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Titel
Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918-2000


Autor(en)
Binder, Dieter A.; Bruckmüller, Ernst
Reihe
Österreich Archiv
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
129 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Peter F. N. Hoerz, Reutlingen

Vor zehn Jahren, im Jahre 1996, hatte Österreich – als Tourismusnation par excellence in der Inszenierung kultureller Events geübt – einmal mehr Grund zu großen Feierlichkeiten: Anlass für zahlreiche Festakte, Volksfeste, Ausstellungen und Reden bildete aber nicht ein x-beliebiges historisches Thema, sondern ein Jubiläum, das den Kern der Nation betraf, fand doch in einer Urkunde aus dem Jahre 996 der Begriff „Österreich“ erstmalige Erwähnung. Das Schriftstück regelt eine Schenkung Kaiser Ottos III. an den Bischof von Freising, wobei Gegenstand der Gabe ein Gebiet „in der gewöhnlich Ostarrichi genannten Region“ („regione vulgari vocabulo Ostarrichi“) gewesen ist. Die Rede ist dabei von einem Landstrich bei Neuhofen an der Ybbs. Im Zusammenhang mit Ostarrichi von einem „Reich“ zu sprechen wäre freilich verkehrt, handelte es sich doch um nicht mehr, als um eine „Mark im Osten“, um eine Besitzung an der Grenze und selbst nach der Ausweitung des Gebietes dies- und jenseits der Enns und dessen Erhebung zum reichsunmittelbaren Herzogtum im 12. Jahrhundert hatte diese Region nur wenig mit dem heutigen Österreich gemein. Gleichwohl bezog man sich – aus gutem kulturtouristischem Grunde – 1996 gerne auf die Ostarrichi-Urkunde, um „1000 Jahre Österreich“ zu feiern. Aber da ist noch mehr: Sieht man von der touristischen Wertschöpfung durch das Jubeljahr ab, so lässt sich das Österreich-Jubiläum auch als eine Antwort auf die offenen Fragen der österreichischen Identität lesen, macht doch die Konstruktion von 1000 Jahren österreichischer Geschichte leicht vergessen, dass das Habsburger-Imperium 1918 zerschlagen wurde, die Erste Republik unrühmlich im Austrofaschismus verblutet ist und die sieben Jahre ‚erwünschter Besatzung` durch den Nationalsozialismus bis heute ein heikler Punkt der mémoire collective sind. Dass die Ostarrichi-Region als Keimzelle Österreichs abseits von der Hauptstadt und entkoppelt von den problematischen Themen österreichischer Geschichte liegt, ließ die 1000-Jahr-Feiern unproblematisch erscheinen und schuf die Voraussetzung für eine positive Identitätsstiftung für das heutige Österreich. Fragen nach der Zweiten Republik und ihrer Vorgeschichte, Fragen gar, welche die Debatte um die österreichische Nation als „ideologische Missgeburt“ (Jörg Haider) berührten, erschienen vor dem Hintergrund der Milleniums-Feier als Marginalien. 1

Genau diese diffizilen Seiten der österreichischen Geschichte und die Probleme der österreichischen Identitätsfindung nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie beleuchten der Zeithistoriker Dieter A. Binder und der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller in ihrem „Essay über Österreich“. Dabei ist Binder für das erste von vier Kapiteln, „Politik“, verantwortlich, während Bruckmüller die Kapitel „Wirtschaft“, „Gesellschaft“ und „Identität“ verfasst hat.

Knapp aber so detailgenau wie erforderlich, um nicht nur Daten zu referieren, sondern auch zu argumentieren, bringt Binder die politische Entwicklung der Ersten Republik zur Darstellung: Plausibel zeichnet er den Weg nach, von den Konzentrations- und Koalitionsregierungen der Jahre 1918-1920 mit den Bemühungen um ein funktionsfähiges Staatswesen und einen „Contrat social“ bis hin zur völligen Entzweiung von Christsozialen (Regierung) und Sozialdemokraten (Opposition), welche in die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen von 1934 führte und den „schleichenden Staatsstreich“ durch die christsoziale Regierung nach sich zog. Den hierdurch entstandenen „christlichen Ständestaat“ sieht Binder gleichermaßen als Versuch, der Anbindung an das NS-Deutschland zu entgehen wie auch als den unwillkürlichen Wegbereiter dieser Anbindung. Einer dichten Darstellung des „Anschluß“ und seiner Vorgeschichte sowie der NS-Zeit [dass Binder diese mit einem „Modernisierungsschub“ in Verbindung bringt (S. 54), mag nicht nur erklärten Antifaschisten und österreichischen Verfassungspatrioten sauer aufstoßen] schließt sich die Geschichte der Zweiten Republik an: Nicht völlig neu, im österreichischen Kontext aber noch nicht allzu häufig deutlich artikuliert, ist dabei die Erkenntnis, dass sich das Nachkriegsösterreich aus politischem Kalkül als Opfer einer NS-Fremdherrschaft stilisierte „über deren genuin österreichischen Anteil man von sich aus jedoch nicht formell nachzudenken bereit war“. Besonders für Nichtösterreicher als Hintergrundinformation für die aktuelle Lage des Landes geeignet, erscheint die Darstellung der jüngsten Entwicklungen Österreichs bis hin zur Bildung der ÖVP/FPÖ-Wende-Koalition im Jahre 2000.

Die über alle Kapitel hinweg entscheidende Kernfrage des Buches freilich bleibt, ob und wie jenes „Deutsch-Österreich“, wie es sich nach 1918 aus dem multiethnischen Habsburgerreich heraus geschält hatte, zu eigener Identität gelangte. Zu K.K.-Zeiten zwar dominierendes Kerngebiet des Imperiums, nicht aber ein abgeschlossener Nationalstaat, geriet die Nationwerdung Österreichs zur unerwarteten und extra „verspäteten“2 Aufgabenstellung der Österreicher nach dem Ersten Weltkrieg. Auf ein Drittel seiner einstigen Territorien verkleinert, hofften die politischen Eliten von links bis rechts, vor allem nach dem Scheitern der Bemühungen, das Habsburgerreich wenigstens als gemeinsamen Wirtschaftsraum zu erhalten, auf eine baldige Angliederung an die Weimarer Republik. Eine eigene österreichische Identität zu begründen, ein eigenes Landesbewusstsein zu schaffen, wurde deshalb gar nicht erst versucht, so dass am Ende dem durch die Nationalsozialisten vollzogenen „Anschluss“ nur geringer Widerstand entgegengebracht wurde. Hinzu kommt, dass die mit Deutschland (weitgehend) geteilte Schriftsprache als kulturelles Bindeglied verstanden wurde und sich führende Politiker und Intellektuelle nach 1918 als „deutsch“ definierten. Geschickt und abwägend, wenngleich ein wenig kurzatmig argumentiert Bruckmüller mit diesen kulturellen Aspekten (S. 101ff.), um schließlich auf die „Entgermanisierung“ nach 1945 in Gestalt von sprachlichen Distanzierungen und einer Renaissance der Dialekte hinzuweisen. Zur Hilfe kam den Konstrukteuren österreichischer Identität nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch damals schon ein rundes Jubiläum, jährte sich doch 1946 die Ausstellung der Ostarrichi-Urkunde zum 950. Male, und schon damals ließ sich dieses Datum nutzen, um Unbequemes vergessen zu machen. „An Stelle der ‚deutschen’ Konstanten in der österreichischen Geschichte wurden jetzt andere [...] gefunden: etwa die Konstellation der österreichischen Länder zur Zeit Maximilians I., die als relativ weit gehende Vorwegnahme der Republik des 20. Jahrhunderts gedeutet werden konnte.“ (S. 106)

In der Gegenwart stellt sich Österreich als wirtschaftsfreundlicher und wachstumsgesegneter Wohlfahrtsstaat mit vergleichsweise geringen ökonomischen und sozialen Sorgen dar. Seit den 1960er-Jahren – so Bruckmüller (S. 110) – könne von einem österreichischen Nationalbewusstsein gesprochen werden. Ein Bewusstsein, das von den Vorstellungen von „schöner Landschaft“ und „kulturellem Erbe“ bestimmt werde, in das aber auch die Selbstwahrnehmung als Wohlstandsstaat mit herausragenden sportlichen und wissenschaftlichen Leistungen mit einfließt. Gut zwei Drittel der Österreicher – deutlich mehr als Deutsche – seien auf ihr Land „stolz“ oder „sehr stolz“ (S. 110). Eine rundweg integrierte Gesellschaft, die – wie Bruckmüller optimistisch schließt – auch ungewöhnliche Koalitionen verkrafte, ohne dass das Fundament erschüttert würde (S. 113).
Fazit: Eine lesenswerte Einführung für alle, die gerne die Hintergründe aufgeregter Pressemeldungen über das Nachbarland erfahren wollten. Ein Buch, das in der Darstellung historischer Entwicklungsgänge seine Stärke hat, in dem allerdings die im Untertitel auch versprochene Auseinandersetzung mit Grundfragen der Identität – zumindest für den Geschmack des Kulturwissenschaftlers – ein wenig zu kurz kommt.

Anmerkungen :
1 Der damalige Vorsitzende der FPÖ hatte in der ORF-TV-Sendung „Inlandsreport“ vom 18.08.1988 die österreichische Nation als „ideologische Missgeburt“ bezeichnet und damit nicht nur heftige politische Kontroversen, sondern auch eine öffentliche Diskussion über das Selbstverständnis des Landes ausgelöst. Begründet hatte Haider diese Bezeichnung mit den Worten: „[D]ie Volkszugehörigkeit ist die eine Sache und die Staatszugehörigkeit ist die andere Sache, und wenn man es jemandem freistellt, sich als slowenischer Österreicher zu bekennen, als ungarischer, als kroatischer, dann muss es auch möglich sein, sich als deutscher Österreicher zu bekennen“.
2 Wurde Deutschland auf Grund seiner vergleichsweise späten Nation(alstaats)werdung als „verspätete Nation“ bezeichnet, so wäre die Verspätung in Österreich noch erheblich größer anzusetzen, da sich die Frage nach der Nation in dieser Deutlichkeit erst ab 1918 stellte. Plesser, Helmuth, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, in: Dux, Günter; Marquard, Odo; Ströker, Elisabeth (Hgg.): Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1982, S. 11-233.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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