D. Muenkel (Hg.): Der lange Abschied vom Agrarland

Titel
Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn


Herausgeber
Muenkel, Daniela
Reihe
Veröffentlichungen des Arbeitskreises Geschichte des Landes Niedersachsen (nach 1945), 16
Erschienen
Göttingen 2000: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
DM 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Dietrich, FB III, Universität Trier

1996 eröffnet Paul Erker seinen Aufsatz über den "langen Abschied vom Agrarland", auf den der Titel des Sammelbandes und fast alle Autoren hinweisen, mit der Klage, daß die "Sozialgeschichtsschreibung für das 20. Jahrhundert" erst dabei sei, "die Bauern als Untersuchungsgegenstand zu entdecken"1. Vier Jahre später gibt nun die Hannoveraner Historikerin Daniela Münkel einen Sammelband heraus, der vornehmlich jüngeren Geschichtswissenschaftlern die Möglichkeit bietet, ihre kürzlich erschienenen oder bald zu verlegenden Forschungsergebnisse zu diskutieren.

Bereits auf den ersten Blick offenbart der Band seine Vorteile. So nehmen die Kommentare der manche Forschungsarbeiten betreuenden Professoren die Rezension teilweise vorweg. Die Beiträge verweisen nicht zuletzt aufgrund einer wohlmeinenden Berücksichtigung der Mitstreiter im Anmerkungsapparat auf ein geschlossenes Forschungsfeld: den "Arbeitskreis für die Geschichte des Landes Niedersachsen (nach 1945)".

Das gemeinsame Ziel der Autoren ist es, mittels "wirtschafts-, sozial-, geschlechter-, kultur- und politikgeschichtlicher Zugänge [...] die gesamte ländliche Lebens-, Erfahrungs- und Arbeitswelt in den Mittelpunkt des Interesses" zu rücken (10). Ein hoher Anspruch, der klar darauf hinweist, daß sich die deutsche Agrargeschichte seit einigen Jahren "trotz ihres unsicheren disziplinären Status ausgesprochen dynamisch" entwickelt 2, wozu der Sammelband einen wichtigen Beitrag leistet.

Neun Aufsätze und drei Kommentare werden in drei Sektionen gegliedert. Über Periodisierungen sind sich die Autoren weitgehend einig. Sieben Phasen zwischen 1890 und 1945 (296-305) schloß sich ein beschleunigter agrarischen Strukturwandel in den 1950er Jahren an, dem tiefgreifende Einschnitte im anschließenden Jahrzehnt folgten (14, 308), wodurch Dörfer endgültig zu Wohngemeinden umgeformt wurden.

Einen Bezugsrahmen für die vorgelegten Fallstudien bilden Josef Moosers Beitrag und Ulrich Kluges "Ausblick". Das die beiden Aufsätze am Anfang und Ende des Bandes stehen entspricht den gravierend differierenden Auffassungen der Autoren. Der Baseler Historiker geht von einer "Entagrarisierung" als Desintegration der Bauern im 20. Jahrhundert aus. Demnach wurde die Landwirtschaft zunehmend industriellen Interessen untergeordnet (24). Die produzentenorientierte Agrarpolitik machte einer konsumentenlastigen Gesetzgebung Platz (33). Umgekehrt erkennt Kluge eine "vertikale Integration", die als Triebfeder der agrarischen Entwicklung funktionierte. Demnach zielten Landwirtschaftspolitik und "Agribusiness" auf eine "planmäßige Kooperation" zwischen Landwirtschaft und den "vielfältigen Unternehmen der vor- und nachgelagerten Wirtschaftsstufen" ab (306).

Die unterschiedlichen Sichtweisen gründen auf verschiedenen Vorannahmen und methodischen Vorlieben. Mooser bevorzugt die Innenperspektive der Bauern (35) und fordert folgerichtig eine vermehrte historisch-anthropologische Erforschung der ländlichen Gesellschaft. Kluge nimmt eine externe Perspektive ein (295) und stützt sich methodisch dazu auf eine Agrargeschichte als "Integrationswissenschaft", die volks- und betriebswirtschaftliche Ansätze mit biologischen Aspekten verbindet (292, 295). Überspitzt formuliert bemüht sich Kluge um eine Agrargeschichte in der Erweiterung, während Mooser eine Integration der Bauernforschung in eine - ländliche - Gesellschaftsgeschichte fordert (25).

Vor dem Hintergrund einiger sozialhistorischer Mikrostudien zur bäuerlichen Gesellschaft sowie in Hinblick auf die französischen "Ruralisten" verspricht Moosers methodisches Postulat besonders hohen Aufschluß 3. Noch besser jedoch ist es, die beiden eingeforderten Ansätze zu verknüpfen. Dies eröffnet die Chance, agrarwirtschaftliche und landwirtschaftspolitische Strukturen gerecht zu werden, die den Landbewohnern nicht vorgesetzt wurden, sondern die sie aktiv durch ihr Handeln mitgestalteten. Welche Anknüpfungspunkte liefern die neun Autoren für diese wünschenswerte Synthese?

Stark zu Moosers Binnenperspektive tendiert Peter Exner, der seine 1997 erschienene Dissertation komprimiert zusammenfaßt. In einer mikrohistorischen Bestandsaufnahme stellt er einen Wandel "von innen" heraus (53). Insbesondere in seiner originellen Analyse der lokalen Sportplatzpolitik zeigt Exner die Fähigkeit der Landbewohner auf, Tradition und Moderne miteinander zu versöhnen. Auch im Arbeitsbereich macht Exner dies dingfest, denn eine "professionelle Doppelexistenz" als "Arbeiterbauern" (44) blieb bis in die 1960er Jahre weit verbreitet. Es irritiert allerdings, daß Exner trotz der ermittelten "Zwitterstellung" in der Erwerbstätigkeit ein sektorales Modell benutzt, um Berufstätigkeiten aufzuschlüsseln. Dadurch entsteht der Eindruck fester Erwerbstätigkeiten auf dem Land, die wie Exner eingangs bemerkt, so nicht vorhanden waren. Sein Beitrag "dekliniert" Modernisierungsaspekte für die ländliche Gesellschaft durch. Es wird klar, daß viele Neuerungen und Wandlungen auf dem Land nur langsam und bruchlinienhaft verliefen. Aus diesem Grund ist Arnd Bauerkämper Kommentar zu Exners Beitrag zuzustimmen, der fordert, den Deutungshorizont der Akteure stärker in die Forschung einzubeziehen (143). In Erweiterung dieser Kritik ist es wünschenswert, daß Historiker selbst ihre theoretischen Konzepte noch stärker offenlegen (145).

Karl-Heinz Schneider zielt in seinem Werkstattbericht darauf, das von Gesellschaftswissenschaftlern konstruierte typische Dorf in eine Typologie von Dörfern zu überführen. Dazu analysiert er 63 Gemeinden zwischen Emden und dem Harz mittels wirtschaftsgeographischer Kriterien. Schon seine nur demographische Typenbildung öffnet die Auffassung vom typischen Dorf, obwohl die hohe Bedeutung der Totalgeschichte zum Beispiel Kiebingens dadurch nicht geschmälert wird 4.

Helene Albers Aufsatz vertritt den einleitend beanspruchten geschlechtsspezifischen Zugang in hohem Maße, auch wenn sie sich mehr für Landfrauen als für das Verhältnis der Geschlechter interessiert. Sie zeichnet den Leidensweg der Bäuerin als "Arbeitstier und Rechenmaschine" (93) zwischen Weimar und Bonn nach. Zugleich wendet sie sich den landfrauenpolitischen Abhilfeversuchen zu, wobei sie das Dreiecksverhältnis Nation - Dorf - Landfrau ausgezeichnet berücksichtigt.

Die Sektion zur "Landwirtschaft und ländlichen Gesellschaft" beschließt Gesine Gerhardt. Wie Exner betont sie die Fähigkeit der Bauern zur Synthese. Diese verabschiedeten sich zwar tagsüber vom Agrarland, doch als "Feierabendbauern" (137) blieben sie weiter aktiv. Begünstigt wurde diese Umorientierung der Erwerbstätigen unter gleichzeitiger Bewahrung ihrer landwirtschaftlicher Interessen durch das agrarprotektionistische Landwirtschaftsgesetz von 1955, welches Produzenten- und Konsumenteninteressen in Einklang brachte. Gerhardts Beitrag ist ein brauchbarer Ansatz für die parallele Analyse agrarischer Strukturen und bäuerlichen Handelns, doch hätte sie auf ihre knappe Betrachtung der Bauerntumsideologie gut verzichten können.

Im nur zwei Beiträge umfassenden Teil "Kultur in der Provinz" vermißt man vor allem die enorme Bedeutung der Kirchen auf dem Land, obwohl sie bei Dietmar von Reeken am Rande Beachtung findet. Insgesamt thematisieren die Autoren Religion und Konfession zu wenig.

Reeken stößt in die Forschungslücke der Bauernhochschulbewegung vor und exemplifiziert seinen Gegenstand anhand von zwei Heimvolkshochschulen. Er resümiert, daß diese Bewegung an ihren eigenen Zielen scheiterte. Denn die Denker der "neuen Richtung" dieses Bildungsversuchs konzentrierten sich mehr auf Volkstum als auf Ackerbau. Daher ebneten sie in hohem Maße der Blut-und-Boden Ideologie den Weg.

Ausgezeichnet ist der zweite kulturhistorische Beitrag, den Daniela Münkel vorlegt. Aufgrund ihres gegenüber Reeken auf den ersten Blick ganz verschiedenen Gegenstands wird die große Bandbreite faßbar, die dörfliche Kultur kennzeichnet. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken, auf die Adelheid von Saldern in ihrem Kommentar hinweist. Offenkundig besaßen die landwirtschaftlichen Interessenverbände einen enormen Einfluß auf die ländliche Kulturproduktion.

Münkel untersucht das Durchdringen der Massenmedien auf dem Land als "verzögerte Modernisierung" (177). Das Kino gelangte über mäßige Erfolge nicht hinaus. Sehr wichtig war dagegen das Radio als "Schlüsselmedium der individuellen, privaten Mediennutzung" (184). Dennoch schleppte sich seine Einführung hin und boomte erst seit der Vermarktung des "Volksempfängers". Mit höchster Geschwindigkeit setzte sich das Fernsehen auf dem Land trotz anfänglicher Scheu durch. Insgesamt bietet Münkel einen Appetithappen auf ein Hannoveraner Projekt zur Geschichte der Massenmedien. Kritisch ist im Anschluß an die Leiterin dieses Forschungsvorhabens, von Saldern, anzumerken, daß Münkel zu stark eine Dichotomie von Stadt und Land als Modernisierungsmeßlatte bemüht.

Stärker an den ersten Teil angebunden ist die dritte Sektion der Beiträge, gegenüber der die kulturhistorischen Aufsätze als Einsprengsel wirken. In drei Beiträgen geraten "Milieu und Politik" in den Blick. Wolfram Pyta vermutet in seinem Beitrag, daß erst der Nationalsozialismus Dörfer politisch aufbrach. Die NS-Agrarpolitiker beabsichtigten, daß Herz der Bauern, den Boden, neu zu strukturieren, und seine "Seele", die "parochiale politische Kultur" (211, 214) zu verändern. Ersteres wurde nicht umgesetzt, letzteres ist wie Bernd Weisbrod formuliert mit den von Pyta gewählten "Kategorien schwer zu sagen" (280). Schon die Ausgangsüberlegung des Stuttgarter Historikers ist diskutierbar, denn in der Weimarer Zeit waren Dörfer keinesfalls hermetisch abgeschlossen, sondern hatten sich schon zu informierten Einwohnergemeinden gewandelt.

Frank Bösch folgt der Frage, "wie sich die personenzentrierte Lokalpolitik des Kaiserreichs zur volksparteigestützten Politik der siebziger Jahre entwickelte" (227). Durch den ersten Weltkrieg wurde diese Entwicklung angekurbelt, über Vereinigungen, etwa die freiwilligen Feuerwehren führte der kommunale Weg der wahlpolitischen Einigung zu Einheitslisten. Unter dem Einfluß der NSDAP wurde diese Uniformierung bestärkt, doch zugleich bemühte man sich vor Ort um Kontinuität der politischen Kultur. In der Nachkriegszeit trug die CDU die kommunalpolitische Vereinigung und Vereinheitlichung, wobei Bösch in einem Vergleich viele Parallelen zwischen NSDAP und CDU aufzeigt. Allerdings besitzen seine Kategorien einen zu hohen Abstraktionsgrad, der dringend der Präzisierung bedarf.

Die letzte Fallstudie von Jaromír Balcar greift in ihrer Fragestellung stärker als die vorangegangenen Beiträge wieder den ökonomischen "Abschied vom Agrarland" auf. Balcar erkennt eine "fundamentale Entlokalisierung" (283) infolge von Gebietsreformen als beachtliches Kriterium der Modernisierung des ländlichen Raums. Er unterscheidet zwischen Gewinnern und Verlierern. Regionalen Zentren gelang das Schuldenmanagement. Kleinere Gemeinden scheiterten daran, ihren Ort infrastrukturell attraktiv zu machen.

Zusammengefaßt zeigen die Beiträge des Sammelbandes in anschaulicher Sprache, daß gute Aussichten für zahlreiche Forschungslücken bestehen, gefüllt zu werden. Obwohl nur drei Regionen - Bayern, Niedersachsen, Westfalen - in den Beiträgen beachtet werden ist die Multiformität der ländlichen Gesellschaft offenkundig. Die gewisse Skepsis vor allem der Kommentatoren an einem dichotomischen Modernisierungsbegriff belegt die Fähigkeit der Bauern, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen reibungsarm aushalten zu können.

Der Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Landbewohner zwischen Weimar und Bonn. Allerdings irritiert, daß eine "gemeinsame ‚Sprache", wie Ulrich Kluge sie in seinem Beitrag fordert (293), hinsichtlich des Modernisierungs- und noch mehr des "Milieubegriffs" fehlt. Gerade hier wäre ein einleitender Aufsatz wünschenswert gewesen, der für terminologische Klarheit gesorgt hätte.

Demnach sprechen die Beiträge des Sammelbandes nicht das letzte Wort über die Tauglichkeit der Modernisierungstheorie zur Analyse der ländlichen Gesellschaft. Begriffliche Schärfungen und die Selbstreflexion der historisch konstruierenden Forscher als Meta-Akteure bleiben ebenso Desiderat wie Langzeitstudien, die manche vermeintlich moderne Erscheinung im Dorf des 20. Jahrhunderts zumindest funktional als bekannt entdecken werden.

Anmerkungen:

1 Paul Erker: Der lange Abschied vom Agrarland. Zur Sozialgeschichte der Bauern im Industrialisierungsprozeß. In: Matthias Frese/Michael Prinz (Hgg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhunderts. Regionale und vergleichende Perspektiven (Forschungen zur Regionalgeschichte, 18). Paderborn 1996, S. 327-360, hier S. 327

2 Clemens Zimmermann: Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Transformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte. In: Ders./Werner Troßbach (Hgg.): Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 44). Stuttgart 1998, S. 137-163, hier S. 137.

3 Literaturüberblick bei Zimmermann, Gesellschaft, S. 161-163; Jean-Luc Mayaud: Une histoire rurale éclatée (1945-1993). La France du XIXe siècle. In: Alain Faure/Alain Plessis/Jean-Claude Farcy (Hgg.): La terre et la cité. Mélanges offertes à Philiippe Vigier. Paris 1994, S. 21-31.

4 Z.B. Utz Jeggle: Kiebingen - eine Heimatgeschichte. Zum Prozeß der Zivilisierung in einem schwäbischen Dorf. 2. Auflage, Tübingen 1986.

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