R. Stites: Serfdom, Society, and the Arts in Imperial Russia

Cover
Titel
Serfdom, Society, and the Arts in Imperial Russia. The Pleasure and the Power


Autor(en)
Stites, Richard
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die Vorliebe von Richard Stites für unkonventionelle und gerne vernachlässigte Themen ist bekannt, ebenso seine Fähigkeit, ihre tatsächliche Relevanz eindrücklich vor Augen zu führen. Kein Geheimnis ist auch sein Faible für Kultur – im durchaus traditionellen Sinne von „the arts“. Wer Stites persönlich kennt, weiß zudem, dass er zu jenen Russlandhistorikern zählt, die sich ihrem Betätigungsfeld nicht nur wissenschaftlich-analytisch, sondern auch mit einer geradezu emotionalen persönlichen Hingabe nähern. Diese Fähigkeit, selbst ganz tief einzutauchen in – vergangene und gegenwärtige – russische Kultur und Lebenswelten, ist vielleicht unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben von Büchern à la Stites, deren fachliche Professionalität stets mit einer ganz besonderen Verbundenheit des Autors mit seinem Thema gepaart ist. All diese Momente vereinen sich in seinem Werk über „Leibeigenschaft, Gesellschaft und die Künste im kaiserlichen Russland“, dessen Titel freilich etwas missverständlich erscheint, handelt es sich doch vor allem um eine groß angelegte, differenzierte, aber auch selektive Darstellung des russischen (Hoch-) Kulturlebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Historikers.

Stites selbst spürt die Notwendigkeit, seinen Buchtitel zu erklären, und zäumt dabei das Pferd von hinten auf: Mit „Russland“ sei das europäische Russland (die Provinz und die beiden Hauptstädte) gemeint, mit „kaiserlich“ hier die Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1861, dem Jahr der Aufhebung der Leibeigenschaft. Die „Künste“ definiert Stites für seinen Rahmen als „klassische Musik, Theater und bildende Kunst – vorwiegend Malerei“ (S. 2), wobei Oper und Ballett, aber auch der Bereich der „Volkskultur“ explizit ausgeschlossen werden. Mit dem Begriff „Gesellschaft“ steckt Stites die Perspektive seiner Darstellung ab: Es geht ihm nicht um eine im engeren Sinne musik-, theater- und kunstgeschichtliche Annäherung, obgleich er sich hier durchaus als Connaisseur zu erkennen gibt. Das Ziel ist vielmehr, die „Künste“ und ihre produzierenden wie rezipierenden Protagonisten in „Interaktion“ mit sozialen Strukturen zu beschreiben, sie also in der Adels- und Leibeigenengesellschaft des Russischen Reiches zu verorten. Jene Leibeigenschaft als Anfangswort des Buchtitels rechtfertigt Stites mit ihrer Omnipräsenz in der russischen Kultursphäre der besprochenen Zeit: Ob als Musiker, Maler, Sänger oder Schauspieler – das Kulturleben war, insbesondere bei den zahlreichen privaten Veranstaltungen des Adels, ohne Leibeigene nicht denkbar. Stites hat sicher Recht, wenn er hierin ein für Russland charakteristisches Phänomen erkennt und darüber hinaus auf das pikante Zusammenspiel von Leibeigenschaftsrealität und ihrer künstlerischen Darstellung durch Leibeigene auf der Bühne verweist. Doch das Thema begleitet das Buch eher auf latente Weise als dass es den Leitfaden der Untersuchung stellen würde, der primäre Fokus liegt deutlich auf den künstlerischen, nicht den gesellschaftlichen Strukturen.

Ein erster Teil („Cultural and Social Terrains“) steckt das Untersuchungsfeld ab. Anschaulich, material- und quellenreich präsentiert Stites die räumlichen und gesellschaftlichen Grundlagen seiner Studie: die russischen Hauptstädte, die Landgüter des Adels, die Provinz als kulturellen Raum und die sozialen Trägerschichten kultureller Praxis. Der zweite Teil („Music of the Spheres“) ist der – privaten wie öffentlichen – russischen Musikkultur im frühen 19. Jahrhundert gewidmet, „Empire of Performance“ behandelt als dritter Teil die Welt des Theaters und geht ausführlich auf die kaiserlichen Theater als Spielstätten, die Charakteristiken des Repertoires und die Theater des Provinzadels mit ihren leibeigenen Akteuren ein. In einem vierten Teil („Pictures at an Exhibition“) wendet sich Stites der bildenden Kunst zu, wobei erneut offizielle wie private Entfaltungs- und Betrachtungsräume zur Geltung kommen. „Finale and Ouverture“ ist der abschließende fünfte Teil überschrieben; er bietet einen Ausblick auf die Zeit nach der veranschlagten Zäsur von 1861, auf die Zeit nach der Leibeigenschaft, auf die Zeit, in der russische Künstler bereits auf internationalem Niveau Kulturgeschichte schrieben.

Stites ist in Moskau gleichermaßen zuhause wie in St. Petersburg, doch er führt uns auch in die selten besuchte russische Provinz. Er erzählt von Musik am Hof und im Haus, von der Bedeutung der Salons, von dominierenden Ausländern und frühen russischen Kulturgranden. Er führt uns weiter in die großen und kleinen Spielstätten, in deren Zuschauerräume, hinter die Bühnen und in die Etagen der „künstlerischen Leitung“; er macht vertraut mit dem gepflegten Repertoire der Zeit, mit den Ensembles und Persönlichkeiten, die es zur Aufführung brachten, sowie mit dem Publikum, das es rezipierte. Sowohl bei Rezipienten wie bei Produzenten von Kultur differenziert Stites nach sozialer Zugehörigkeit; neben Adel, Kaufmannschaft und einer bisweilen schwer einzuordnenden Künstlerschicht kommen gerade hier die leibeigenen Akteure mit ihren Problemen und Schicksalen – ganz wörtlich – ins Spiel.

Im weiteren Verlauf haben wir Teil an den furiosen Eindrücken, die jemand wie Franz Liszt in Russland hinterließ, und an der kaum minder furiosen Karriere des jüdischen Unternehmersohnes Anton Rubinstein. Neben Ausnahmefiguren und -ereignissen fragt Stites auch nach dem Alltag im Kulturgeschäft, nach Beleidigungen, Intrigen, Tratsch und erotischen Beziehungen, er vergisst auch nicht die vor den Theatern in der Kälte wartenden Kutscher. Kleiderordnungen und Claqueure, Skandale und „Interventionen des Publikums“, Zensur und Presseberichte – zu den diversesten Aspekten weiß das Buch Kluges, Informatives, Unterhaltsames mitzuteilen. Was für Musik und Theater gilt, setzt sich bei der Malerei fort: Stites durchschreitet zunächst die „offizielle“ Sphäre der Kaiserlichen Akademie, stellt uns Personen und Ansichten, Bilder und Ästhetiken vor, danach geht es auf Entdeckungsreise in die künstlerischen Nebenwelten, nach Moskau und in andere Städte oder auf das Land, zu den adeligen Gutsherrschaften. Die (unvollständige) Aufzählung sei hier abgebrochen: Der Fülle der Themen kann sie ohnehin nicht gerecht werden, sie soll nur andeuten, wie breit der inhaltliche und methodische Horizont von Stites’ kulturgeschichtlicher Exploration ist.

Dass Stites sich dabei jener auf den ersten Blick undankbaren Jahrzehnte vor der Entfaltung russischen künstlerischen Weltruhmes in Musik, Literatur und Malerei annimmt, ist kein geringes Verdienst seines Buches. Als „Vorbereitungsphase“ der „wirklichen“ russischen Hochkultur meist kurz und desinteressiert abgehandelt, war eine fundierte übergreifende Darstellung des Kulturlebens jener Zeit bis dato Desiderat. Stites schließt diese Lücke mit einer dichten, vielseitigen, ausführlichen, aber abwechslungsreichen, ja spannenden Erzählung. Er hat viel Unbekanntes und Wissenswertes in mühevoller Kleinarbeit ausgegraben, wovon 70 Seiten Anmerkungen und fast 50 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis zeugen. Seine vielfältigen Entdeckungen verbindet Stites souverän zu einem intelligenten Narrativ auf hohem sprachlichen und gedanklichen Niveau, das längst nicht nur berichtet und beschreibt, sondern immer wieder auch um reflektierende Einordnung der vorgeführten Phänomene in soziopolitische Hintergründe der Zeit bemüht ist und in vielen knappen Anspielungen und Bezugnahmen einen Grand Seigneur der neueren russischen Kulturgeschichte verrät.

Sicher, straffe Bündelung und markante Thesenbildung waren Stites’ Anliegen nicht; auch bedarf es in der Fülle des Materials wohl seitens der Leser schon einer gewissen Kennerschaft, um den Überblick nicht zu verlieren – aber dafür lässt sich auf ein ausführliches, gut gemachtes Register zurückgreifen. Insgesamt ist ein fulminantes, informatives Panorama des russischen Kulturlebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, dessen Typiken und Charakteristiken ebenso deutlich fokussiert werden wie seine Beziehungen zu allgemeineuropäischen Entwicklungen. Stites ruft unüberhörbar die „vergessene“ Kulturgeschichte der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Erinnerung und macht damit die Ausbildung einer russischen „Klassik“ in der zweiten Hälfte erst verständlich.

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