Cover
Titel
Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden


Herausgeber
Fischer, Norbert; Herzog, Markwart
Reihe
Irseer Dialoge - Kultur und Wissenschaft interdisziplinär 10
Erschienen
Stuttgart 2005: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
277 S., 76 s/w Abb.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Elisabeth Hilger, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Dem Anspruch der Reihe entsprechend ist hier eine Veröffentlichung anzuzeigen, deren Beiträge interdisziplinärer Zusammenarbeit entspringen. 15 Autoren/innen, Vertreter/innen der Kulturwissenschaften und Kulturanthropologie, der Religionsphilosophie, der Volkskunde, der Kunst- und Sozialgeschichte und der Landespflege haben sich einer Thematik gewidmet, die kaum einen unberührt lassen kann, der Bezüge zu Tod und Friedhof hat. Schon wer die 13 Abhandlungen zu den größeren Bereichen „Wegmarken und Wendepunkte“, „Außenseiter und Ausgegrenzte“, „Aufbrüche ins 21. Jahrhundert“, ergänzt durch einen einleitenden Abschnitt und einen „Epilog“, und insbesondere dann die Themen und deren Untergliederung studiert, wird gewahr, wie reichhaltig und bunt der Zugang zum Phänomen Friedhof ist, zumal wenn er wie hier in fast jedem Aufsatz mit zahlreichen Abbildungen veranschaulicht wird.

Die knappe Einführung durch die beiden Herausgeber unter dem Titel „Diskurse über Tod, Trauer und Erinnerung. Zur Kulturgeschichte der Friedhöfe“ gibt zunächst einen vorzüglichen Überblick über die vielfältigen und anschließend gesondert erörterten Aspekte der Annäherung an Friedhofsentwicklungen und mögliche Trends bis zum grundlegenden Wandel der Bestattungs- und Erinnerungskultur hin zu neuen virtuellen Gedenkorten. In den einzelnen Beiträgen wird als Erstes (durch Reiner Sörries) der mittelalterliche Friedhof, den man sich – wenig romantisch – „als wüsten Acker mit Massengräbern oder kreuz und queer angelegten Grabgruben vorstellen muß“ (S. 26), mit dem sich über Jahrhunderte hinziehende Prozess seiner Auslagerung vor die Tore der Stadt und des Übergangs der Verantwortung für ihn von der Kirche zu den Kommunen nachgezeichnet. Es folgt ein Beitrag „Tod ist nicht Tod – ist nur Veredelung sterblicher Natur“ (Barbara Happe) über die tiefen Umbrüche im 18. und 19. Jahrhundert, denen vor allem die Verbreitung hygienischer Vorstellungen als qualitativ neuer Aspekt zugrunde liegt. „Ästhetisierung der Friedhöfe“ (Barbara Leisner) verfolgt französische und insbesondere amerikanische Parkfriedhofsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts als Vorläufer der dann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts landschaftsgärtnerisch durchgestalteten deutschen Friedhöfe u.a. von Kiel, Bremen und Hamburg. Einen neuen Gesichtspunkt bringt „Privatfriedhöfe und Mausoleen“ (Michaela Henning), nämlich die Behandlung privilegierter Bestattungsformen beispielhaft an Schleswig-Holstein und Hamburg veranschaulicht.

Der nächste Aufsatz „Soldatenfriedhöfe“ (Helmut Schoenfeld) widmet sich hauptsächlich der Frage, ob die Friedhofsreform des 20. Jahrhunderts durch die Anlage von Soldatenfriedhöfen des I. Weltkrieges in der Typisierung, Ästhetisierung und Rationalisierung beeinflusst worden ist. Ein berührender, mit vielen Beispielen gespickter Abschnitt handelt „Von ‚Schinderkuhlen` und ‚Elendenecken`“ (Sylvina Zander), d.h. von den vielfachen Ein- und Ausgrenzungen, die qua Vorstellung von „Unehrlichkeit“ und auch Magie das Begräbniswesen in seinen Formen und Vollzügen über Jahrhunderte regional sehr unterschiedlich und abhängig von jeweiligen Machtgegebenheiten bestimmt haben. Ein bis heute fortbestehendes Problemfeld wird in „Friedhöfe eines ‚unzeitigen’ Todes“ (Michael Prosser) bearbeitet. Dabei geht es anhand textlicher und örtlicher Beispiele um das Bestattungsverfahren, „wenn Geburt und Tod, Eintritt und Verlassen der Welt zusammenfallen“ (S. 127), also um die Bestattung von ungetauften Kindern. Aufschlussreich ist der Verweis auf den deutlichen Wandel des Umgangs mit Toten an der Nordseeküste in „Tod am Meer“ (Norbert Fischer). Der nachlässige Umgang mit Strandleichen und Schiffbrüchen änderte sich spätestens dann, als die Autonomie der Küstengebiete eingeschränkt wurde und sich die Einstellung der Öffentlichkeit vermittelt über neues Naturverständnis, den Fremdenverkehr und durch die Entwicklung einer regionalen Identität an der Küste durch Rückgriff auf den Mythos vom bedrohlichen Meer wandelte. Am Beispiel einer portugiesischen Region werden „Ausgrenzungen – Eingrenzungen“ (Dorle Dracklé) behandelt, deren Besonderheit nicht nur in der Form der Grabmäler, sondern auch in der sich erst heutzutage abmildernden sozialen Differenzierung bei der Lage der Gräber niederschlägt. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die meisten Menschen namenlos in Knochengrüften in der Kirche selbst oder nahebei bestattet. Die Anlage von Friedhöfen und überdauernden Gräbern sowie die Bestattung in Särgen stieß bis zur Revolution von 1974 auf Ablehnung. Dracklé behandelt verschiedene ältere und neuere Beisetzungsformen, z.B. heutzutage in Gräbern mit Grabsteinen oder in Grabmonumenten der reichen Oberschicht. Ihre These ist: „Die neueingerichteten Friedhöfe haben sich nie zu einem Ort der Trauer und des Todesgedenkens entwickelt, denn ein Großteil der Grabmale war nicht von Dauer“ (S. 175).

Das 20. Jahrhundert brachte neue Bestattungsformen hervor. Ein Bereich wird in „Trauer- und Bestattungsrituale der Fußballvereinskultur“ (Markwart Herzog) behandelt. Hier wird die erstaunlich ausdifferenzierte Erinnerungskultur an verschiedenen Vereinsbeispielen (Kaiserslautern etwa) mit ihrem Reliquienkult und Begräbnis in Stadien bzw. auf Aschestreufeldern und in mit Clubinsignien ausgeschmückten Särgen dargelegt. Zugleich weist der Autor auf viele offene Forschungsfragen hin. Einen weiteren neuen Bereich machen die Kreuze an Straßenunfallstellen aus. Unter „Kreuze am Straßenrand“ (Andrea Gerdau) wird diese junge Form der Trauer und Erinnerung schwerpunktmäßig anhand amerikanischer Entwicklungen erörtert und gezeigt, welcher politischen Instrumentalisierung sie unterliegen kann. Eine für die meisten Leser/innen wohl neue Thematik erschließt sich in „Nur Vergessene sind wirklich tot“ (Ira Spieker/ Gudrun Schwibbe). Sie umfasst die Bedeutung von virtuellen Friedhöfen für die Bewertung von Diesseits und Jenseits, für den Umgang mit Realität und Virtualität und für die Veränderungen von Kommunikationsgewohnheiten sowie für die Individualitätsdarstellung des Verstorbenen, für Konstruktion und Rekonstruktion des Lebens. Der Wunsch, auch eigene Trauerbewältigung zu artikulieren, zeigt sich bei einer virtuellen Grabstätte in der Möglichkeit der jederzeitigen Modifizierung. Gestalter des Memorials wie Besucher, auch „Gäste“ können sich auf dem virtuellen Friedhof treffen und damit neue Kontaktformen nutzen, die inzwischen schon zu Zusammenschlüssen von Interessengemeinschaften und Netzwerken und selbst zur Nutzung durch die Kirchen geführt haben.

Anschließend geht es bei „Tendenzen zur Entwicklung von Beisetzungsräumen der Zukunft“ (Gerhard R. Richter) um heutige Bestattungsformen aufgrund sich verändernder Todesvorstellungen. Richter plädiert dafür, dass die Träger und Verwaltungen von Friedhöfen diesen Rechnung tragen und vermehrt alternative Formen aufgreifen sollten. Gefragt sei zukünftig eine vermehrte Vielfalt an Beisetzungsformen z.B. in Gemeinschaftsgrabstätten, Grabfeldern oder auch bei Urnenbestattungen und Aschenbeisetzungen auf Streuwiesen etwa. Die größere Anzahl an Menschen anderer Kulturkreise werde den „Friedhof der Zukunft“ zum multikulturellen, multiethnischen Ort der Beisetzung werden lassen. Dieser Beitrag verdeutlicht ein gewisses Manko des vorliegenden Bandes – trotz seiner schon ungeheuer großen Themenvielfalt: moderne Grabanlagen von Muslimen oder Sinti und Roma beispielsweise werden nicht berücksichtigt, und auch nicht Friedhöfe bestimmter Glaubensrichtungen, jüdische Friedhöfe etwa. Nicht zuletzt daran ist abzulesen, dass das Friedhofsthema auch mit dieser Veröffentlichung keineswegs erschöpft ist. Das macht noch der abschließende Essay „Friedhof Europa“ von Karl Schlögel besonders eindruckvoll deutlich. In ihm geht es um das Signum des 20. Jahrhunderts, nämlich das Massensterben und die Massengräber, bzw. das „Luftgrab“. Schlögel behandelt Grabstätten als Bezüge zwischen Lebenden und Toten, die einschließlich ihres Zustandes der Pflege oder Vernachlässigung zu den Charakteristika einer Kultur gehören. Ihre Zerstörung oder ihr Verschwinden verweist vielfach auf territoriale Verschiebungen und untergegangene Kulturgruppen, ist Zeichen ethnischer Säuberung oder politischer Rache. Aber auch ihr Ausbau und die große Inszenierung staatlichen Todes etwa oder die Formen der Nekropolen sind Ausdruck kultureller Leistungen, denen man sich unter vielen verschiedenen Aspekten nähern kann. Schlögel thematisiert – beeindruckend und bedrückend – Friedhöfe vor allem auch als Abbilder historischer Turbulenzen, weist zugleich allerdings neue friedliche, zukunftsweisende Umgangsformen der Lebenden mit ihren Toten in Europa auf.

Mit der obigen Aufzählung einiger Inhalte sollte betont werden, dass jeder Aufsatz dieses Sammelbandes lesenswert ist. Es liegt mit ihm eine Veröffentlichung vor, die ohne Zweifel als ein Standardwerk der Sozial- und Kulturgeschichte des Todes und von Friedhöfen anzusehen ist, in welchem sich die Zeit vom Mittelalter bis zur jüngsten Entwicklung spiegelt. Die Lektüre könnte nicht informativer und reizvoller sein!

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension