H. Bergenthum: Geschichtswissenschaft in Kenia

Titel
Geschichtswissenschaft in Kenia in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Herausforderungen, Vielfalt, Grenzen


Autor(en)
Bergenthum, Hartmut
Reihe
Studien zur Afrikanischen Geschichte 31
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Laurien, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geschichte und kollektivem Gedächtnis und deren Bedeutung für die Herausbildung von „Erinnerungskulturen“ gehört heute zu den Grundfragen historischer Forschung.

Deutungen von eigener wie fremder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmen das Selbstverständnis und die Formen des Erinnerns von Individuen und Kollektiven maßgeblich mit. Großgruppen wie Ethnien, Staaten und Nationen konstruieren ihre Vergangenheit als sinnvoll, mit Kriterien, die Bedürfnissen der Gegenwart entnommen sind. Das komplexe Zusammenspiel von staatlich institutionalisiertem Gedenken, konkurrierenden Erinnerungen, die sich aus Primärerfahrungen speisen, und den Debatten akademischer Historiker konstituieren eine ständig neu auszuhandelnde kollektive Sinnstiftung, die eine Gesellschaft konstituiert.

Dies gilt nicht nur für die westlichen Gesellschaften und ihre Nationsbildungsprozesse im 19. Jahrhundert bis heute, sondern ebenso für den oft fragilen und schmerzlichen Selbstfindungsprozess der historisch „jüngeren“ Nationen Afrikas, wie die Dissertation von Hartmut Bergenthum zur „Geschichtswissenschaft in Kenia in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zeigt. Nach der Darstellung der Entwicklung von Orten und Strukturen der akademischen Geschichtswissenschaft an Schulen, Universitäten und Verlagen untersucht Bergenthum in seiner materialreichen Arbeit die Debatten um Erinnerung und Erinnerungspolitik und ihre Bedeutung für Nationsbildung und staatliche Integration in Kenia seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Gibt es überhaupt eine öffentliche Erinnerungskultur in Kenia? In öffentlichen Äußerungen der politischen Führer Kenias entstand in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit eher ein zukunftsgewandtes Bild: Kenia als junge „developing society“, deren Bürger, den Fußstapfen ihrer Oberen folgend, optimistisch in eine bessere Zukunft marschieren. Das Monument der nationalen Gedenkstätte in Nairobi, Uhuru Gardens, zeigt Männer und Frauen beim Aufrichten der nationalen Fahne, eine symbolische Übersetzung des Begriffs des „nation building“.

Aber es ist nicht nur der Massenverelendung der letzten zwanzig Jahre, die das Fortschrittsversprechen zunehmend diskreditiert, zuzuschreiben, dass Fahne und Nationalhymne kaum zu einer gemeinsamen Identifikation reichen. Auch der Blick in die Geschichte ist eher weniger geeignet, Gemeinsamkeiten auszubilden. Kenias erster Präsident Jomo Kenyatta schuf zwar mit seinem Buch „Facing Mount Kenya“, einer idealisiernden ethnografischen Beschreibung der vorkolonialen Kikuyugesellschaft, eine narrative Identität, aber eben nur für seine eigene Ethnie. Kenias andere Bevölkerungsgruppen blieben ausgeschlossen. Auch sein Slogan „Suffering without Bitterness“ zielte in erster Linie auf die Landkonflikte im Rift Valley und traf nicht die Identifikationsbedürfnisse anderer Gruppen in Kenia. Ihnen fehlt eine solche sinnstiftende Erinnerung, und es fehlt eine übergreifende Geschichtserzählung, die alle Bevölkerungsgruppen in Kenia einbinden könnte. Am ehesten hätte noch der von Kenyatta propagierte „Harambee Spirit“ als Ausdruck selbstbestimmter Entwicklung eine übergreifende Identität stiften können, wenn die Bewegung nicht durch Mißbrauch, Korruption und Zwangsharambees diskreditiert worden wäre. „Njayo-Philosophy“ von Kenyattas Nachfolger Moi („Peace, Love and Unity“) hatte ohnehin nie eine identitätsstiftende Kraft.

Dabei hatte Kenia ja mit Mau Mau einen antikolonialen Kampf, der die Kolonialmacht in Angst und Schrecken versetzte und zur Aufgabe der Kolonie beitrug. Aber wie Bergenthums Studie zeigt, gelang es nicht, Mau Mau in ähnlicher Weise zu einem identitätsstiftenden Gründungsmythos der Nation werden zu lassen, wie es etwa im benachbarten Tansania der „nationalen Geschichtschreibung“ – unter tatkräftiger Unterstützung „westlicher“ Historiker wie T.O. Ranger und John Iliffe - mit dem Maji Maji Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft gelungen war.

In Kenia gestaltete sich die Befreiung von kolonialen Kategorien und Institutionen mühsam. Es gelang der kenianischen Historiografie bisher nicht, eine Brücke zu schlagen zwischen der kolonialen Zeit und der modernen Nation. Das ist das vielleicht interessanteste und vielsagendste Ergebnis von Bergenthums Untersuchung.

„Vorkoloniale Tradition, koloniale Erfahrung und postkolonialer Staat ließen und lassen sich kaum in eine verbindliche Narration der Geschichte des Nationalstaates überführen. Projekte zur Erstellung einer kenianischen Nationalgeschichte blieben in ihrer Umsetzung unvollständig und problematisch [...] Es gab kein narrativ-temporales Modell, mit dessen Hilfe die ethnisch-regionalen Konfliktlinien gebannt beziehungsweise überbrückt werden konnten.“ (S. 374f.)

Auch wenn wiederholt emphatisch beschworen - das Insistieren auf der Notwendigkeit einer eigenständigen kenianischen Geschichtsschreibung kam über Studien der „ethnohistory“, die die ursprünglich koloniale Konstruktion der „Stämme“ aufgriff und fortführte, nicht hinaus. In der Erforschung der Geschichte der einzelnen Ethnien Kenias gab es allerdings auch durchaus beeindruckende Leistungen. Bergenthum würdigt vor allem die „großen alten“ Männer Bethwell Ogot und Gideon Were, deren Ansätze, wie etwa die schon sehr frühe Auseinandersetzung mit Methoden der Oral History, dann aber oft von der etablierten „westlichen“ Geschichtswissenschaft nicht angemessen rezipiert wurden. Diese Arroganz des Zentrums gegenüber der Peripherie fand bei kenianischen Historikern ihre Entsprechung in der immer wieder emphatischen Betonung der Notwendigkeit einer autochton „afrikanischen“ Geschichtskultur sowie in dem verbreiteten Misstrauen gegenüber „ausländischen“ Wissenschaftlern an kenianischen Universitäten und schließlich in der Zurückweisung „westlicher“ Forschung mit „westlichen“ Argumenten im Namen einer „africanness“, die niemand genauer umschreiben konnte.

Eine Zusammenschau aber wollte nicht gelingen. Schon die Entwicklung von Fragestellungen über eine allgemeine antikoloniale Stoßrichtung hinaus bot unüberwindbare Schwierigkeiten. Allerdings: die Frage nach dem Entstehen der Nation und ihrer weiteren Entwicklung hätte bedeutet, sich Ereignissen und Konstellationen analytisch zu nähern, deren Akteure durchaus noch in gesellschaftlichen oder politischen Machtpositionen saßen. Das war sowohl unter Kenyatta als auch unter Moi ein Wagnis, das mit Gefängnis, Folter und Exil enden konnte, wie zahlreiche Fälle zeigen, von denen Maina wa Kinyatti, Ngugi wa Thiong’o, Alamin Mazrui und Edward Oyugi nur die prominentesten waren.

Die Entfaltung einer offenen historiografischen Diskussion um eine „richtige“ Deutung von Erinnerung und die Entfaltung einer Zivilgesellschaft sind letztlich nicht voneinander zu trennen. Ein diktatorischer Staat, der ständig in diese Prozesse hineinregiert, zerstört die Erinnerungsarbeit eines Gemeinwesens und verhindert auf diese Weise die Ausbildung einer kohäsiven Identität.

Die Lektüre von Bergenthums Arbeit führt zu der erstaunlichen Erkenntnis, dass trotz aller Repressalien seit den 1960er-Jahren dennoch so etwas wie eine Debatte um eine nationale Identität geführt wurde, allerdings eine fragmentierte und zerrissene Identität, zuletzt mit den ethnohistorischen Arbeiten von David Cohen und Atieno-Odhiambo zu Identität und Geschichte der Luo Gesellschaft. Man könnte allerdings die beeindruckende Zähigkeit, mit der seit Jahrzehnten in Kenia um die Herausbildung einer Zivilgesellschaft gestritten wird, selbst als mögliche Keimzelle einer neuen nationalen Identität ansehen, ein Prozess, der nicht mehr „tribal“ gebunden ist, sondern auf ein Kenia der Einheit in Differenz zielt. Vielleicht macht Kenia ja erst jetzt seinen zähen, mühsamen und mit vielen Rückschritten behafteten Prozess der „Nationswerdung“ durch. Auch dieser Prozess hat seine Helden, auch Heldinnen (Nobelpreisträgerin Wangari Maathai), aber es ist ein klein-kleiner Prozess am Verhandlungstisch und allenfalls im Straßenprotest, kein Stoff, aus dem sich Mythen stricken lassen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension