U. Goeschen: Vom sozialistischen Realismus

Titel
Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR


Autor(en)
Goeschen, Ulrike
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 8
Erschienen
Anzahl Seiten
445 S
Preis
68,00 DM
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Gerd Dietrich, Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Geschichtswissenschaften

"Bilderstreit" und "Kulturkampf" seit 1990: erregte Debatten über die DDR-Malerei in der Berliner Nationalgalerie, der Beeskower Bilderkammer, der Weimarer Schau "Aufstieg und Fall der Moderne usw., von der derben Beschimpfung: "Keine Künstler, keine Maler, keiner von denen hat je ein Bild gemalt", 1 bis zu den vielzitierten pauschalen Urteilen "Auftragskunst" bzw. "Staatskunst" - die Fronten sind alt, der kalte Krieg findet immer noch statt. Natürlich ist das auch ein Stellvertreterkrieg und Interessenpolitik auf dem gegenwärtigen Kunstmarkt. Da wirkt es schon wohltuend, wenn einem ein Buch in die Hände fällt, das die Kunst aus der DDR unaufgeregt und vorurteilsfrei als "andere deutsche Kunst" betrachtet und das die Schwerpunkte neu setzen will, "um sie von dem diskreditierenden Verständnis einer staatlichen 'Auftragskunst' zu befreien." (S.9)

Nach Günter Erbes verdienstvollem Band zur Literatur 2 legt Ulrike Goeschen nun für die bildende Kunst eine adäquate Untersuchung vor. Auch sie widmet sich dem Dreiecksverhältnis von Kunstpolitik, Kunstwissenschaft und Kunstproduktion bei der Rezeption der verfemten Moderne in der DDR. Ihre Ausgangsfrage ist: Wie konnte es zur Erosion des Kanons des sozialistischen Realismus von innen heraus und zur Erweiterung der künstlerischen Landschaft kommen?. Während westliche Autoren diese Frage zumeist mit einer Abwägung des Verhältnisses von Kunst und Kulturpolitik beantworten, versucht Ulrike Goeschen statt dessen, "eine innere Logik der Entwicklung zu rekonstruieren, in Anbetracht dessen, daß die Forderungen der offiziellen Kulturpolitik stets die gleichen blieben... Es soll nachvollziehbar werden, wie die Kunst mit Hilfe der Kunstwissenschaft sich die klassische Moderne der Kunst der 10er und insbesondere der 20er Jahre als Anknüpfungspunkt zurückerobert hat." (S.10) Gegenstand der Arbeit sind darum weniger die Schwierigkeiten und Behinderungen, denen die Künstler ausgesetzt waren, als vor allem die signifikanten Diskussionen, die "den Bezug zur Moderne" herstellten und "als Bewegungsmomente der Kunstentwicklung" wichtig geworden sind. (S.11)

Historisch hat Ulrike Goeschen dabei, im Unterschied zu Günter Erbe, zwar nur den Zeitraum bis zum Ende der 60er Jahre im Auge. Aber sie geht begründet davon aus, daß die Weichen zur Rückeroberung der Moderne in der zweiten Hälfte der 60er Jahre bereits alle gestellt waren. Eine weitergehende Periodisierung nimmt sie allerdings nicht vor und die Chronologie gerät ihr mitunter durcheinander. Die verständliche Beschränkung auf die 50er und 60er Jahre bedeutet, daß die erste Künstlergeneration im Mittelpunkt steht. Dieser war es maßgeblich zu danken, "daß die stalinistische Phase in der Kunst der DDR so kurz und wenig ausgeprägt blieb." Denn sie alle waren in der Moderne verwurzelt, "sie brachten jene expressionistischen, veristischen und neusachlichen Traditionen mit, die für die Kunst in der DDR so prägend geworden sind." (S.71) Ihre Bemühungen und Ziele wurden von undogmatischen Kunstwissenschaftlern unterstützt, die ebenso energisch für die Anerkennung einer deutschen Traditionslinie linker und proletarischer Kunst wirkten, wie sie von der stalinistischen Kunstpolitik lange Zeit abgelehnt, ja bekämpft wurde.

Die 1997 an der Freien Universität Berlin eingereichte Dissertation wertet eine Fülle archivalischen Quellenmaterials aus. In einem Dokumententeil werden davon 38 bisher unpublizierte und aufschlußreiche Dokumente und in einem Anhang nochmals fünf Dokumente: die nicht veröffentlichten Reden auf dem V. Kongreß des Verbandes Bildenden Künstler 1964, Artikel aus der "Roten Fahne" und der weitgehend unbekannte Text Fritz Cremers zum Geleit der Ausstellung "Junge Kunst" der Akademie von 1961 veröffentlicht. Die beiden ersten Kapitel stellen die Voraussetzungen der Kulturpolitik und die historischen Ausgangsbedingungen nach 1945 dar: Sozialistische Realismuskonzeptionen, Expressionismusdebatte und kulturpolitische Wandlungen aus den 30er Jahren, das Projekt der Umerziehung, den antifaschistischen Konsens, den Kulturbund in der SBZ und die Kulturoffiziere der SMAD in den 40er Jahren sowie die Institutionalisierung der Kunst, die Formalismusdebatte und den Stalinismus in der bildenden Kunst Ende der 40er / Anfang der 50er Jahre. Zwar schien es im Frühjahr 1953 so, als hätte die SED-Führung kraft ihrer kulturpolitischen Hebel das Ziel erreicht, die Kunst zu funktionalisieren, auf das sowjetische Vorbild auszurichten und ihre ästhetischen Vorstellungen durchzusetzen. Doch trug schon die Parteikunst jener Zeit eigene Züge, war sie eher ein Kompromiß zwischen den starren Vorstellungen der Kulturpolitiker und den Anliegen der Künstler. Da freilich der konkrete Feind der stalinistischen Kunstpolitik nicht etwa die "imperialistische Kulturbarbarei des Westen", sondern die kritischen Künstler in den eigenen Reihen geblieben waren, nutzten diese im Gegenzug die mit dem 17. Juni 1953 gegebene Chance, sich zu wehren und die harte Linie der SED nachhaltig aufzuweichen.

Die folgenden vier Kapitel der Arbeit sind thematisch orientiert und haben, notwendig selektiv, jeweils die 50er und 60er Jahre mit einigen Ausflügen in die 70er im Blick. Zwar blieb die Kluft zwischen Kulturpolitik und Künstlern bestehen, doch durch den Widerstand der Künstler und die Vermittlungsinstanz Kunstwissenschaft wurden die sowjetisch stalinistischen Positionen zurückgedrängt. Kap. III behandelt die Aufarbeitung und Anerkennung der deutschen proletarisch-revolutionären Kunst der 20er und 30er als Tradition des "sozialistischen Realismus", einschließlich der Hereinnahme des kritischen Realismus in diese Tradition.. Damit konnten nicht nur kritische anstelle von rein affirmativen Momenten, sondern auch die formalen Möglichkeiten der Kunst erweitert werden. "In einem nächsten Schritt begann die Historisierung der Kunst und des Werdegangs dieser ersten Generation. Diese Historisierung sollte sich letztlich für die Kunst in der DDR als prägender erweisen als die kulturpolitischen Lenkungsversuche der Partei." (S.76)

Die Integration des Expressionismus umreißt Kap. IV. An Beispielen wie der Barlach - Diskussion von 1951, der Einbeziehung des Expressionismus in die nationale und antifaschistische Tradition und in künstlerische Synthesen, die zunächst umstritten, bald zu Inkunabeln der Malerei in der DDR wurden, sowie der Beschäftigung mit dem Expressionismus in Publikationen und Wissenschaft wird gezeigt, wie die dogmatischen Sichtweisen zurückgedrängt wurden. "Um 1957 galt in gemäßigten Kreisen, daß zwar die Parteilichkeit das entscheidende Kriterium sei, der Künstler aber in der Wahl der Formen eher frei Hand haben sollte. Dogmatische Kreise dagegen lehnten den Expressionismus aus ideologischen Gründen rundheraus ab und verwarfen deshalb auch seine Ästhetik." (S.109/110) Den eigentlichen Anstoß zur Umwertung des Expressionismus gaben dann sowjetische Wissenschaftler Ende der 50er/ Anfang der 60er Jahre.

Das umfangreichste Kap. V ist der Diskussion der modernen Mittel gewidmet. In konkreten Haltungen einzelner Künstler und Kunstwissenschaftler und an Stationen, wie der antistalinistischen Kritik 1956/57, der Entfremdungsdebatte Anfang der 60er, der Diskussion um und auf dem V. "Skandalkongreß" 1964, vollzog sich die Verabschiedung der "harten Linie der Doktrin, die eine bestimmte, als national ausgegebene Formgebung gefordert hatte", (S.118) und die Durchsetzung der Position, daß auch mit den "Mitteln der Moderne Bilder mit sozialistischem Gehalt" (S.129) geschaffen werden können. Zwar blieben die Dogmatiker auch später noch bei der Auffassung, daß Kunst des "sozialistischen Realismus" mit "spätbürgerlicher Kunst" unvereinbar sei, aber eine erweiterte Erbekonzeption ermöglichte zugleich die Adaption der modernen Kunst.

Kap. VI stellt die Rehabilitierung des Konstruktivismus, einschließlich des in den 50ern verfemten Bauhauses, in den 60er und 70er Jahren dar, die vor allem durch den zunehmenden Einfluß der industriellen Formgestaltung , durch die Architekturtheorie und das industrielle Bauen sowie durch Konzepte komplexer Umweltgestaltung befördert wurde. Zugleich zeichnet Ulrike Goeschen hier die schwierige Rezeption des Werkes von Oskar Nerlinger, John Heartfield und Hermann Glöckner in der DDR nach. An dieser Stelle sei gesagt: Das Buch ist auch deshalb lesenswert, weil die Darstellung sehr personenorientiert ist, die Auseinandersetzungen mit konkreten Namen verbunden sind. Der Leser kann sich gut über die dogmatische Kulturpolitik der Abuschs, Kurellas und Ulbrichts und ihrer Adepten informieren. Er findet solche aufrechten Künstler wie Fritz Cremer, Renè Graetz, Hans und Lea Grundig, Arno Mohr, Otto Nagel, Herbert Sandberg, Horst Strempel u.a. gewürdigt wie er auch deren Anpassungsleistungen und -zwänge erkennen kann. Und er erhält präzise Analysen kunstwissenschaftlicher Positionen so unterschiedlicher Vertreter ihrer Zunft wie Siegfried H. Begenau, Günter und Peter H. Feist, Heinz und Karin Hirdina, Wolfgang Hütt, Ulrich Kuhirt, Lothar Kühne, Lothar Lang, Herbert Letsch, Heinz Lüdecke, Harald Olbrich, Hermann Raum, Horst Redeker und Diether Schmidt. Allerdings ist es ein Manko, daß die Autorin Lu Märtens Werk und seine Wirkungen übersehen hat. 3

Der herauszustellende wissenschaftliche Ertrag der Arbeit ist die Darstellung der sich gegen Widerstände durchsetzenden Aufarbeitung der Kunst der 20er Jahre als legitimer Tradition der Kunst in der DDR. Das wurde nicht nur dem Selbstverständnis der Künstler gerecht, sondern entfernte sich auch weit vom Widerspiegelungspostulat und der Vorbildfunktion sowjetischer Kunst. Ulrike Goeschen liefert überzeugende Argumente für eine Historisierung der DDR-Kunst. Sie will damit die Auffassung stützten, daß diese Kunst in den ersten Nachkriegsjahren und nicht in der stalinistischen Phase von 1949 bis 1953 begründet worden war. Die spezifische Anknüpfung an die nationalen Traditionen der Moderne gab der Kunst in der DDR ihren eigenen Charakter. Dabei wurde der Begriff des "sozialistischen Realismus" allmählich aufgelöst bzw. mit dem Begriff von Kunst in der DDR überhaupt identisch. Für die 70er und 80er Jahre wäre eine solche Feststellung dann wohl nicht mehr zutreffend. Doch eine Fortschreibung der Arbeit für diesen Zeitraum steht noch aus.

Anmerkungen:
1 "Ein Meister, der Talent verschmäht". Interview von Axel Hecht und Alfred Welti mit Georg Baselitz. In: art 1990, H.6, S. 70.
2 Vgl. Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem "Modernismus" in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR, Opladen 1993.
3 Vgl. Lu Märten: Wesen und Veränderung der Formen der Künste. Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen, Weimar 1949.

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