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Titel
Das östliche Europa.


Autor(en)
Lübke, Christian
Reihe
Die Deutschen und das europäische Mittelalter
Erschienen
München 2004: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
544 S., 100 Abb.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dittmar Schorkowitz, Osteuropa-Insitut, Freie Universität Berlin

Hinter dem prägnanten Buchtitel verbirgt sich der mutige Versuch einer gelungenen Gesamtschau, der das mittelalterliche Ostmitteleuropa (Ungarn, Mähren, Polen, Böhmen), Mitteleuropa (Bayern, Sachsen, die Elbmarken) und das eigentliche Osteuropa (Kiever Rus’, Groß-Novgorod) gleichermaßen ins Blickfeld rückt. Der in einer für seine großformatigen Darstellungen bekannten Reihe erschienene Band überwindet damit Wahrnehmungsgrenzen einer Makroregion, die erst nach dem Fall des Eisernen Vorhanges erneut einen Platz, gleichwohl zögerlich und selektiv, im öffentlichen Interesse des westlichen Durchschnitteuropäers beansprucht und einnimmt. Die Synthese erscheint vor allem zwingend aus historischer Sicht. Denn obgleich es immer auch Perioden einer eigenen homogenen und oftmals der Isolation geschuldeten Sonderentwicklung gerade am östlichen Rande Europas etwa durch die Mongolenherrschaft oder zur Zeit des Moskauer Staates gegeben hat, so ist doch das östliche Europa im Mittelalter bis weit in das 13. Jahrhundert hinein eben durch einen sehr viel höheren Grad beiderseitigen Kontaktes und Austausches charakterisiert.

Christian Lübke, seit 1998 Professor am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, hat auch als Leiter der Abteilung Germania Slavica am Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in zahlreichen Publikationen immer wieder auf diese Interdependenz in Kultur und Religion, in Wirtschaft und Politik hingewiesen.1 Das von ihm nun vorgelegte Werk erscheint daher wie der Schlussstrich eines Bildes, das ausgezeichnet in unsere Wahrnehmung von den Kontinuitätsformen des alten wie zeitgeschichtlichen Europa passt – eine Betrachtung, die zwar das Verbindende hervorhebt, aber die Gegensätze nicht ignoriert.

Vermittelt werden die Zusammenhänge dieser transnationalen Geschichtsschreibung in drei Teilen: In einem ersten, die Spätantike sowie das Frühmittelalter umfassenden Abschnitt wird das aufgrund der bekannt lückenhaften Quellenlage begrenzte Wissen einer Großregion vorgestellt, deren politische sowie kulturelle Entwicklungen sich leider immer noch nur schemenhaft, nämlich als eine Art Grauzone (Alexander Gieysztor) abzeichnen. Dem folgen, als Hauptstück, Einblicke in die Formierung der mittelalterlichen Staaten und nationes sowie eine vergleichende Darstellung der wechselseitigen Beziehungen in chronologischer Reihenfolge. Das Werk schließt mit einer gründlichen Untersuchung zu den unterschiedlichen Aspekten, die sich mit dem Umbruch zur Mitte des 13. Jahrhunderts insbesondere und zuerst für Osteuropa (Kiever Rus’), dann aber recht bald auch für Teile Ostmitteleuropas (Großfürstentum Litauen) ankündigen. Deutlich herausgestellt werden damit die historischen Voraussetzungen zu Ende des 14. Jahrhunderts, welche die weitere Entwicklung im östlichen Europa und die Spannungen zwischen dem sich formierenden Moskauer Staat und Polen-Litauen auf der einen, zwischen Polen, Ungarn und Böhmen auf der anderen Seite bis in die Frühe Neuzeit hinein begleitet haben.

Nach einer Rundschau über die zwischen Elbe und Wolga, zwischen Ostsee und Schwarzem Meer lebenden Völkerschaften des 8. und 9. Jahrhunderts, die in ihren naturräumlichen Gegebenheiten (Flusssystem, Klima, Bodenbeschaffenheit) und mithin in ihrer ökonomischen Bedingtheit verortet werden, kommt Lübke auf die frühesten Nachrichten über die Slawen (Jordanes, Prokopius) zurück, um hierauf zum ersten seiner Schwerpunkte – die frühen Herrschaftsbildungen im Spannungsfeld von Franken, Avaren und Slawen – überzuleiten. Illustrativ für die ethnische Heterogenität und die soziale Durchlässigkeit jener Zeit ist die Erfolgsgeschichte des fränkischen Kaufmanns Samo, der mit Hilfe aufständischer Slawen gegen die sie unterdrückenden Avaren a. 623/624 siegreich zu Felde zog und von den Wenden daraufhin zum König gewählt wurde, dessen Reich sich über den böhmisch-mährischen Raum nördlich der Donau, über Karantanien sowie über Gebiete nördlich des Erzgebirges erstreckt haben muss.

Zwischen Samo und Kij, dem legendären Gründer Kievs, sowie den Herrschern der Wilzen (Dragovit) und der Abodriten (Witzan) pendelnd, gelingt es dem Autor geradezu beiläufig, die für die Herrschaftsbildung dieser frühen Zeit grundlegenden Prinzipien der sozialen und politischen Organisation so zu vermitteln, dass dem Leser die vorstaatlichen Formen akephaler und auf verwandtschaftlichen Bezügen beruhenden, segmentären Gesellschaften bzw. Gemeinschaften ebenso leicht verständlich gemacht werden wie die folgenreichen Probleme, die sich später aus der Übertragung verwandtschaftlicher Prinzipien (Seniorat, Heiratsallianzen) zur Regulierung der doch recht komplexen Konsolidierung von in statu nascendi befindlichen Staaten ergaben. Aus dieser für Ostmitteleuropa jener Zeit typischen Gesellschaftsformation entwickeln sich im Laufe von kaum zwei Jahrhunderten staatsbildende Strukturen, was auf eine immense Dynamik des gesellschaftlichen Wandels hindeutet, der so wohl nur durch den dominanten Einfluss auch militärisch starker Nachbarstaaten – der Avaren, Franken, Ottonen, Dänen, Varäger, Chasaren, Byzantiner – ermöglicht und initiiert werden konnte. Siedlungsgeschichtlich ablesbar sind diese Prozesse etwa in dem sich ändernden Verhältnis der Siedlungsgefilde (civitas) zu ihren Burganlagen, die sich von zunächst reinen Zufluchtsorten zu Fürstensitzen wandeln, welche unter Anbau von Handwerksstätten und Kultplätzen bzw. Sakralbauten bald zu Fürstenhöfen heranwuchsen.

Die mährische Reichsbildung im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts vermittelt eine gute Vorstellung davon, wie slawische Lokalherrschaften an der Peripherie von Großreichen (Rom, Byzanz, Bulgarien) sich im Gefüge wandelnder Machtfaktoren – die Vormachtstellung der Avaren war seit den 790er-Jahren dahin – dauerhaft zu etablieren vermochten. Durch König Ludwig II. (dem Deutschen) erst politisch unterstützt, wandten sich die Mährer – von den Machtambitionen der Franken abgeschreckt – der byzantinischen Kirche zu, dessen Patriarch ihnen die bekannten Slawenapostel Kyrill und Method entsandte, die den Slawen mit dem griechisch-orthodoxen Glauben auch die Schrift (Glagolica) brachten, welche 200 Jahre später erst durch die Kyrillica abgelöst wurde. Dem um seinen Einfluss fürchtenden Ludwig gelang in Allianz mit den durch Byzanz nicht völlig unterworfenen Bulgaren eine militärische Korrektur dieser Entwicklung, die Mähren in den Orbit fränkischer Friedensordnung sowie weströmischer Kirchenvertreter zog, das bulgarische Reich dagegen einer Zerreißprobe zwischen Ost- und Westrom aussetzte. Bezeichnenderweise war es eben diesem bulgarisch-byzantinischen Gegensatz geschuldet, dass auch die landnehmenden Ungarn unter den Árpáden – sich mit den Pečenegen schlagend und die Mährer bedrängend – sich als neue Kraft im östlichen Mitteleuropa bis nach Böhmen hinein etablieren konnten.

Möglich wurde die Blüte des Großmährischen Reiches nicht allein dank der geschickten Ausnutzung politischer Gegensätze der beiden das Frühmittelalter bestimmenden Antipoden Rom und Konstantinopel, sondern durch eine Dynamisierung des transkontinentalen Handels, der Europa an mehreren Stellen in nordsüdlicher (u.a. die Bernsteinstraße, der „Weg der Varäger zu den Griechen“ über Wolga bzw. Dnepr) sowie in westöstlicher (u.a. Ostsee, Donau, Regensburg-Prag-Krakau-Kiev, Ar-Radaniyya, Seidenstraße) Richtung vernetzte. Die Formierung der Kiever Rus’ etwa kann hierfür als Musterbeispiel gelten, weil mit Ankunft durchreisender Kaufleute (gosti) eben auch Gefolgschaften (varjagi) nordischer Herkunft – deren slawische Entsprechung die družina war – ins Land kamen, Siedlungen und Umschlagplätze von der Ostsee bis ans Schwarze Meer gründeten, dabei an slawische Lokalherrschaften kooperativ anknüpfend oder diese ihrem Tribut unterwerfend. Historisch belegt sind Raubzüge über das Kaspische Meer bei den Küstenstädten Südkaukasiens sowie über den Pontos nach Konstantinopel.

Namensgebend für diesen altrussischen Staat und seine werdende Nation wurde denn auch eine ostseefinnische Bezeichnung für das „Land und Volk der Schweden“, nämlich Rus’ (< rh?s < r?tsi), welche die slawischen Stämme aufgriffen und den Griechen vermittelten. Durch das Einsetzen von Gefolgsleuten der seit dem späten 9. Jahrhundert herrschenden Rjurikiden-Dynastie entstand ein dichtes Netz von befestigten Handelsplätzen und Stützpunkten – ein Gebiet, das aus skandinavischer Sicht nun als „Reich der Burgstädte“ (gardariki < gorod) wahrgenommen wurde. Die Assimilation dieser allogenen Elite (Händler, Wikinger, Söldner) mit der Lokalbevölkerung (Balten, Finnougrier, Slawen) wird so rasch wohl nicht vonstatten gegangen sein, sondern sich erst mit Entstehung der Teilfürstentümer und der Einführung des Vatererbes (ot&#269;ina) gegen Ende des 11. Jahrhunderts langsam eingestellt haben.

Das Erscheinen der Ungarn und die Schwäche des karolingischen Reiches im 10. Jahrhundert ließen neue Herrschaften im Einzugsbereich der Germania Slavica hervortreten. Bayern und Sachsen, die bald miteinander rivalisierenden Böhmen und Polen sowie das Sorben- und das Havelland werden unter Mitwirkung des neu eingeführten Christentums, der für diese Zeit charakteristischen Heiligenkulte (u.a. Veit, Wenzel, Adalbert, Boris & Gleb) und beständiger Bistumsgründungen zu konkurrierenden Arenen sich formierender Staatlichkeit. In dem Ringen um die Vorherrschaft, die eine beschleunigte Unterwerfung bis dahin noch freier Slawenstämme mit sich brachte, gingen die sächsischen Ottonen so gestärkt hervor, dass sie von Magdeburg aus ihre Reichserweiterung im Osten nun gezielt vorantreiben konnten. In der Kiever Rus’, deren Regentin Olga a. 959 bei Otto I. um die Entsendung eines Missionsbischofs nachgesucht hatte, spielte sich unter Igor und dessen Sohn Svatoslav eine ähnlich expansive Herrschaftsabsicherung sowohl gegenüber den ostslawischen Stämmen, die der Tributpflichtigkeit der Rjurikiden noch nicht unterstellt waren, als auch vis-à-vis den Chasaren ab, aus deren Abhängigkeit die letzten tributpflichtigen Stämme der Ostslaven herausgelöst wurden. Eine vergleichbare Anbindung an das zweite Rom inklusive eines translatio imperii gelang Vladimir (dem Heiligen) durch die Heirat mit Anna Porphyrogeneta, einer Tochter des byzantinischen Kaisers Romanos II., die ihn dem Rang nach sogar vor Otto II. plazierte, der in Konstantinopel vergeblich um die Hand einer Purpurgeborenen hatte werben lassen. Doch während die Ottonen sich durch den Sieg auf dem Lechfeld a. 955 auf Dauer vor Einfällen der Ungarn schützen konnten, blieb die im Einzugsgebiet der eurasischen Völkerstraße gelegene Rus’ den steppennomadischen Angriffen der Pe&#269;enegen und Polovcer (Kumanen) noch auf lange Zeit ausgesetzt.

Die neuen Mächte des östlichen Europa im zweiten Jahrtausend waren denn zunächst auch großenteils die alten: das unter Mieszko erstarkte Polen Königs Boles&#322;aw I., Bayern mit dem zänkerischen Herzog Heinrich II., Böhmen unter Boleslav, das unter seinem Wahlfürsten Taksony gestärkte Ungarn mit König Stephan I., die zur kulturellen Blüte heranreifende Rus’ unter Jaroslav (dem Weisen) und das den Kaiser stellende Sachsen. Einige Großfürsten waren zu Königen aufgestiegen und in allen Herrschaften befand sich die Christianisierung in vollem Gange – zumindest unter der Elite. So gab Otto III. anlässlich seines Besuches in Gnesen dem Boles&#322;aw Chrobry u.a. einen Nagel vom Kreuz des Herrn und erhielt dafür einen Arm des Heiligen Adalbert als Gegengabe. Ein gleichsam erprobtes Tauschgeschäft zur Machtkonsolidierung bestand in dem Schenkungsakt großer Landesterritorien (Polen, Ungarn) an den Apostolischen Stuhl, der dafür die Königswürde verlieh – am Kaiser vorbei.

Weder fand eine fundamentale Verschiebung des Kräfte(un)gleichgewichts statt, sieht man von dem ständig wachsenden und am Ausbau der Bistümer ersichtlichen Einfluss der Kirche einmal ab, der sich dann im Investiturstreit Bahn brach. Eine breitenwirksame Missionierung setzte wohl erst mit der Kolonisation der Elbmarken im Kontext der Ansiedlung u.a. fränkischer und sächsischer Bauernfamilien seit dem 12. Jahrhundert ein. An die 200.000 Menschen soll dieser Landesausbau in über 50.000 Bauernstellen in Gebiete längs der Linie Schwerin – Spandau – Dresden gebracht haben. Noch waren die Herrschaftsverhältnisse in Polen, Böhmen und Sachsen auf Dauer gefestigt, wie diverse Aufstände zeigen.

Die vorübergehende Besetzung Kievs durch Truppen des Boles&#322;aw Chrobry im Sommer 1018 blieb eine Episode, wie die seines Nachfolgers Boles&#322;aw II. im Frühjahr 1069. Pomoranien, Masowien, Schlesien und Kujawien blieben – am nördlichen Rand Ostmitteleuropas gelegen – dem konkurrierenden Zugriff von Polen und Deutschen bis weit in das nächste Jahrhundert hinein noch entzogen. Auch stellte der Lutizenbund – eine eher antiklerikale, denn antichristliche Bewegung – nur für kurze Zeit eine Herausforderung des politischen Status quo durch die Elbslawen dar, trotz der militärischen und politischen Erfolge der Lutizen (Redarier, Tollenser, Kessiner, Zirzipanen), deren Tempelburg Riedegost ihre integrative Wirkung wohl einer gentilreligiösen Gegenbewegung zur christlichen Missionierung verdankte, wie sie auch Ungarn erfasst hatte.

Dass sich dahinter sozialer Protest über gesellschaftliche Differenzierungsprozesse verbarg, ist wohlbekannt – eine Bewegung, die zunehmend auch von Teilen der Stammesaristokratie getragen wurde, da diese mit Einführung staatlicher Verwaltungsposten den landesherrschaftlichen Territorialfürsten weichen musste. Der Tendenz zur Zentralisierung staatlicher Macht, nämlich der Verpflichtung und Rotation von aus der Stammesloyalität losgelösten Dienstmannen des Königs, entsprachen gegen Ende des 12. Jahrhunderts gleichsam Versuche des Hochadels, das Senioratsprinzip – auch unter Zuhilfenahme päpstlicher Bulle – durch die Primogenitur zu ersetzen. Die zuerst in Polen a. 1181 durchgesetzte Lösung half, das dynastische Morden zu beenden. Sie führte indes zur Zersplitterung der Gesamtheit des Großreiches in mehrere dynastiebeherrschte Entitäten und förderte so den Regionalismus. Damit setzte in Ostmitteleuropa eine Entwicklung ein, welche die Teilfürstentümer der Kiever Rus’ in einem allerdings viel stärkeren Maße durch das duale Vererbungsprinzip von Vatererbe (ot&#269;ina) und Fürstenwürde schon länger geprägt hatte, bis sich spät schließlich auch dort, nämlich im Moskauer Staat, die Primogenitur mit der Wiedereinsetzung Vasilijs II. in die Großfürstenwürde 1447 durchsetzte.

Es war denn auch wesentlich ein Mangel an struktureller Homogenität und Machtkonzentration, die dem Mongolenreich die Expansion in das östliche Europa im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts erleichterte. Die Schlachten an der Kalka a. 1223 und bei Liegnitz a. 1241 zeigten, dass die in Europa entwickelte Form der politischen Organisation wenig Mittel gegenüber einem Patronage- und Klientelsystem aufzubieten hatte, das flexibel und mobil genug war, im Zuge der Landnahme immer neue Gruppen – gemeinhin unter der Sammel- und Fremdbezeichnung Tartaren benannt – zu absorbieren und in weitere Kämpfe einzubinden.

Das östliche Europa – soviel lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen – wurde nicht dauerhaft unterworfen. Doch von der Unteren Volga bis an den Nordkaukasus und an die Krim entstand mit der Goldenen Horde ein Steppenreich, das für über 200 Jahre die Entwicklung Osteuropas nun maßgeblich bestimmen sollte. Von der Dominanz der turk-mongolischen Herrschaft zeugen noch heute – wie Christian Lübke treffend bemerkt – eine Fülle von sprachlichen Entlehnungen und anderer Akkulturationsformen.

Von dem radikalen Strukturwandel, der sich infolge von Plünderung, Verwüstung und entvölkerter Landstriche vor allem in Ungarn und in der Kiever Rus’ ergab, blieb allein der russische Norden, das Baltikum und die Ostseeanrainer weitgehend unbehelligt. Folglich konnten sich dort mit dem Großfürstentum Litauen und dem Deutschritterorden neue Kräfte entfalten, die ihren Einflussbereich nicht zuletzt wegen der in Bedrängnis befindlichen Rus’ erweiterten. Dabei unterwarf der Deutsche Orden in Kreuzzügen die Stämme der Prussen und Jatwiger. Den Litauern gelang die Expansion in die Schwarze Rus’ (Novogrudok, Grodno), heute zu Weißrussland gehörig, und nach der – allerdings nur vorübergehenden – Christianisierung die Erhebung Mindaugas’ a. 1253 in den königlichen Stand. Unter Gedimin gelang dem Großfürstentum a. 1320 nicht nur der militärische Befreiungsschlag gegenüber den Ordensrittern, sondern wenige Jahre später die befristete Herrschaft über Fürstentümer der alten Rus’, darunter auch Kiev und Perejaslavl’. In Polen – durch die Dynastie des Großfürsten Jagie&#322;&#322;o seit der Union von Krewo a. 1385 mit Litauen verbunden – sowie in Böhmen und Ungarn verstärkten sich hingegen schon vorhandene Tendenzen der Europäisierung, da mit der Reorganisation von Heer und Verwaltung auch eine „sozioökonomische und rechtliche Vereinheitlichung des Gesamtraums“ (S. 354) bei starkem deutschen Rechtseinfluss (ius Theutonicum) im Landesausbau verbunden war.

Da sich das Buch, wie überhaupt diese renommierte Reihe des Siedler Verlages, als Vermittler wissenschaftlicher Forschung – und zwar nach neuestem Stand – für ein „historisch interessiertes Publikum“ (S. 443) versteht, vermisst man den fehlenden Anmerkungsapparat kaum. Entsprechend kurz fällt daher die nach Primär- und Sekundärliteratur sortierte Bibliografie aus, die jedoch die wichtigsten Werke in gedrängter Form aufführt. Der Text selbst bietet dafür zahlreiche Hinweise auf zentrale Schriftquellen, die in Auszügen und im Kontext der archäologischen Befunde mit sicherem Griff ausführlich erklärt werden. Sparsam gerät die Verwendung von Fachtermini, deren lateinische bzw. slawische Entsprechungen in der Regel in Parenthese beigefügt sind.

Das gut verständlich geschriebene Buch liest sich dadurch umso flüssiger und weil es zudem durch Zeichnungen, Fotos und andere Reproduktionen reich bebildert ist. Leider ist es wegen fehlender Nummerierung nicht immer leicht, im Bildnachweis festzustellen, woher die Abbildungen stammen. Doch auch manche Flüchtigkeit in der Orthografie und einiger Datenangaben – entstanden wohl in der Eile der Drucklegung – ändern nichts am sehr positiven Gesamteindruck.

Als besonders attraktiv und nützlich erweisen sich die mitgelieferten Stammtafeln (Ottonen und Salier, P&#345;emysliden, Arpaden, Piasten, Rjurikiden, Staufer, Habsburger, Askanier, Babenberger, Wettiner, Gediminiden), diverse Karten zur politischen, ethnischen und konfessionellen Gliederung des Geschichtsraumes sowie eine Zeittafel mit synoptischer Wiedergabe der wichtigsten Ereignisse in West-, Ostmittel- und Osteuropa. Ein umfangreiches Personen- und Ortsregister runden dieses lesenwerte und lehrreiche Werk ab.

Anmerkung:
1 Hingewiesen sei hier nur auf zwei Monografien: Lübke, Christian, Arbeit und Wirtschaft im östlichen Mitteleuropa. Die Spezialisierung menschlicher Tätigkeit im Spiegel der hochmittelalterlichen Toponymie in den Herrschaftsgebieten von Piasten, P&#345;emysliden und Arpaden, Stuttgart 1991; Ders., Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert), Köln 2001.

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