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Titel
Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons


Autor(en)
Opielka, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Gerhardt, Institut für Soziologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Das Thema des Verhältnisses zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ist zentral für die moderne Soziologie seit Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Jahr 1887 (mit sechs überarbeiteten Auflagen bis in die 1930er-Jahre und seither weiteren Neuauflagen). Für die Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts war folgenreich, dass der Nationalsozialismus durch die erzwungene Fiktion einer Volksgemeinschaft eine „Soziologie“ begünstigte, die sich zu Rasse und Volk bekannte – als einzige Zeitschrift wurde ein (nach drei Jahren eingestellter) „Volksspiegel“ erlaubt.

Diese unliebsame Vergangenheit der staatlich oktroyierten Doktrin will Opielka hinter sich lassen, wenn er seinem Buch das Erkenntnisinteresse gibt, der heutigen Soziologie die Berührungsangst gegenüber dem Gemeinschaftskonzept zu nehmen: „Ein Grund dafür, dass der Gemeinschaftsbegriff auf eine für professionelle Nutzung kaum zulässige Weise schillert, dürfte in der deutschen Erfahrung des Nationalsozialismus und dessen völkisch-rassistischer Interpretation von ‚Gemeinschaft’ als ‚Volks- und Rassengemeinschaft’ zu finden sein.“ (S. 11)

Als Gegengewicht gegen einen nationalsozialistisch aufgeladenen Gemeinschaftsbegriff – neben der klassischen Tradition der Theorie(n) von Tönnies über Max Weber bis zu Émile Durkheim, die allerdings nicht hinreichend wären – setzt Opielka eine Rückschau auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen „Logik der Gemeinschaft“ ein letztlich zu Kollektivismus und Kommunismus hinführendes Gemeinschaftsprinzip enthalte, und die Systemtheorie des Spätwerks Talcott Parsons’, dessen These zur Gesellschaftsgemeinschaft eine Konstellation aus Recht, Religion und Wissenschaft zum Garanten der Integration demokratischer Gesellschaften machte.

Opielka bezieht sich auf Hegels Philosophie ebenso wie Parsons’ Soziologie durch einen Mittler, der das Werk dieser Denker interpretierend auswertet. Die Arbeiten (seit 1970) des Zeitgenossen Johannes Heinrichs machen Ausführungen zu Freiheit, Sozialismus und Christentum, zu reflexionstheoretischer Semiotik und weiteren Themen der Sozialphilosophie, die sich auf Hegel berufen und unter anderem bei Opielka herangezogen werden, um „Heinrichs’ systemphilosophische Innovation – unter ständigem Bezug auf Parsons’ AGIL-Theorie – auf ihre Anwendung für eine Soziologie der Gemeinschaft zu untersuchen“ (S. 111).

Die Darlegungen zu Parsons sollen „entlang einiger Differenzen […] zwischen der in meinen Überlegungen leitenden Perspektive der Viergliederung und dem Ansatz von Parsons […] (1) die unterschiedliche Theoriekonstruktion hinsichtlich des Verständnisses von Intersubjektivität, (2) die logische Kritik der Kreuztabellierung und (3) die Identifikation von ‚Interpenetration’ als dialektischem Prinzip“ (S. 223f.) verdeutlichen. Daraus entwickelt Opielka einen Denkansatz, der eine Viergliederung der gesellschaftlichen Welt zum Raster geschichtlichen Geschehens macht. Dessen Wahrheitswert soll durch Anklänge an Parsons’ „Theorie der Gemeinschaft“ (S. 261) belegt werden.

Zur Unterstützung der Annahmen dienen Opielka zwei Abgrenzungen gegen zeitgenössische Theoreme. Zum einen wendet er gegen Jürgen Habermas „Diskursmoral“ (Kapitel 6) ein, deren Mangel sei, dass sie zu wenig konkret werde. Zum anderen hält er Niklas Luhmanns „Systemethik“ (Kapitel 7) entgegen, dort werde ein Sinnbezug auf einer Allgemeinheitsebene konstruiert, wo über konkretes soziales Handeln – etwa im Bereich Religion – nichts ausgesagt werden könne.

Nun muss die Ernte dieser tour d’horizon – zuweilen geradezu einer tour de force – der Begriffsschau eingefahren werden. Sie beginnt mit einem neuerlichen Rückblick auf Heinrichs, nunmehr angereichert durch Anleihen beim Kommunitarismus. Dessen Demokratieüberlegungen werden mit den Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu Aussagen zusammengeführt, die darlegen, der Sozialstaat sei die eigentliche Verkörperung der für die Moderne angemessenen „Viergliederungstheorie“ (S. 355).

Daraus folgt für Opielka, dass die „Viergliederung im Sozialstaat“ (Kapitel 9) nicht nur als Denkmodell tauge, sondern auch in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit das Gemeinschaftliche der Moderne ausmache. Unter der Überschrift „Die Wahrheit des Sozialstaats“ (S. 396) wird Gemeinschaft zum Prinzip der gerechten Gesellschaft erklärt: „Die Frage, inwieweit der Sozialstaat als ‚wahrer’ Staat im Sinne Hegels gelten könne, kann von uns Heutigen bejaht werden. Hegel selbst war diesbezüglich nur in seiner Epoche pessimistisch.“ (S. 398) Und dann heißt es noch: „Es sei der Gedanke erlaubt, dass die Forderung Hegels, die Vernünftigkeit der Welt zu entdecken[,] um darin das Wahre zu tun, eine zugleich inspirierende wie anspruchsvolle Programmatik bleibt“ (S. 400), was zu „Respekt gegenüber der Wirklichkeit, die zu erkennen die Aufgabe der Wissenschaft ist“ (S. 400), auffordere.

In der Denkvoraussetzung, die Soziologie könne sich ein Erkenntnisprogramm geben, das unterstellt, die Wirklichkeit sei durch die Wissenschaft in ihrer Wahrheit erkennbar, zeigt sich das Atavistische des Opielkaschen Ansatzes. Die Mängel des Buches liegen nicht nur in seiner Literaturverwendung, die teilweise textlich ungenau und teilweise bibliografisch unbefriedigend ist. Die Mängel liegen hauptsächlich in begrifflichen Setzungen, die ein Theoriegebäude bilden, als hätte es Webers Warnung vor den Fallstricken des genus proximum, differentia specifica nicht gegeben. Die Absicht, eine für die Moderne mit Wahrheitswert ausgestattete Theorie des Sozialstaats als Theorem der Gemeinschaft in Gesellschaft zu entwerfen, unterstellt unwillkürlich, man könne – nicht unähnlich der weltanschaulich affirmativen und dabei mutmaßlich geschichtlich ultimativen Wirklichkeitswissenschaft der Zeit zwischen 1930 und 1945 – behaupten, eine so genannte Theorie der Wirklichkeit, die sich wissenschaftlich nennt, könne eine Wirklichkeit erfassen, vor der „Respekt“ angebracht sei.

Seit Max Webers „Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ 1 ist die Soziologie gehalten, zwischen der begrifflichen (analytischen) Arbeit und dem empirischen (geschichtlich-gesellschaftlichen) Geschehen keine unwillkürliche Verschmelzung zu postulieren. Würde Opielka die Webersche methodologische Begründung der modernen Soziologie ernst nehmen, könnte er nicht Hegels und Parsons’ Werke benutzen, als wären es Kompendien der Welterklärung. Hegels Philosophie, die die Identität von Begriff und Welt im Prozess der Selbstverwirklichung des Geistes als ein Desideratum der Sittlichkeit postulierte, unterstellte keinesfalls ein affirmatives – gar ein gegenwartsdiagnostisches – Begreifen. Parsons’ Soziologie – auch in den Arbeiten zur Gesellschaftsgemeinschaft 2 – bekannte sich zu Webers Methodologie und entwickelte auf dieser Grundlage ein empirisch angelegtes Gedankengebäude zum Verständnis der Systemdifferenzierung und -integration. Man darf dieses Erbe der Philosophie Immanuel Kants, das bei Hegel gewahrt wird, bei Weber allemal präsent ist und bei Parsons immer noch fortwirkt, nicht unversehens negieren, wenn man eigene Ansichten zu einem Denken stilisiert, das sich Wahrheitswert zuschreibt und meint, eine Theorie der Gesellschaft der Gegenwart zu sein.

Anmerkungen:
1 Weber, Max, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg.v. Winckelmann, Johannes, Tübingen 1968, S. 146-214.
2 Parsons, Talcott, Societies, Indianapolis 1966; Ders., The System of Modern Societies, Indianapolis 1971.

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