I. Kershaw: Hitlers Freunde in England

Cover
Titel
Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg


Autor(en)
Kershaw, Ian
Erschienen
Anzahl Seiten
527 S., 33 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, BMW Center for German and European Studies (CGES), Georgetown University

„In diesem Buch beschäftige ich mich zum erstenmal mit der Geschichte meines Landes während der dreißiger Jahres des vergangenen Jahrhunderts“ (S. 414), gesteht Sir Ian Kershaw seine Annäherungsschwierigkeiten an das Thema seines 2004 in Englisch erschienenen Buches. Dennoch kann der als Hitlerbiograf berühmt gewordene Professor aus Sheffield, der schon zuvor fundamentale Studien zum Aufstieg des Nationalsozialismus und zur öffentlichen Meinung vorgelegt hatte, natürlich an frühere Arbeiten anknüpfen. Es geht um die britische Haltung zu NS-Deutschland und hier zumal um Lord Londonderry, einen führenden Konservativen, altadliges Geschlecht aus Nordirland, verwandt, verschwägert und bekannt mit der ganzen führenden britischen Führungsschicht – und seine Ehefrau darüber hinaus in vertrautem Umgang mit dem ersten Labour-Premierminister, Ramsay MacDonald. Das ist mehr als eine Anekdote, verdankte der selbstbewusste und anspruchsvolle Mann MacDonald den entscheidenden Schritt seiner realen Karriere: Er wurde Luftfahrtminister von 1931-1935 (dann war er noch kurz Lordsiegelbewahrer). Man sieht, es menschelt sehr und Kershaw vermag zu zeigen, dass auch und gerade aus diesem Stoff, besser gesagt: aus den Netzwerken, Sympathien und Antipathien Politik bestand.

Der Anlass für dieses Buch bot der Zugang zu einem reichhaltigen Nachlass mit einem Übermaß an Briefen und anderen Zeugnissen, die eine erstaunliche Dichte an Informationen zu den NS-Kontakten Londonderrys und seiner Umgebung ermöglicht. Somit ist nicht nur das erste Buch Kershaws zur britischen Geschichte entstanden, sondern auch sein erstes zur Außenpolitik, eben zu den deutsch-britischen Beziehungen der 1930er-Jahre. Wie der Autor einleitend bemerkt, ist das kein unbeackertes Feld, die Debatten über Appeasement (hier zumeist mit Beschwichtigungspolitik wiedergegeben) haben Generationen von Politikern und dann auch Historikern seit 1938 und vor allem nach 1945 beschäftigt. Um 1970 herum gab es ca. ein Dutzend englischer und deutscher Historiker, die sich in mehr oder weniger dicken Büchern ausführlich mit der Thematik insgesamt, dabei auch mit Londonderry und anderen NS-Deutschlandfreunden beschäftigten. Das weiß auch Kershaw, der einige von ihnen nennt und sich zumeist auf die tragfähigen Monografien von D.C. Watt und Gerhard L. Weinberg stützt. Gegenüber diesen vermag auch Kershaw keine neuen Deutungen, wohl aber neue Quellen beizubringen, hat er doch in Ergänzung zu seinen vorangegangenen Arbeiten noch eine ganze Reihe weiterer deutscher und britischer Archivquellen benutzt. Es entstand aus einer Art „geistiger Konvaleszenz“ (S. 1) – Erholung darf man das wohl hierzulande nennen – nach der Hitler-Biografie und wuchs sich zu einer formidablen Monografie aus.

Geschichte wird nicht ein für allemal erarbeitet, bedarf immer wieder der Annäherung und der Rezeption in der Öffentlichkeit. Das geschieht hier umsichtig, glänzend geschrieben – die Übersetzung weist dennoch gelegentlich Anglizismen für deutsche Sachverhalte auf – und erreicht sein Lesepublikum mit der neuen Offenheit des Autors für Außenpolitik.

Zwei Dinge sind bemerkenswert: zum einen vermag Kershaw zwischenstaatliche Beziehungen insofern neu zu schreiben, als er deren kulturellen und gesellschaftlichen Einbettungen breiten Raum gewährt. Ohne die gesellschaftlichen Kontakte, die etwa Londonderry mit Göring und anderen NS-Größen pflegte, ist seine Politik kaum verständlich. Wenn Londonderry etwa 1936 den deutschen Botschafter Joachim von Ribbentrop auf seinem angestammten Landsitz Mount Stewart bewirtete, wird hier die Inszenierung von Politik rekonstruiert. Das ist ebenso von Bedeutung, wie Görings Hofhaltung in der Schorfheide oder in Berlin (dass Londonderry einmal mit von Papen ein Wochenende auf dem Darß verbrachte und der versprochene Wisent als Jagdtrophäe leider schon – aus der Schorfheide dorthin verbracht – am Vortag verendete, ist dagegen wohl eher als Anekdote zum Schmunzeln entbehrlich). Das gleiche gilt für den Rahmen, in dem in Großbritannien selbst Politik gemacht wurde – die Zirkel und Clubs werden hier ebenso lebendig wie die Hobbies und Gebräuche, aber auch bei Londonderry die nur scheinbaren Nebenaufgaben der Verwaltung des Familienbesitzes und die kommunale Anbindung.

Wenn von der Außenpolitik im engeren Sinn die Rede ist, dem zweiten wichtigen Themenkreis, dann gehörte der Luftfahrtminister, der sich zu Höherem berufen fand – Premierminister, Außenminister, Indischer Vizekönig wollte er werden – zu den Personen, die frühzeitig eine britische Luftrüstung betrieben, aber auch auf der Abrüstungskonferenz des Völkerbundes eine Linie der internationalen Kooperation suchten. Insbesondere seine Rivalität gegenüber Frankreich im Hinblick auf Entgegenkommen an Deutschland wird hier deutlich.

Appeasement – das wurde in den eher konzeptuell geführten Debatten der frühen 1970er-Jahre deutlich – war eine erprobte Methode britischer Politik seit dem 19. Jahrhundert, die eigenen Kräfte auf das Weltreich zu konzentrieren und dazu auf dem europäischen Kontinent etwa vorhandene Konflikte durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen zu entschärfen. Zu Londonderrys frühen Illusionen gehörte es, hierbei auch die 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten einzubinden, ja sie dadurch an einer ungehemmten nationalegoistischen Machtentfaltung zu hindern. Das formulierte auch Londonderry, am nachdrücklichsten Ende 1934, vermochte aber auch dem neuen Ordnungsfaktor Deutsches Reich einiges angesichts antibolschewistischer Grundhaltung abzugewinnen. Die Illusionen gegenüber seinen deutschen Kontaktpartnern waren nachhaltig, die Briefe, mit denen sich der abgehalfterte Politiker ab 1936 wieder Geltung und Einfluss zu erobern trachtete, peinlich. Er sah ab 1938 sein sehr persönliches Scheitern (auch auf anderen Gebieten) ein, („elender Versager“ (S. 396)) wurde jedoch nicht müde, die angeblich zu spät begonnene britische Aufrüstung anzuprangern. Er blieb dennoch gegenüber seinen NS-Freunden doppelzüngig freundlich, bis ihn keiner mehr hören wollte.

Was nachwachsenden Generationen absurd erscheinen mag – wie konnte man mit Adolf Hitler Freund werden wollen? – und was nach dem Krieg als moralisch verwerfliche Politik schwächlichen Nachgebens – etwa in der Tradition von Winston Churchills Selbstdarstellung gesehen wurde –, wird von Kershaw behutsam und mit Einfühlungsvermögen als im Ansatz plausibel und rational erklärt: Wie sollte man in Großbritannien in einer Politik verstärkter Aufrüstung, Kriegsdrohung oder gar Krieg gegen NS-Deutschland in und kurz nach der Weltwirtschaftskrise einen Angelpunkt der eigenen Orientierung sehen? Alle anderen denkbaren Wege zuvor auszuprobieren, musste verlockender sein – auch wenn man sich generell über die aggressiven Worte Hitlers und der Seinen langsam klar wurde, jedoch lange Zeit Illusionen machte. Diese genuin historische Aufklärung wird von Kershaw hervorragend geleistet. Das Verständnis des Autors geht aber für die aus meiner Sicht ermüdenden Apologien des gescheiterten Lords sehr weit. Die gesellschaftliche Einbindung in eine ganze Gruppe von Deutschlandspezialisten, aber eben auch -apologeten wird sehr schön deutlich gemacht, mit einer klaren Verdammung hält sich Kershaw jedoch zurück.

Auch wenn Londonderry politisch naiv war und seine Politik zu keiner Zeit durchsetzte, so „wirft sein Fall ein Licht auf die Geisteshaltung und die politischen Strukturen, von denen die Appeasementpolitik geprägt war“ (S. 405). Das Besondere darzustellen und darin doch das Allgemeine zu erkennen, mit leichter Hand gesellschaftliche Hintergründe, politische Strukturen und damals vertraute Mentalitäten zu entfalten – an all dem erkennt man die Meisterschaft Ian Kershaws, der sich einem fachkundigen Publikum durchaus bekannten, aber nicht sonderlich aufschlussreichen Beispiel gewidmet hat.

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