R. vom Bruch u.a. (Hgg.): Die Berliner Universität in der NS-Zeit

Cover
Titel
Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band I: Strukturen und Personen; Band II: Fachbereiche und Fakultäten


Herausgeber
Rüdiger, vom Bruch; Jahr, Christoph
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
Bd. I 257 S., 3 Abb.; Bd. II 308 S.
Preis
je € 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Schutte, Herder-Institut Marburg e.V.

Im Mai 1942 legte der an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) lehrende Agrarökonom Konrad Meyer eine von Heinrich Himmler in Auftrag gegebene Denkschrift vor, in der er eine Raumordnung für die besetzten Gebiete Osteuropas entwarf. In diesem als „Generalplan Ost“ titulierten Dokument sprach sich Meyer für eine großflächige Umsiedlungspolitik aus, wobei er die physische Vernichtung der dort bis zum Kriegsausbruch ansässigen Bevölkerung zwar nicht offen forderte, aber implizit in seine Überlegungen einbezog. Den bevorstehenden 60. Jahrestag nahm im Januar 2002 der Akademische Senat der Humboldt-Universität (HU) auch mit Blick auf das 200-jährige Gründungsjubiläum im Jahre 2010 zum Anlass, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die Vorschläge für den öffentlichen Umgang mit Verstrickungen der FWU in den Nationalsozialismus erarbeiten sollte. Aus diesen Überlegungen heraus wurde 2003 und 2004 eine dreisemestrige Ringvorlesung „Die Berliner Universität unterm Hakenkreuz“ abgehalten. In welch heftiger Weise Debatten zu diesem Themenkomplex polarisieren und in persönlichen Anschuldigungen münden können, zeigen die Auseinandersetzungen zwischen der HU und privaten bzw. studentischen Initiativen, die seit Beginn der 1990er Jahre eine intensivere Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit forderten.1

Die Ringvorlesung und der den Großteil der dort gehaltenen Vorträge dokumentierende Sammelband erheben ausdrücklich nicht den Anspruch einer abschließenden oder auch nur vorläufigen Gesamtdarstellung der FWU im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Zwar sollen die Beiträge einer weit gefassten Leitfrage folgen – „war die Berliner Universität im Nationalsozialismus auch eine nationalsozialistische Universität?“ (Christoph Jahr, Bd. I, S. 10) –, doch wird lediglich erwartet, dass sie „zur öffentlichen Diskussion beitragen, auf künftigen Forschungsbedarf aufmerksam machen“ (Rüdiger vom Bruch, Bd. I, S. 7). Vor diesem Hintergrund ist generell zu loben, dass die überwiegende Mehrzahl der Beiträge nicht, wie bei einer Ringvorlesung durchaus zu erwarten, lediglich Forschungsliteratur heranzieht, sondern auch Quellenmaterial auswertet. Teils mehrfache Wiederholungen bei der Darstellung institutioneller und gesetzlicher Rahmenbedingungen ließen sich trotz der redaktionellen Überarbeitung nicht vermeiden, werden aber mehr als aufgewogen durch die biografische Erschließung mittels Personenregister und fast lückenloser Angabe der Lebensdaten im Text. Aus organisatorischen Gründen nur online zugänglich sind die Ausführungen von Isabel Heinemann zum „Generalplan Ost“, über den zudem in Bd. II Steffen Rückl und Karl-Heinz Noack in ihrem Beitrag zu den Agrarökonomen an der FWU näher berichten.

In seinem einleitenden Beitrag zu Bd. I fasst Jahr Anspruch und Wirklichkeit der „Führeruniversität“ zusammen, deren Ziele darin bestanden, die ständisch-oligarchische Leitung durch eine autoritär-monokratische zu ersetzen, die Gewaltenteilung in Form der Landeshochschulverwaltungen zu beseitigen und an die Stelle des Humboldtschen Wissenschaftsverständnisses eine auf „Führung und Gefolgschaft“ aufgebaute „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“ zu etablieren. Dieses Konzept ließ sich bis 1945 ungeachtet aller staatlichen Repressionen und Terrormaßnahmen sowie trotz des Opportunismus vieler Hochschullehrer/innen nicht in Gänze realisieren. Ganz allgemein betrachtet wird dieses Phänomen in der Forschung erklärt mit Hinweis auf den nicht aufzulösenden Widerspruch zwischen dem nationalsozialistischen Kontrollwahn und der Tatsache, dass Wissenschaft umso produktiver ist, je stärker sie der Einflussnahme durch übergeordnete Stellen entzogen bleibt. 2

Bd. I ist überwiegend fakultätsübergreifenden Themen gewidmet. Stellvertretend auch für die Mehrzahl der in Bd. II behandelten Lehrfächer steht die Feststellung von Volker Hess in seinem Beitrag über die Medizinische Fakultät, dass zwar zu einzelnen Personen, Institutionen und Forschungseinrichtungen im Deutschen Reich eine Fülle von Literatur vorliegt, die Verhältnisse an der FWU nach 1933 jedoch bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind. Gleiches gilt für den studentischen Alltag in Berlin, wie Sven Waskönig am Beispiel des Kösener Corps darlegt. Anders als die akademischen Disziplinen endeten die Verbindungen bereits 1935 in der Selbstauflösung oder Gleichschaltung. Dennoch kommt Waskönig keinesfalls zu einem eindeutigen Urteil über den Grad der Beeinflussung durch Staat und Partei: Einerseits sprachen sich auch die vor 1933 beigetretenen Studenten für die neue Staatsform aus, andererseits erwies sich aber das bereitwillig übernommene „Führerprinzip“ und die enge Anbindung an die nationalsozialistischen Organisationen als unvereinbar mit dem Verbindungsleben. Ob diese Entwicklung nun eher als „Systemtreue“ oder aber als „verborgener Widerstand“ zu bewerten sein sollte, vermag Waskönig nicht zu entscheiden.

Eindeutiger positionieren sich Matthias Bühnen und Rebecca Schaarschmidt, die sich auf die Ereignisse von 1933 konzentrieren und feststellen, dass die von nationalsozialistisch gesinnten Studierenden betriebene „Selbstgleichschaltung“ die FWU wesentlich prägte. Zwei Autorinnen beschäftigen sich gezielt mit den weiblichen Hochschulangehörigen: Annette Vogt für die Mathematisch-Naturwissenschaftliche und Levke Harders für die Philosophische Fakultät. In beiden Beiträgen wird dargelegt, wie die FWU nach 1933 auf allen Ebenen noch stärker von Männern dominiert wurde als zuvor und Wissenschaftlerinnen nur durch außergewöhnliche Leistungen und die Protegierung durch prominente Kollegen ihre Stellung behaupten konnten. Nach Kriegsausbruch wurde Frauen der Zugang zu Studium und Lehre notgedrungen wieder erleichtert.

Wie sehr bis in die jüngste Vergangenheit hinein Teilbereiche der in den vorliegenden Bänden behandelten Thematik vernachlässigt worden sind, zeigt der Beitrag von Rückl, Schultze und Noack über den Einsatz von Zwangsarbeitern/innen und Kriegsgefangenen an der FWU. Erst im Jahr 2000 wurden im Archiv der HU die einschlägigen Unterlagen gesichtet. Zu den konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen geben die Akten nur wenig Auskunft. Immerhin können die Autoren detailliertes Zahlenmaterial präsentieren, demzufolge für die FWU flächendeckend ausländische Arbeitskräfte rekrutiert wurden, die nicht nur für körperliche Zwangsarbeit, sondern auch für bezahlte Lehrtätigkeiten eingesetzt wurden. Gewissermaßen das Gegenstück zu diesen erzwungenen Rekrutierungen an die FWU beschreibt Ingo Loose, der „Berliner Wissenschaftler im ‚Osteinsatz‘ 1939-1945“ untersucht. In diesem Zusammenhang beklagt er, dass bislang der „Ostforschung“ übermäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Die Beispiele des Agrarwissenschaftlers Karl Johann Boekholt, des Romanisten Günter Reichkron und des Turkologen Gerhard von Mende, die von der FWU an die Posener Reichsuniversität wechselten, zeigten, dass viele von der Geschichtswissenschaft unabhängige Lehrfächer ebenfalls in den Blick genommen werden müssten, um zu einer „Typologie für Karrieremodelle zu gelangen“.

Die Beiträge von Sabine Schleiermacher zu „Rassenhygiene und Rassenanthropologie an der Universität Berlin“, Werner Brill zu „Rassenhygiene im akademischen Unterricht“ und von Helmut Maier zu „Rüstungsforschung und Mobilisierung der Wissenschaften“ beschäftigen sich mit Disziplinen, deren Arbeitsgebiete für die nationalsozialistische Vernichtungs- und Eroberungspolitik von besonderer Bedeutung waren. Alle drei Autoren/innen können anhand von Karriereverläufen und der Entwicklung der Forschungsparadigmen nachweisen, dass sich nach 1933 die wissenschaftlichen Ansichten radikalisierten, aber eben auch auf Grundlagen beruhten, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgebildet hatten. Überlegungen vom Bruchs zur FWU in der Erinnerungskultur nach 1945, die nur in sehr begrenztem Umfang zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit beigetragen habe und bis zum Jubiläum 2010 noch erhebliche Forschungsanstrengungen erforderlich mache, sowie eine stärker faktografisch ausgerichtete Übersicht von Ingrid Graubner über Geschichte und Gedenkkultur an der HU in der DDR beschließen den I. Band.

Die Beiträge in Bd. II sind einzelnen Fächern oder Fakultäten gewidmet, wobei die Autoren/innen mehrheitlich über die Karriereverläufe der einzelnen Gelehrten und die Berufungsverfahren Zugang zu ihrem jeweiligen Thema finden. Auf diese Weise, so stellt vom Bruch in seiner Einleitung zu Recht fest, bietet sich „ein ungemein buntes und facettenreiches Bild“ der FWU zwischen 1933 und 1945: „Je tiefer die Autoren in die einzelnen Fachgebiete eindrangen, umso wenige vermochten sie ein einheitliches Bild zu zeichnen“. (S. 10) Vier Beiträge, deren Darstellung Hochschulpolitik, Karriereverläufe und Wissenschaftsentwicklung besonders anschaulich miteinander verknüpft, seien im Folgenden hervorgehoben. Hartmut Ludwig beschäftigt sich im umfangreichsten Beitrag des Bandes, den er nach den fünf Dekanaten im betreffenden Zeitraum aufgliedert, mit der Theologischen Fakultät. Dabei zeigt, wie die FWU – zunächst öffentlich, nach 1935 im Verborgenen – zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche wurde. Eine andersgeartete Konkurrenz bestand zwischen der Ur- und Frühgeschichte und dem SS-Ahnenerbe. Am Beispiel von Hans Reinerth zeigt Achim Leube, wie ein renommierter, machtbewusster und dem Nationalsozialismus zugewandter Dozent dennoch das Misstrauen von Partei- und Staatsführung erregen konnte.

Wolfgang Höppner konzentriert sich bei seiner Untersuchung auf die „Kontinuität und Diskontinuität in der Berliner Germanistik“, wobei er eine Konkurrenz zwischen einer philologischen und einer geisteswissenschaftlichen Herangehensweise konstatiert. Wissenschaftliche Kontroversen, die sich in Verbindung mit persönlichen Animositäten bis zum Kriegsausbruch hinzogen, dürfen dabei nicht als Anzeichen für eine Bereitschaft zu politischer Opposition gewertet werden. Die dominante Grundhaltung, so Höppner, sei bei allen Beteiligten stets der Opportunismus geblieben. Nach 1945 wurde versucht, im Zuge einer Art „Altbausanierung“ an die Traditionen aus der Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Besonders positiv sticht schließlich auch die Darstellung der Slavistik, unter besonderer Berücksichtigung Max Vasmers, von Marie-Luise Bott heraus. Auf das Dilemma, sich mit einer Region zu befassen, die vom Nationalsozialismus zunächst abschätzig betrachtet und seit 1939 zur Vernichtung vorgesehen wurde, reagierte die Disziplin mit einer Abfolge aus „Kampf“, „Totstellen“ und „Rückzug“. Der „Kampf“ zwischen 1933 und 1936 bestand nicht zuletzt darin, groteske Argumentationsmuster zu konstruieren, wenn etwa Vasmer sich zu dem Hinweis gedrängt sah, dass Slavistik sich nicht ausschließlich mit den Germanen in Osteuropa beschäftigen könne.

Um die beiden Bände resümieren zu können, muss man an das Eingeständnis der Herausgeber erinnern, Berichte mit Werkstattcharakter nicht nur für zulässig, sondern angesichts des lückenhaften Forschungsstandes für unvermeidlich gehalten zu haben. Berücksichtigt man außerdem die Tatsache, dass den Beiträgen öffentliche Vorträge zu Grunde gelegen haben, wird noch deutlicher, dass es allein schon aus Platzgründen kaum möglich war, die Geschehnisse in Berlin in einem größeren Kontext einzuordnen. Es muss daher in Kauf genommen werden, dass zwar keiner der Beiträge gravierende Mängel aufweist, aber sich die Darstellung in den allermeisten Fällen auf eine an den Fakten orientierte Schilderung der Berliner Verhältnisse beschränkt. Thesen oder weitergehende Interpretationen sucht man zumeist vergeblich. Allein auf Grundlage der zahlreich und durchweg anschaulich präsentierten Einzelschicksale lässt sich die eingangs gestellte Frage, ob die FWU nun eine nationalsozialistische Universität oder aber eine Universität im Nationalsozialismus war, nur mit „Sowohl – als auch“ beantworten – wie es einige Autoren/innen in ihren Beiträgen auch ausdrücklich tun.

Bei der Suche nach einem gemeinsamen Nenner in allen Beiträgen muss man sich daher mit einer eher banalen Erkenntnis begnügen: Wer nach 1933 an der FWU verblieb, musste sich über kurz oder lang mit dem Regime arrangieren. Von den konkreten Umständen, unter denen unerwünschte Hochschulangehörige von der FWU entfernt wurden, erfährt man in Bd. I einiges. Wie sich in umgekehrter Richtung die an der FWU gelehrte Wissenschaft auf die Kriegs- und Vernichtungspolitik auswirkte, kommt in den Beiträgen aber nur am Rande zur Sprache. Folgerichtig werden Kategorien wie persönliche Schuld oder moralische Verantwortung nur sehr zurückhaltend kommentiert. Diese Fragen für einzelne Fächer ausführlicher abzuwägen, bleibt zukünftigen Forschungen vorbehalten. Durch die Fülle an biografischen Informationen und die quellengestützten Einblicke in den Universitätsalltag im Nationalsozialismus ist das Werk dennoch ohne Zweifel für die Hochschulgeschichtsschreibung von großem Nutzen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Dokumente im: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung 18 (2002), S. 146-149, und 19 (2002), S. 122-131.
2 Grüttner, Michael, Die deutsche Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: Connelly, John, Grüttner, Michael (Hgg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 67-100, hier S. 67; 80 f.

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