich-konservative Grundtendenz unleugbar, aber eine massive und besonders pointierte Unterstützung der NSDAP nicht nachweisbar. 2. Die Konfliktlinien innerhalb der Handwerkerschaft und d.h. zuerst die ökonomisch motivierte Konkurrenz zwischen Kleinsthandwerkern, mittleren Handwerkern und Handwerksunternehmern prägten zutiefst das Verhalten der Handwerksorganisationen, die gleichwohl nach außen ein Bild von Geschlossenheit und gemeinsamer Interessenlage zu vermitteln versuchten.

Die Einführung des 'Großen Befähigungsnachweises' (1935) stellte für die Kleinsthandwerker eine schwere Niederlage dar. 3. Die unbestreitbaren Erfolge der Handwerksorganisationen wären allerdings undenkbar gewesen ohne das, wenn auch von Regime zu Regime unterschiedlich akzentuierte Interesse der politisch dominanten Formationen an einem sozial und wirtschaftlich stabilen 'Mittelstand'. Nur durch das staatliche Handeln konnte die sozialstrukturell bedingte Instabilität der handwerklichen Organisationen ausgeglichen werden.

Forschungsdesiderata im Anschluß an Holtwicks Studie sind m.E. sozialgeschichtliche Untersuchungen der Handwerksorganisationen im 19. Jahrhundert, wozu mit der Arbeit von Dirk Georges immerhin ein erster Schritt getan ist 3, und, wie es Holtwick selber anregt, ebensolche Studien zum Übergang vom 'Alten Handwerk' zum Handwerk in der Industriegesellschaft unter Berücksichtigung sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Aspekte, um die verschiedenen Formen von Selbständigkeit und Interessenorganisation besser zu verstehen.

Anmerkungen:

1 CROSSICK (Geoffrey), HAUPT (Heinz-Gerhard), The Petite Bourgeoisie in Europe 1780-1914. Enterprise, Family and Independence, London, 1995.

2 SIEGENTHALER (Hansjörg), Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen, 1993.

3 GEORGES (Dirk), 1810/11-1993: Handwerk und Interessenpolitik. Von der Zunft zur modernen Verbandsorganisation, Frankfurt/M., 1993.

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