DIE ZEIT (Hrsg.): Welt- und Kulturgeschichte in 20 Bänden

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Titel
Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten, Hintergründe in 20 Bänden. Mit dem Besten aus der ZEIT


Herausgeber
DIE ZEIT
Erschienen
Anzahl Seiten
12.160 S.
Preis
€ 245,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang E.J. Weber, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Bei der Konstruktion und Entwicklung des historischen Gedächtnisses einer modernen Gesellschaft kommt den Medien bekanntlich eine entscheidende Rolle zu. Schon deshalb kann den Geschichtswissenschaften, die den Anspruch erheben, für die Triftigkeit und Angemessenheit dieses Gedächtnisses zuständig zu sein, das Erscheinen der vorliegenden Enzyklopädie nicht gleichgültig sein. Hinzu kommen die Prominenz des Verlages und der erhebliche Marketingaufwand für das Werk, die eine vergleichsweise breite Rezeption des gebotenen Wissens erwarten lassen. Welches historische Wissen vermitteln also die 16 chronologisch geordneten Darstellungsbände, die drei personen- und sachlexikalischen Nachschlagebände sowie der zwanzigste Band als Überblickschronik und Gesamtverzeichnis mit weiterführenden Literaturhinweisen? In welcher Weise und unter welchen Leitperspektiven wird das Wissen aufbereitet? Welche Lücken sind eventuell festzustellen?

Dem Vorwort des „ZEIT“-Herausgebers Helmut Schmidt zufolge versteht sich das von rund 130 Autoren verfasste, mit Bildmaterial bestens ausgestattete und belastungsfähig gebundene Produkt als inhaltlich breit angelegtes Nachschlagewerk, das „die politischen mit den kulturellen Entwicklungen der Menschen verknüpft“ (Bd. 1, S. 6). Nähere Informationen darüber, was unter Politik und Kultur zu verstehen sei und aufgrund welcher Überlegungen die gewählte Darstellungsordnung zustande kam, soll offenbar die anschließende, in der Reihenübersicht nicht ausgewiesene Einführung unter dem Titel „Was ist Geschichte?“ geben (Bd. 1, S. 14-35).

Was dort geboten wird, ist allerdings lediglich eine Begriffsgeschichte und ein äußerst knapper Abriss der Historiographiegeschichte nebst einer Schlussbetrachtung zur Lage der Geschichtswissenschaft „heute“ – zwar üppig mit bildungsbürgerlichen Leittopoi angereichert, faktisch aber auf dem Problem- und Kenntnisstand in Deutschland höchstens um 1990. Von der epochalen Herausforderung europäischer und globaler statt je nationalgeschichtlicher historischer Perspektiven, von der Bedrohung der Menschheitsgeschichte durch die ökologische Frage, von der kaum mehr überschaubaren Vervielfältigung der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen bzw. -objekte und der mit ihnen einhergehenden Quellen und Methoden, von der im historiographischen Rückblick geradezu dramatischen Wende zu einer neuen Konzeption von Kultur und damit einer neuen Kulturgeschichte – von all dem findet sich so gut wie keine Spur. Muss das deutsche Bildungsbürgertum von heute, an das sich diese Bände richten, tatsächlich von allen solchen aktuellen Aspekten verschont und dafür in nationaler Engführung mit den weitgehend bekannten Einsichten Rankes und Burckhardts, Wilhelm Windelbands, Theodor Schieders, Reinhard Wittrams usw. abgespeist werden?

Da explizite Äußerungen zum Programm und zum Aufbau des Werkes also fehlen, sind diese aus der Darstellung selbst zu erschließen. Positiv fällt zunächst die äußere Gestaltung auf. Jedem Band ist ein Reihenüberblick vorgeschaltet, der den Titel des gerade vorliegenden Bandes farbig markiert sowie die chronologische und weltregional-geographische Gesamtanlage des Werkes erkennbar werden lässt. Allerdings werden dabei auch bereits einige Unschärfen und Ungleichgewichte deutlich. Der eingangs nicht definierte Begriff „Kultur“ wird, wie Stichproben erhärten, sowohl sozial für die frühen menschlichen Lebensgemeinschaften eingesetzt („Steinzeitkultur“) als auch normativ für die ‚höher entwickelten’ Gesellschaften („Frühe Hochkulturen in Vorderasien“) und sektoral („Kultur“ im Gegensatz zu Politik, Ökonomie usw.) bzw. sektoral-normativ („kulturelle Errungenschaften“). Gelegentlich passen Bandtitel und Titel der Darstellungsteile nicht zusammen (vgl. Bd. 3: „Frühe Kulturen in Europa“, Titel des ersten Darstellungsteils: „Frühe Hochkulturen in Süd- und Ostasien II“, oder Bd. 10: „Zeitalter der Revolutionen“, Titel des ersten Darstellungsteils: „Europa im Zeitalter des Absolutismus II“). Im Vordergrund stehen ohne nähere Diskussion schon quantitativ die „Hochkulturen“, mithin Europa und die Neuzeit ab dem 18. Jahrhundert. Die ‚weniger entwickelten’, aber aus heutiger Sicht ökologisch besser verträglichen Kulturen kommen demgegenüber etwas zu kurz. Bei der Auswahl der Themen- bzw. Epochenbezeichnungen herrscht die deutsche Konvention vor, wiewohl die Reduzierung der Frühen Neuzeit in der Titelgebung von Band 8 auf den Zeitraum zwischen 1500 und 1648 zumindest merkwürdig erscheint.

Ähnliches gilt für die Gestaltung der Einzelbände und des Seitenlayouts. Das Bandinhaltsverzeichnis ist wieder durch farbig abgesetzte, jetzt eher umgangssprachliche, vielfach in Frageform gehaltene Zusatzüberschriften aufgelockert; die Bandgliederung in einzelne Kapitel erscheint sachlich angemessen und übersichtlich; den ebenfalls nicht unbedingt fachsprachlich-dröge, sondern locker-anregend betitelten Darstellungsabschnitten ist der Name des jeweiligen Autors beigefügt. Der Fließtext ist stark eingerückt, so dass ein Seitenrand für Zitate, Querverweise, Abbildungen und Bilderläuterungen bleibt. Häufig ist der Haupttext zudem durch gelb unterlegte Ergänzungen oder Zusammenfassungen in so genannten Infoboxen unterbrochen. Die zahlreichen Abbildungen können aber auch eine ganze oder einen Teil der Seite einnehmen und bieten die gesamte Gattungsvielfalt von der Textquellenreproduktion über die Objektdarstellung zum Porträt und zur Planzeichnung bis zur Originalfotografie und der Karte. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass die Platzierung dieses zumeist durchaus geschickt gewählten Materials nicht optimal gelungen ist: Die Kombination mit dem Text stimmt häufig nicht; manchmal sind bestimmte Sachverhalte doppelt illustriert, während andernorts wünschbare Illustrationen fehlen. Durchweg stimmig sind dagegen die in den Seitenrand aufgenommenen Verweise auf die Anhänge jedes Bandes, nämlich die aus der „ZEIT“ entnommenen, hier also reproduzierten, durch blaue Hintergrundfarbe unterschiedenen Berichte und Kommentare.

Dass sich die Stile, Empirie- bzw. Abstraktionsebenen, Darstellungsdichte, Erkenntnisperspektiven und Relevanzzuschreibungen der einzelnen Bände, Kapitel und Abschnitte mehr oder weniger stark unterscheiden, ist grundsätzlich weder vollständig vermeidbar noch von Nachteil. In einigen Fällen kontrastieren die Texte aber doch recht stark, so dass die Lektüre aller Darstellungen etwa zu einer bestimmten Teilepoche mühsam wird und enttäuschen kann, weil in einem Kapitel oder Abschnitt aufgenommene Inhalte im nächsten, von einem anderen Autor zu verantwortenden Teil nicht fortgeführt werden.

Um welche Inhalte handelt es sich nun? Band 1 befasst sich zunächst mit der Vor- und Frühgeschichte, vergleichsweise ausführlich beginnend bei der Stammesgeschichte des Menschen, dann eher konventionell fortschreitend mit Steinzeit und Bronzezeit bis zur Eisenzeit, abgeschlossen mit einem theoretisch-methodischen Abschnitt zum als Periodisierungskategorie aufgefassten Begriff der „Hochkultur“. Die zweite Hälfte ist Altägypten gewidmet, dessen besondere Funktion als Herausforderung der modernen Welt klar benannt wird (Bd. 1, S. 267), auch wenn sich der kritische Leser einen Hinweis auf die diversen Schübe westlicher Ägyptomanie gewünscht hätte. Der Anhang umfasst „ZEIT“-Artikel des zu erwartenden allgemeinen Bildungsinteresses: zu neuen paläontologischen Funden und Theorien, zu „Ötzi“, zur Scheibe von Nebra, zur nubischen (schwarzafrikanischen) Epoche des Pharaonenreiches usw. Die Darstellung der ersten Bandhälfte konzentriert sich mangels Alternativen auf Funde und deren Interpretation, diejenige der zweiten Bandhälfte bietet eine insgesamt gelungene Kombination von Strukturbeschreibungen und personen- bzw. ereignisgeschichtlichen Abrissen. Ähnliches gilt für die Behandlung der frühen Hochkulturen in Vorder-, Süd- und Ostasien bis um 220 v.Chr. in Band 2 und 3.

In den anschließenden vier Bänden, die sich mit der griechischen und römischen Antike, der – deutscher Gepflogenheit entsprechend – verharmlosend „Völkerwanderungszeit“ genannten Zerstörungsepoche, dem Aufstieg des Islam und in zwei Durchgängen mit dem europäischen Mittelalter befassen, tritt bei aller Berücksichtigung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Aspekte die politische Ereignis- und Personengeschichte stärker in den Vordergrund. Band 7 bietet, zumal er auf global vergleichende Hinweise so gut wie völlig verzichtet, auf dieser Basis nicht mehr als eine konventionelle Geschichte des europäischen Mittelalters, möglicherweise sogar nicht auf dem neuesten Forschungsstand (vgl. etwa den Abschnitt zur Pest, S. 314-319).

Noch stärker wird der Akzent in den nachfolgenden Bänden zur Politikgeschichte hin verschoben; Teile zu anderen historischen Dimensionen stehen unverbunden neben ihr. Beispielsweise enthält der von der Redaktion zu verantwortende, rein politikgeschichtliche und insofern ohnehin defizitäre Abschnitt zu Italien im Konfessionellen Zeitalter eine völlig außerhalb des Darstellungstextes stehende Infobox zur Geburt der Oper (Bd. 8, S. 275): eine bemühte ‚kulturgeschichtliche’ Aufhübschung! Besser gelungen erscheinen dagegen die knappen Darlegungen zu Altamerika im selben Band, und ausgesprochen faszinierend lesen sich fast alle Abschnitte zu Süd- und Ostasien sowie Schwarzafrika in Band 9. Einen eher gemischten Eindruck hinterlassen dann die etwas zu kleinteiligen Darstellungen zum Zeitalter des Absolutismus und der Revolutionen. Auf den exemplarischen Absolutismus Dänemarks seit dem Königsgesetz von 1665 wird sowohl eingangs bei der Epochenbeschreibung als auch im einschlägigen Spezialabschnitt hingewiesen; der dennoch als ‚klassisch’ geltende Fall Frankreichs unter Ludwig XIV. ist mittels Einrahmung durch andere Darstellungsteile relativiert. Auch auf die notorische Überschätzung Preußens wurde weitgehend verzichtet, während der Wandel vom konfessionellen zum überkonfessionellen Absolutismus stärker hätte profiliert werden können. Bei der Darstellung des 18. Jahrhunderts in Band 10 bleibt letztlich offen, ob das Osmanische Reich dieser Epoche auch als europäische Macht anzusprechen ist.

Die große Aufgabe, der bewegten Phase zwischen 1789 und 1848/49 wirtschafts-, sozial-, kultur- und politikgeschichtlich gerecht zu werden, wird wieder nur durch Flucht in die Kleinteiligkeit angegangen. Einzelne der knappen Abschnitte, etwa derjenige zum Nationalismus (Bd. 10, S. 163-168), erscheinen verbesserungsfähig. Schade ist, dass die Darstellung der Entwicklung in Nordamerika nachgestellt ist, weil dadurch der Vorlaufcharakter der Unabhängigkeit und die Verfassung der britischen Kolonien verwischt werden. Die Ausweitung des Blicks auf das übrige Außereuropa vor allem im folgenden Band ist mit weiteren, grundsätzlich wohl nicht zu vermeidenden chronologischen Inkonsistenzen verbunden. Die hier zusammengestellten Abschnitte, die aufgrund gleicher Autorschaft gelegentlich stärker miteinander verknüpft sind (z.B. zu Südafrika, Bd. 11, S. 375-411) scheinen mir dem angestrebten, aktuellen Handbuchcharakter des Sammelwerkes aber am besten zu entsprechen. Passagenweise etwas zu feuilletonistisch geraten ist der anschließende erste Durchgang durch das europäische Zeitalter des Nationalismus; der Anhang befasst sich zu ausführlich mit männlichen Heroen dieser Epoche.

Konventionell und solide ist Band 12, der bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs reicht. Im Themenbereich des Imperialismus hätte man sich eine zusammenfassende Skizze der Rückwirkungen auf Europa vorstellen können. Die Bände 13 bis 15 decken die Entwicklung vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Kalten Kriegs ab. Hier muss die Bezeichnung „Zeitalter des Totalitarismus“ für die Teilepoche von 1919 bis 1945 befremden. Die Darstellung der Zwischenkriegszeit erscheint definitiv als zu wenig kulturgeschichtlich im modernen Sinn. Dem kritischen Leser mögen die globale Ausstrahlungskraft und politisch-militärische Entwicklungsdynamik des Ost-West-Konflikts einerseits überschätzt vorkommen, andererseits gibt es mitunter Lücken. Ausgesprochen bedauerlich ist der Verzicht auf eine kommunikations- und kulturhistorische Vertiefung in der Darstellung des „Endes des Ost-West-Konflikts“ (nicht etwa: Zusammenbruch des Ostblocks) um 1990. Die Beiträge zu den Krisenherden des Nahen und Mittleren Ostens sind erfreulich kritisch geraten, während die anschließenden Darlegungen zum Nord-Süd-Konflikt, der „Welt an der Jahrtausendwende“ und zu den wichtigsten globalen Entwicklungen der Gegenwart insgesamt einen gemischten Eindruck hinterlassen: Eher konventionellen bis publizistischen Abschnitten stehen deutlich souveränere, klar und kritisch formulierende gegenüber, etwa diejenigen zu Afrika südlich der Sahara (Bd. 16, S. 401-431). Die unverzichtbare ökologische Akzentuierung der aktuellen Globalisierungstendenzen fehlt; im Anhang erscheinen die europäische Währungsunion und Harry Potter als wichtiger.

Durchaus nützlich, aber definitiv zu west- und deutschlandlastig (was hat in einem welthistorischen Lexikon Rainer Barzel verloren?) ist das beigefügte Lexikon der Geschichte (Bde. 17-19). Ebenfalls mit zahlreichen Illustrationen versehen ist die bis Ende 2005 geführte chronologische Übersicht des 20. Bandes, über deren Datenauswahl man sicher streiten könnte. Die anschließenden Literaturhinweise beschränken sich auf deutschsprachige Darstellungen – dem deutschen Bildungsbürger, so er denn noch existiert, ist englische Lektüre offenbar nicht zuzutrauen. Gesamtinhaltsverzeichnis, Autorenverzeichnis und Personen- und Sachregister erfüllen ihre Zwecke zuverlässig. Die angefügten „Originalbeiträge zu ausgewählten Daten der deutschen Geschichte seit 1949“ verengen die welthistorische Perspektive und wirken ein wenig zufällig.

Was diese vielbändige Kollektion bilderreich und in insgesamt angemessener Balance zwischen gehobener Umgangs- und Fachsprachlichkeit vermittelt, ist solides historisches Grundwissen in konventioneller Definition. Dem angestrebten Handbuchcharakter wird das Werk in eben dieser Perspektive unzweifelhaft gerecht. Darüber hinausgehende Erwartungen und Erfordernisse werden jedoch enttäuscht. Die aktuelle kulturhistorische Perspektive mit allen ihren Chancen und Vorteilen gerade für den bildungsbürgerlichen Wissenshorizont fehlt ebenso wie eine entschiedene, wahrhaft globale weltgeschichtliche Orientierung. Besonders schwerwiegend erscheint der Verzicht auf eine eingehende, kritische Thematisierung der ökologischen Frage, die für eine moderne Weltgeschichte schlicht obligatorisch ist – wenn sie das Publikum mit wahrhaftem Bildungswissen ausstatten möchte, das heißt die Leser in ihrer Wahrnehmung, Einschätzung und kritisch-diskursiven Begleitung historischer Prozesse wie entsprechendem politischem Handeln zu unterstützen beabsichtigt. Es ist höchst bedauerlich, dass sich einer der renommiertesten deutschen Medienkonzerne diese Chance entgehen ließ.

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