Titel
Ein gewagtes Leben. Erinnerungen


Autor(en)
Barzel, Rainer
Erschienen
Stuttgart u.a. 2001: Hohenheim Verlag
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
DM 39,25
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wettig, Gerhard

Rainer Barzel ist derjenige unter den (west-)deutschen Politikern der Nachkriegszeit, der zu unrecht weithin vergessen ist. Weil es ihm an Fortüne mangelte, gelangte er weder an die aller oberste Spitze, noch konnte er durch Entscheidungen auf sich aufmerksam machen, die sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt hätten. Er nahm aber – woran erinnert werden muß - wesentlichen Einfluß auf Entwicklungen von zentraler Wichtigkeit.

Rainer Barzel gehört nicht zum - heute vorherrschenden - Typ des Berufspolitikers, der von Anfang an systematisch auf eine Parteikarriere zusteuert und nie eine andere Existenz ins Auge faßt. Er war aber – anders als viele andere Soldaten – aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mit der Haltung des politischen „Ohne mich“ zurückgekommen, sondern mit dem ethisch begründeten Willen, sich in der Öffentlichkeit zu engagieren, um daran mitzuwirken, daß dem ebenso verbrechensbesudelten wie daniederliegenden Deutschland eine bessere Zukunft beschert wäre.

Im Vordergrund stand freilich zunächst einmal das materielle Überleben, danach Eheschließung und Familiengründung. Als Journalist wurde Barzel erstmals bekannt; als Jurist und Beamter kam er mit politischen Angelegenheiten in enge Berührung. Carl Spiecker, Karl Arnold und Konrad Adenauer erkannten Barzels Engagement und Begabung und förderten seinen Aufstieg in die Sphären der hohen Politik. Mit 37 Jahren wurde er 1961 im letzten Kabinett Adenauers Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen; zwei Jahre später war er – zunächst in „geschäftsführender“ Funktion - Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und damit einer von ganz wenigen führenden Männern in seiner Partei.

Der rasante Aufstieg fand rasch seine Neider. Als die Regierung Erhard Ende 1966 fiel, sorgten „Landesfürsten“ der Union dafür, daß statt des brillanten Fraktionsvorsitzenden der ältere – und daher als Interimslösung betrachtete – baden-württembergische Ministerpräsident Kurt-Georg Kiesinger zum Nachfolger gekürt wurde, der sich in den folgenden Jahren der „Großen Koalition“ in wichtigen Fragen gegenüber dem Partner SPD nicht behauptete. Von besonderer Bedeutung war, daß die Sozialdemokraten hinterher von der Zusage abrückten, zusammen mit der CDU/CSU das Mehrheitswahlrecht einzuführen, und damit das gegen die Union gerichtete Regierungsbündnis mit der FDP von 1969 vorbereiteten, dessen Bildung Kiesinger dann überraschte. 1971 scheiterte Barzels Anlauf zur Kanzlerschaft zum zweitenmal, als das konstruktive Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt in Stimmengleichheit – und damit Ablehnung – endete, weil die Stimme zumindest eines Unionsabgeordneten (vom MfS) gekauft worden war.

Auch ohne diese unvorhergesehene Wendung hatte, wie sich bald zeigen sollte, der Vorstoß Barzels unter ungünstigen Vorzeichen gestanden. Die Abgeordneten von SPD und FDP, die aus Protest gegen die veränderte Deutschland- und Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel zur CDU/CSU übergelaufen waren, hatten – ebenso wie die Mehrheit der übrigen Fraktion – andere Vorstellungen vom einzuschlagenden Kurs als ihr Vorsitzender. Barzel, der schon Anfang der sechziger Jahre für mehr Flexibilität in der deutschen Frage eingetreten war, wandte sich nicht grundsätzlich gegen die neue Bonner Linie, sondern bekämpfte lediglich die damit einhergehende Neigung Bahrs und anderer (von der er aus zuverlässiger Quelle wußte), den Wiedervereinigungsvorbehalt fallen zulassen. Sowohl die Zugeständnisse der östlichen Seite hinsichtlich Berlins und „menschlicher Erleichterungen im geteilten Deutschland“ als auch ein Vermeiden der Brüskierung, die für die UdSSR mit dem Scheitern des vereinbarten Vertragsabschlusses verbunden gewesen wäre, waren nach seiner Ansicht notwendig; es kam dabei lediglich darauf an, den deutschen Anspruch auf Wiedervereinigung offen zuhalten.

Weil der regierenden SPD-FDP-Koalition die parlamentarische Mehrheit für ihre Politik fehlte, war sie auf die Zustimmung der CDU/CSU bei der Ratifizierung angewiesen. Das gab Barzel die Möglichkeit, entsprechende Korrekturen gegenüber der Sowjetunion wie gegenüber der Regierung Brandt/Scheel durchzusetzen. Er beschritt diesen Weg aus tiefer nationaler Überzeugung, obwohl er wußte, daß es äußerst schwer sein würde, die Fraktion mitzuziehen. Als es zur Entscheidung im Bundestag kam, ließen seine Parteifreunde zwar die Verträge passieren und erlaubten damit ein Sachergebnis im Sinne Barzels, zeigten aber mit ganz wenigen Ausnahmen ihre Ablehnung gegenüber ihrem Vorsitzenden, indem sie nicht wie dieser mit Ja votierten, sondern sich enthielten.

Die politischen Konsequenzen des Zwistes traten bald zutage. Nicht CDU/CSU, sondern SPD und FDP ernteten die Früchte der „neuen Ostpolitik“, die „Erleichterungen“ für West-Berlin und das innerdeutsche Miteinander mit der Aufrechterhaltung der Wiedervereinigungsoption verband. Die Union, die den Eindruck völliger Unschlüssigkeit hervorgerufen hatten, wurde in den Bundestagswahlen vom Herbst 1972 abgestraft, und die Sozialdemokraten wurden erstmals stärkste Partei. Im folgenden Jahr trat Barzel, zermürbt vom Widerstand in den eigenen Reihen, vom Amt des Fraktionsvorsitzenden zurück. Die CDU/CSU verlor damit einen Mann, der mehr als viele andere das Wohl des Ganzen im Auge hatte und dafür auch eigene Positionsverluste hinzunehmen bereit, wenn es nicht anders ging.

Barzel ist - wie Helmut Schmidt, mit dem ihn trotz der Zugehörigkeit zum gegnerischen Parteilager eine von wechselseitiger Achtung getragene persönliche Freundschaft verband und verbindet - ist auch Rainer Barzel an seiner eigenen Partei gescheitert (mit dem freilich erheblichen Unterschied, daß er erst gar nicht Bundeskanzler wurde). Nach dem Ausscheiden aus der Unionsspitze übernahm Barzel noch verschiedentlich wichtige politische Aufgaben, doch ein Comeback blieb ihm verwehrt. Es ist im Interesse Deutschlands zu bedauern, daß einer Persönlichkeit von diesem Kaliber und diesem Ethos nicht größere Entfaltungsmöglichkeiten beschieden waren.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension