Cover
Titel
Institutionelle Macht. Genese - Verstetigung - Verlust


Herausgeber
Brodocz, Andre; Mayer, Christoph O.; Pfeilschifter, Rene; Weber, Beatrix
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Herkommer, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin

Macht gilt als vielschichtiges soziales Phänomen, welches sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens unterschiedlich manifestiert. Entsprechend gehört Macht zu den sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen und ist damit essentieller Bestandteil jeder umfassenden Analyse gegenwärtiger und historischer gesellschaftlicher Zusammenhänge.1 Ähnlich grundlegend für das Verständnis gesellschaftlichen Zusammenlebens sind Institutionen als Trägerinnen sozialer und kultureller Wertvorstellungen, die soziales Handeln strukturieren.2

Mit diesen beiden Begriffen und ihren Zusammenhängen beschäftigt sich der von André Brodocz, Christoph Oliver Mayer, Rene Pfeilschifter und Beatrix Weber herausgegebene und im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“3 entstandene vorliegende Sammelband „Institutionelle Macht“. Zentrales Thema des Sammelbandes ist dabei die Frage, wie sich Macht in institutionellen Ordnungen zeigt, durch welche Mechanismen sie dort entsteht, wie sie sich verstetigt und letztlich wieder verloren geht. Diesem Themenkomplex wird sich auf der Ebene interdisziplinärer Zusammenarbeit genähert – Beiträge aus der Geschichtswissenschaft stehen dabei neben Artikeln aus der Theologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Architekturgeschichte, Philosophie und Linguistik.

Der einende theoretische Rahmen für diese Beiträge wird in dem einleitenden Artikel von André Brodocz vorgestellt. Hier wird das Verständnis von institutionellen Ordnungen und Macht erläutert, welches dem Sammelband zugrunde liegen soll. Brodocz’ Begriff von Institutionen basiert dabei auf einem an Karl-Siegbert Rehberg angelehntem Verständnis institutioneller Ordnungen als ambivalent 4, und dem auf Maurice Hauriou zurückgreifenden Gedanken der „Leitidee“, der jedoch unter Rückgriff auf Rehberg modifiziert wird.5 Danach werden die Prinzipien institutioneller Ordnungen durch eine Leitidee symbolisch repräsentiert, wobei Hauriou davon ausgeht, dass Institutionen und Leitidee zum einen eine Zwangsläufigkeit besitzen und zum anderen einheitlich sind, während Brodocz sowohl die Kontingenz der Institution als auch die Kontingenz der Leitidee betont und in diesem Zusammenhang von einer doppelten Kontingenz spricht (S. 15). Diese doppelte Kontingenz ist es letztlich auch, die es nach Brodocz notwendig für institutionelle Ordnungen macht, sich nach Außen zu präsentieren und sich zu rechtfertigen, denn die Stabilisierung einer institutionellen Ordnung kann nur durch ihre Wirkung in der Öffentlichkeit entstehen. Institutionelle Ordnungen sind diesem Verständnis zufolge also nicht schon allein aus ihrer Existenz heraus legitimiert, sondern müssen Geltung selbst erzeugen, um Bestand zu haben (S. 16).

Dieses Verständnis der Funktionsweise von institutionellen Ordnungen wird ergänzt durch die Annahme, dass innerhalb von Institutionen bestimmte Machtgefüge herrschen, wobei Brodocz hier vor allem die von Gerhard Göhler vertretene Trennung zwischen transitiver und intransitiver Macht übernimmt und für sich nutzbar macht.6 Transitive Macht wird dabei als eine Form der Machtausübung etabliert, die sich auf Handlungsanweisungen und ihre Durchsetzung bezieht, immer auf ein Gegenüber ausgerichtet ist, dabei aber nicht notwendigerweise asymmetrisch sein muss. Intransitive Macht ist demgegenüber auf die Leitideen bezogen und strebt vor allem nach der Institutionalisierung der von ihr repräsentierten Ordnungsvorstellungen; sie steht keiner Gegenmacht gegenüber und beruht auf gemeinsamen Vorstellungen. Brodocz kommt zu dem Schluss, dass in institutionellen Ordnungen immer beide Formen der Macht auffindbar sind und dass sich ein Zusammenhang zwischen Institutionen und Macht herstellen lasse, auch wenn Institutionen oft als herrschaftsfrei und unpolitisch gelten. Dieser „unpolitische“ Charakter von Institutionen sei lediglich eine gelungene Tabuisierung von Macht, die die Mächtigkeit der Institution letztlich verstärke und Fragen nach ihrer Legitimität gar nicht erst aufkommen lasse.

Aufbauend auf diesem Verständnis von institutioneller Macht wird von Brodocz die Begriffskombination „Behaupten“ und „Bestreiten“ als strukturierender Rahmen für die Beiträge des Sammelbandes eingeführt. In dieser Begriffskombination spiegeln sich verschiedenste Strategien und Phasen der Institutionalisierung von Macht wider, die in den Artikeln aufgegriffen und erläutert werden sollen.

Am Anfang steht dabei zunächst die Genese von Macht in institutionellen Ordnungen. Diese wird als ein Mechanismus des „Behauptens trotz Bestreitens“ verstanden. In den Beiträgen von Anna Minta, Rene Pfeilschifter und anderen wird diese Strategie zur Etablierung von Machtstrukturen in institutionellen Ordnungen aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Während Minta anhand des Baus einer Kathedrale in Washington D.C. durch die Episkopalkirche zeigt, wie dieser Kirche der Aufstieg zur Nationalkirche gelingen konnte, ohne einen offenen Machtkampf gegen andere Religionen oder den Staat führen zu müssen, macht Pfeilschifter in seinem Beitrag zum römischen Herrscher Augustus deutlich, dass dieser in der Antike seine Macht dauerhaft behaupten konnte, indem er auf die volle Ausübung seiner Sanktionsmöglichkeiten verzichtete.

Nachfolgend wird in dem Sammelband nach der Festigung und Verstetigung von Macht gefragt. Dies geschieht nach Brodocz in institutionellen Ordnungen mittels der Strategie des „Behauptens durch Bestreiten“. In den Beiträgen von Veit Damm, Ulrike Schenk sowie von Kornelia Sammet und Holger Herma und anderen wird dieser Mechanismus an verschiedenen Beispielen verdeutlicht. Damm untersucht dazu die Dienstjubiläen in Unternehmen und zeigt hierbei, dass die klare Machthierarchie in Betrieben behauptet und die Loyalität der Mitarbeiter gesichert wird, indem Unternehmer auf vorhandene negative Sanktionsmöglichkeiten verzichten und stattdessen positive Sanktionen, wie eben das Dienstjubiläum einführen. Eine ähnliche Strategie findet sich auch in den von Schenk betrachteten mittelenglischen Romanzen des 12. und 13. Jahrhunderts, die sich mit der gerade errungenen Herrschaft der Normannen beschäftigen und in denen eine auf Zwangsgewalt beruhende Herrschaft der Normannen bestritten und stattdessen die Kontinuität zwischen normannischer und angelsächsischer Herrschaft betont wird.

Die sich nach der Ordnung des „Behauptens“ und „Bestreitens“ richtende Struktur des Sammelbandes wird durch eine „philosophische Zwischenbetrachtung“ von Pedro Schmechtig zu „Ontologie, Disposition und sozialer Macht“ unterbrochen. Hier vertritt Schmechtig die These, dass institutionelle Ordnungen als Teil des sozialen Feldes immer die Disposition zur Macht haben, auch wenn keine tatsächliche Ausübung dieser Macht in Form einer Einflussnahme vorliegt.

Mit einem Kapitel zur reinen Geltung von Macht, wird die Struktur des „Behauptens“ und „Bestreitens“ in den Beiträgen von Beatrix Weber und Christian Hochmuth als „Behaupten ohne Bestreiten“ wieder aufgenommen. Weber verweist dabei auf die Standardsprachen als institutionelle Ordnungen reiner Geltung. Sie kann dabei zeigen, dass Regeln und Normen der Sprache als unhinterfragbar und nicht als Ausdruck von Macht erscheinen. Das gleiche gilt für Maßsysteme. Auch sie verfügen über eine solch reine Geltungsform der Macht, wie Hochmuth am Beispiel der Maßsysteme im Dresdner Brau- und Schankwesen des 18. Jahrhunderts verdeutlicht.

Neben der Genese und Stabilisierung und der seltenen reinen Geltung von Macht müssen sich institutionelle Ordnungen letztlich aber auch mit der De-Stabilisierung von Macht auseinandersetzen. Strategien dazu werden von Brodocz als „Behaupten statt Bestreiten“ bezeichnet und beinhalten vor allem die Visualisierung von Machtverhältnissen. Diese Strategie wird unter anderem in den Beiträgen von Anna-Christina Giovanopoulos und Manuela Vergoossen an unterschiedlichen Beispielen erläutert. Während Giovanopoulos auf Impeachment-Verfahren gegen englische Minister im 18. Jahrhundert verweist, die monarchische Machtverhältnisse durch eine Personalisierung visibilisieren und zugleich kritisieren, zeigt Vergoossen am Beispiel des „Vereins Berliner Künstler“, dass schon die Androhung von Sanktionen Machtverhältnisse sichtbar machen und damit ihre De-Stabilisierung bewirken kann.

Abschließend beschäftigt sich der vorliegende Band in den Beiträgen von Susanne Rau und Anke Köth mit dem Verlust von Macht und der Strategie institutioneller Ordnungen diesem Verlust durch das „Bestreiten des Machtverlustes“ entgegenzutreten. Rau verweist dazu auf den Erzbischof von Lyon, der im 14. Jahrhundert alle Grundrechte verlor – mit Ausnahme des Weinbanns, der ihm das Monopol auf den Weinverkauf für eine bestimmte Zeit im Jahr sicherte, so dass die eigentlich im verschwinden begriffene Macht des Erzbischofs weiter präsent war. Köth veranschaulicht die gleiche Strategie anhand der ablehnenden und kritischen Reaktion der deutschen Architektur auf die wachsende Macht der amerikanischen Hochhausarchitektur.

Die hier vorgestellten ausgewählten Beiträge des Sammelbandes aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen machen es bereits deutlich: Die einzelnen Artikel sind für sich genommen interessant und zeigen aus ihrer jeweiligen Perspektive Machtstrukturen in den unterschiedlichsten institutionellen Ordnungen. Was jedoch trotz der von Brodocz in seiner Einleitung entwickelten Struktur des „Behauptens“ und „Bestreitens“ fehlt, ist eine engere Verknüpfung zwischen diesen Beiträgen. Dies liegt in erster Linie daran, dass nicht alle im Sammelband zusammengefügten Artikel gleichsam Bezug nehmen auf den von Brodocz vertretenen Machtbegriff und seinen vorgegebenen strukturellen Rahmen. Dies führt dazu, dass sich im Laufe der Lektüre der einzelnen Artikel immer wieder das Gefühl einstellt, es mit einer nur lose verbundenen Sammlung an Beiträgen zu tun zu haben, die nur mit Mühe und vor allem durch die von Brodocz in seiner Einleitung vorgenommenen Vorstellung und Einordnung der einzelnen Beiträge in einen größeren und gemeinsamen Zusammenhang gebracht werden können.

Dennoch ist der vorliegende Sammelband durchaus als ein wichtiger und interessanter Beitrag zur Auseinandersetzung mit Genese, Verstetigung und Verlust von Macht in institutionellen Ordnungen zu sehen. Es wird deutlich, dass „[...] institutionelle Macht zu keiner Zeit endgültig und ewig (ist), sondern immer umkämpft und geschichtlich“ (S. 36).

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980; Foucault, Michel, Mikrophysik der Macht, Berlin 1976.
2 Vgl. z.B. Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 1986; Schelsky, Helmut (Hg.), Zur Theorie der Institutionen, Düsseldorf 1973.
3 Der SFB 537 besteht seit Januar 1997 an der Technischen Universität Dresden und beschäftigt sich mit der Analyse institutioneller Ordnungen, nicht als historischen Entitäten, sondern u.a. als Trägerinnen kultureller Wertvorstellungen und ihren symbolischen Darstellungen (vgl. http://rcswww.urz.tu-dresden.de/~sfb537/forschungsprogramm/index.htm).
4 Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Göhler, Gerhard (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47-84.
5 Vgl. Hauriou, Maurice, Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze, Berlin 1965.
6 Vgl. Göhler, Gerhard, Macht, in Ders.; Iser, Mattias; Kerner, Ina (Hgg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe, Wiesbaden 2004.

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