H. G. Hockerts: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit

Titel
Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich


Autor(en)
Hockerts, Hans Günter
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 76
Erschienen
München 1998: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Habbo Knoch, Seminar fuer Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universitaet Goettingen

Obschon vielfältig präsent und besonders in den achtziger Jahren ein durchaus veritabler Forschungsgegenstand, fristet die Geschichte der Sozialpolitik ein Schattendasein in der westdeutschen Historiographie. Zwischen Politikgeschichte und historischer Sozialwissenschaft hat sie sich trotz einzelner namhafter Vertreter nicht als eigene Disziplin etablieren können. Das spiegelt die Mühen einer materiell-deskriptiven Sozialpolitikgeschichte und die traditionell disziplinübergreifende Bedeutung der Soziologie auch für die historische Dimension der Sozialpolitik wider, wird aber der Relevanz von sozialpolitischer Regulierung und Praxis als (De-)Stabilisierungsfaktor für politische und soziale Systeme im 19. und 20. Jahrhundert nicht gerecht. Letztere ist vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus, aber auch für die DDR zunehmend herausgearbeitet worden, während Arbeiten mit ähnlicher Fragestellung für das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Bundesrepublik nur vereinzelt zu finden sind. Eine Gesellschaftsgeschichte der Sozialpolitik steht noch aus.

Der vorliegende Sammelband, aus einer Sektion des 41. Deutschen Historikertages in München 1996 hervorgegangen, hat zum Ziel, die synchronen und diachronen Beziehungen zwischen der Sozialpolitik im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und in der DDR herauszuarbeiten und auf die Sozialpolitik der Weimarer Republik zurückzubeziehen. In seiner Einführung stellt Hans Günter Hockerts als Herausgeber des Bandes gleich zu Beginn die weitreichende, den Titel "Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit" erklärende "Grundthese" auf, aus einer "spannungsreichen Gemengelage verschiedener Optionen und Ordnungsideen" der Weimarer Republik hätte sich in den drei folgenden politischen Ordnungen in Deutschland aufgrund spezifischer und "teilidentischer" Übernahmen eine "unterscheidbare historia tripartita" entwickelt (S. 7). Bereits im Ansatz betont dieses Konzept somit die relative, von einer gemeinsamen Basis ausgehende Nähe der betrachteten sozialpolitischen Ordnungen. Sie wird durch eine weitere Annahme zudem als betont "deutsche Sozialstaatlichkeit" profiliert, mit der schon vorab die endogenen stärker als die exogenen Einflüsse (Modernisierung, Amerikanisierung, Sowjetisierung) gewichtet werden (S. 8f.). Leitaspekt aller Beiträge ist die Relation von politischem System und sozialpolitischem Regime.

Den Autoren wurde zur Aufgabe gestellt, im Wege eines mehrschichtigen Vergleichs die diachrone Tradierung von Traditionsbeständen und Optionen in den Blick zu nehmen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von NS-Zeit, Bundesrepublik und DDR herauszuarbeiten und die synchrone Beziehungsgeschichte der politischen Systeme einzubeziehen. Die Kapitel des Bandes sind nach Bereichen der Sozialpolitik aufgeteilt, innerhalb derer die Autoren in unterschiedlicher Weise dem geforderten Vergleich nachgekommen sind. Einigen Beiträgen ist dabei mehr als anderen das begrüßenswerte Bemühen abzulesen, sich enger an Konzeptvorgaben gehalten zu haben (so eröffnen Hachtmann, Süß und Schulz jeweils mit einem Abschnitt zu Leitbildern). Bis auf Axel Schildts Übersicht zur Wohnungspolitik sind die Beiträge selbst nach systematischen Kriterien strukturiert und werden Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR innerhalb der Abschnitte aufeinander bezogen.

Rüdiger Hachtmanns Text zur "Arbeitsverfassung" breitet, die jeweiligen Spielräume der Arbeiterselbstorganisation betonend, in luzider Weise Grundlinien des Arbeitsrechts aus. Für die Gesundheitspolitik hat Winfried Süß entlang systemspezifischer "Funktionszuweisungen" Regimeprofile herausgearbeitet, die er vor allem auf die gestaltende Macht der politischen Ordnungen zurückführt. Christoph Conrads Beitrag zur Alterssicherung schließt sich Günther Schulz, eigentlich ausgewiesener Kenner zur Wohnungspolitik, mit einem Abschnitt zur sozialen Sicherung von Frauen und Familien an. Angesichts der zentralen Bedeutung der sozialen Sicherung für die deutsche sozialstaatliche Tradition hätten diese beiden Beiträge auch demjenigen der Gesundheitspolitik vorangestellt werden können, wobei die getroffene Entscheidung der auch in dem Beitrag von Süß zum Ausdruck kommenden besonderen Privilegierung der Gesundheitspolitik in den Diktaturen geschuldet ist. Axel Schildt hat sich im Fall der Wohnungspolitik als einziger für eine chronologische Darstellung entschieden, der Wilfried Rudloffs Beitrag zur öffentlichen Fürsorge - mit einem ausführlichen Teil zur Jugendfürsorge - sinnvoll angeschlossen ist. Konzeptionell aus dem Rahmen fallen Lutz Raphaels Ausführungen zu den "Experten im Sozialstaat", die einen bislang vernachlässigten Aspekt der Sozialstaatsgeschichte beleuchten.

Die Abfolge der Beiträge ist nachvollziehbar, zeigt aber bereits eines der Probleme des angestrebten breiten Vergleichs an. Das unterschiedliche historische Gewicht der behandelten sozialpolitischen Bereiche in den jeweiligen politischen Ordnungen kann nicht entsprechend in Auswahl und Anordnung abgebildet werden. Das zeigt sich bereits am ebenso programmatischen wie gesamtkonzeptionell problematischen Text von Hachtmann: Arbeitsrecht und Arbeitsordnung sind hinsichtlich der Gestaltungskraft sozialpolitischer Komponenten Themen vor allem der Weimarer Republik; Traditionsbruch in Nationalsozialismus und DDR, vor allem aber die von beiden und ebenso in der Bundesrepublik betriebene Gewichtsverlagerung hin zu einer in unterschiedlichen Formen mit Repressionen aufgeladenen sozialen Angebotspolitik können in den Einzelbeträgen nicht recht deutlich werden. Die Kontinuitäten in den Teilbereichen betonend, ist der teils säkulare, teils politisch induzierte Strukturwandel der Sozialpolitik im 20. Jahrhundert im vorliegenden Band unterbelichtet. Zudem ist der trotz der systematischen Fragestellung unübersehbare - und darin überaus nützliche - Handbuchcharakter des Bandes gerade durch die Aufteilung nach sozialpolitischen Gebieten verstärkt worden. Eine engere Vernetzung wäre wünschenswert und auch über thematische und übergreifende Kapitelzuschnitte ("Arbeit" im umfassenderen Sinn, "Familie", Geschlecht als Faktor der sozialpolitische Regulierung) möglich gewesen. Das hätte auch eher eine zeitliche und systemische Kontextualisierung der Maßnahmen ermöglicht.

Insgesamt ergeben die Beiträge, die sich durchweg auf hohem Niveau einer systematisch angelegten und durch den Vergleich bedingten verdichteten Analyse bewegen, ein informatives Bild, dessen Einzelaspekte hier nicht referiert werden können.

Die Stärke des gewählten Ansatzes und der Beiträge liegt in dem Bemühen, typologische Unterscheidungen zu treffen und begriffliche Kategorien für die zusammenführenden Betrachtungen der verschiedenen politischen Ordnungen zu finden. Der Fokus ist jedoch durch die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Sozialpolitik zu rigide vorgegeben. Nur selten wird Sozialpolitik jenseits dieses etatistisch ausgerichteten Zugriffs verstanden, mit dem selbst ein für Deutschland zentrales Charakteristikum der sozialpolitischen Tradition deutlich, aber nicht problematisiert wird. So fehlen Beiträge zur privaten, sozialen und kirchlichen karitativen Tätigkeit. Gleichzeitig werden jedoch durch den gewählten Zugang unterschiedliche Kontinuitätsmuster in den jeweiligen Bereichen und engere oder weitere Anbindungen an die Weimarer Sozialstaatlichkeit (besonders groß im Bereich des Wohnungsbaus, schwächer im Bereich der sozialen Sicherung) sichtbar. Trotz vieler Ähnlichkeiten, die für den Nationalsozialismus und die DDR konstatiert werden (präventive Gesundheitspolitik, Pronatalismus), betonen die Beiträge doch durchgängig den grundlegenden Unterschied der auf Enthemmung angelegten sozialpolitischen Ordnung in der NS-Zeit.

Überraschendes findet sich jedoch selten. Zu sehr dominiert letzten Endes auf dem knappen Raum das Bild einer Sozialpolitik als Epiphänomen der politischen Ordnung, die deren Prämissen folgt; in Begriffen wie "Laboratorium" oder "Versuchsanordnung", die Sozialpolitik faktisch zum Gestaltungsfeld politischer Ordnungen erklären, schlägt sich diese Auffassung auch konzeptionell nieder. Hockerts hatte dies bereits einführend vorweggenommen: Die Autoren fragten mehr nach dem Sozialstaat als "Produkt" denn als "Produzent von Verhältnissen" (S. 11). Insofern werden neben einer breiten Detailfülle (insbesondere bei Schulz und Schildt) bekannte Profile der Sozialstaatlichkeit bestätigt. Der widerständige Blick, der sich aus der praktischen Aneignung dieser sozialpolitischen Vorgaben, aus ihrem erfahrungsgeschichtlichen Niederschlag und aus den Inkonsistenzen, die in der sozialen Praxis deutlich wurden, fehlt in den Beiträgen weitgehend. Sozialpolitik wird als Sozialstaatlichkeit auf den institutionellen Rahmen und die systemisch-strukturellen Konsequenzen beschränkt. Die Frage nach den Integrationsleistungen und den Desintegrationspotentialen der Sozialpolitik für die politischen Ordnungen lassen sich - wie etwa die Arbeiten von David Crew zur Weimarer Republik zeigen - angemessen nur durch diese ergänzende Perspektive ausloten. Die gesellschaftsgeschichtliche Integration der Historiographie der Sozialpolitik ist adäquat nur durch einen solchen "doppelten Blick" zu leisten.

Zwei Beiträge unterscheiden sich von den übrigen Abschnitten: der knappe Aufsatz von Christoph Conrad zur Alterssicherung durch seine dezidiert theoriegeleitete Interpretation und in konzeptioneller Hinsicht Lutz Raphaels Ausführungen zu den "Experten im Sozialstaat". Conrad führt das aus der Technik- und Wirtschaftsgeschichte stammende Konzept der "Pfadabhängigkeit" ein und stellt es dem eher für synchrone Betrachtungen vorzubehaltenden Begriff des "Wohlfahrtsregimes" an die Seite, um längerfristige Prozesse durch die Betrachtung von "geschichtliche(n) Weichenstellungen und (der) Selbstverstärkung anhaltender Entwicklungen" erfassen zu können. Diese methodische Variable, die institutionelle Prägekräfte auch in der Verbindung mit dem bestehenden Personal betonen ließe, weicht Conrad aber selbst auf, indem er schließlich doch auf "diskursive Pfade" (S. 115) zurückgreift. Konzeptionell quer zu den übrigen Beiträgen hat Lutz Raphael die Rolle der Experten - und damit an einem Beispiel auch die Frage der institutionellen Kontinuitäten - vergleichend analysiert. Hier wird deutlich, wie sich personelle Kontinuität und der Rückgriff auf den in der Weimarer Republik erst entstehenden "Sachverständigen" unterschiedlich auf die in hohem Maße personell improvisierte Beraterstruktur in der NS-Zeit, die Entprofessionalisierung in der DDR und die Reprofessionalisierung in der Bundesrepublik auswirkte. Von hier aus läßt sich unter dem Stichwort "Diskurs" ein weiterer, vom vorliegenden Band ausgesparter Bereich ansprechen, der die Legitimationsstruktur und auch hier die legitimatorische Bezugnahme oder Absetzung von vorherigen sozialpolitischen Leitbildern in ihrer ordnungspolitischen Wirksamkeit hätte ausmessen lassen. Auf dieser Ebene gab es, wie an einigen Stellen des Bandes auch deutlich wird, ganz eigene begrifflich-konzeptionelle Tradierungen und diskursive Aufladungen, die über die Systemgrenzen hinweg wirkten.

Die Beiträge dieses Bandes zeigen in der Gesamtschau, daß eine Periodisierung entlang der politischen Epochen rasch an ihre Grenzen kommt. Deutlich zeichnen sich die Jahre um 1930 und Ende der fünfziger Jahre für die Bundesrepublik als Prägephasen ab. Auch die entscheidende Prägung für die Weimarer Republik reicht in den Ersten Weltkrieg zurück. Diese Übergangsphasen hätten einer genaueren Betrachtung bedurft. Desgleichen wäre eine stärkere Hinwendung vom Ergebnis zur Genese der sozialpolitischen Ordnungen vielfach hilfreich gewesen. Das kaum einbezogene Kaiserreich, dessen zentrale Traditionsprägungen (Sozialversicherung, Beamtentum, Sicherheitsdenken) weitgehend unberücksichtigt geblieben sind, erscheint wie die Weimarer Republik und streckenweise auch die Bundesrepublik zu sehr als statische Vergleichsgröße, die nicht in ihrer Entwicklung differenziert werden. Das gilt besonders für die Bundesrepublik, die in der Regel erst für den Zeitraum nach der sozialpolitischen Konsolidierung Ende der fünfziger Jahre herangezogen wird, auch wenn eigentlich die "formativen Jahre" (S. 10) thematisiert werden sollten. Und auch für die Gewichtung der endogenen und exogenen Faktoren wären mehr Rückblicke in die Zeit des Kaiserreichs erhellend gewesen: Die von Christoph Conrad gerade mit der Absicht, längerfristige Perspektiven zu gewinnen, eingeführte "Pfadabhängigkeit" hätte sich auch an der Tatsache erweisen lassen, daß die intensive internationale Kommunikation über Wege der Sozialpolitik bereits um 1900 zur Manifestierung bestimmter Profile geführt hatte, auf dessen nationalem Sonderwegsbewußtsein auch die späteren Formen von Adaption und Abwehr aufruhen.

Die breit gehaltene Grundthese von der Weimarer Republik als Optionspool wird zwar mit wiederholten Bezugnahmen solide unterfüttert, aber nur gelegentlich auch anhand der konkreten Übernahme- und Abgrenzungsprozesse in den Umbruchphasen konkretisiert (etwa hinsichtlich des beteiligten Personals oder der genauen Herkunft der Leitbilder und Konzepte, deren verfügbare Vielfalt mehr über die Weimarer Republik - und den bereits dort zumindest im diskursiven Bereich etwa mit Blick auf die Sowjetunion stattfindenden "kulturellen Transfer" - als über die tatsächlichen Adaptionsprozesse in den Nachfolgestaaten aussagt). Zudem wird der Spielraum, die Grundthese zu belegen, durch variierende Bezugnahmen auf härtere institutionelle oder, was deutlich häufiger geschieht, auf weichere "programmatische" (S. 228) Bestände der Sozialpolitik der Weimarer Republik erhöht. Darüber hinaus erwecken die Beiträge insgesamt den Eindruck, daß trotz der vielfältigen Bezüge auf bestehende Traditionen letzten Endes doch die ideologisch induzierten, wirtschaftlichen und pragmatischen Herausforderungen der jeweiligen Zeit - besonders deutlich an dem am stärksten an der "Nachfrageproblematik" orientierten Beitrag von Axel Schildt zur Wohnungspolitik - von größerem Gewicht für die Ausgestaltung der Sozialstaatlichkeit waren. Die unterstellte Prägekraft Weimarer Traditionen wird schließlich durch die gemeinsame Eigentümlichkeit der drei verglichenen politischen Ordnungen verwischt, sowohl eigene, neue "Wege" beschritten zu haben (Euthanasie und dynamische Rentenformel sind hierfür zwei konträre Beispiele), als auch systemimmanente Widersprüche (defizitärer Wohnungsbau in der DDR bei gleichzeitigem Pronatalismus, Kostenexplosion im Gesundheitswesen in der Bundesrepublik) produziert zu haben.

Der Pragmatismus des Beibehaltens und die Vielfalt der Abwandlungen sprechen weniger für die Prägekraft der Weimarer Sozialstaatlichkeit als vielmehr für deren sozialpolitische Polarisierungen im konzeptionellen und exekutiven Bereich, die Ausdruck der Spannbreite politischer Konzeptionen in der ersten deutschen Demokratie war. Die Weimarer Sozialstaatlichkeit kann heute nur deshalb als gemeinsame Bezugsgröße der späteren sozialpolitischen Regime auf deutschem Boden lokalisiert werden, weil diese selbst erst aus den Folgen des politischen Sprengpotentials dieser zunehmend versäulten Vielfalt hervorgegangen sind.

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