A. Geisthövel u.a. (Hgg.): Orte der Moderne

Cover
Titel
Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Geisthövel, Alexa; Knoch, Habbo
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Sedlmaier, Wadham College, University of Oxford

Die räumlichen Erfahrungen der Individuen in der Moderne haben in den letzten Jahren verstärkt gelehrte Aufmerksamkeit erhalten. Die Essaysammlung, die Alexa Geisthövel und Habbo Knoch zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Topografie der Moderne herausgegeben haben, bestätigt lebhaft die intellektuelle Relevanz räumlicher Strukturierung von Gesellschaften. Die überwiegende Mehrzahl der 25 AutorInnen entstammt dem Mittelbau deutscher historischer Institute. Alle sind vom interdisziplinären „spatial turn“ beeinflusst und nehmen soziologische, ethnologische, humangeografische und kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen auf, wobei den jeweils etwa zehn Seiten umfassenden „Miniaturen“ zumeist nicht genügend Platz bleibt, diese methodischen Hintergründe zu reflektieren. Der Fokus liegt auf der deutschen Geschichte zwischen 1870 und 1930. Ausblicke auf transatlantische und westeuropäische Einflüsse werden je nach Bedarf geliefert. Dies relativiert den die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse suggerierenden universellen Titel. Ein Essay konstatiert ein internationales Phänomen, beschränkt sich aber auf einen dreizeiligen Verweis auf parallele Entwicklungen in Großbritannien (S. 102).

Das Buch ist in sieben Abschnitte mit jeweils vier bis fünf Texten gegliedert. Bereits das erste Oberkapitel zu Mobilitätserweiterungen zeigt die Flexibilität bei der Auswahl, Definition und Gruppierung der Orte. Während sich die Beiträge zu Bahnhof, Auto, Flugzeug und Raumschiff auf die Suche nach dem gesellschaftlichen Stellenwert motorisierter Ortsveränderungen machen und diesen vor allem an der Schnittstelle zwischen technischer Innovation und deren öffentlicher Deutung ansetzen, strapaziert die Aufnahme des Laboratoriums in die „Orte der Erweiterung“ die forschende Ausdehnung des Horizonts. Alfred Gottwaldt demonstriert, wie mit dem Bahnhof ringsum ganze Stadtgebiete neu entstanden. So werden die gesellschaftlichen Folgen technischer Mobilitätsinnovationen bei den planerischen Eingriffen sichtbar gemacht, in denen kulturelle und politische Werte sich gestaltend niederschlugen. In der Revolutionierung moderner Raum- und Weltbilder spielte das Raumschiff schon vor seiner technischen Verwirklichung eine zentrale Rolle. Die Rekonstruktion humaner Lebensbedingungen in lebensfeindlicher Umgebung, so legen Rebekka Ladewigs Schlussfolgerungen nahe, scheint eine generelle Tendenz in der Moderne zu markieren, die eine Vielzahl jener untersuchten Orte kennzeichnet, die über die Grenzen des herkömmlichen Lebensraums hinausgreifen.

Während der erste Abschnitt Orte zeigt, die Menschen mit der Absicht der Ortsveränderung aufsuchen, wird im zweiten Teil die steuernde Vernetzung in Zeitungsredaktion, Telefonzentrale, Arbeitsamt, Parteizentrale und Agrarbetrieb behandelt. Eine Zeitung zu kaufen, ist ungleich leichter, als in journalistische Netzwerke einzudringen, welche die Wirklichkeit selektiv präsentieren. Dies galt auch nach der politischen Durchsetzung der Pressefreiheit, welche die räumliche Verbreitung von Sichtweisen und Werten dem auf technische Umsetzung gestützten, marktabhängigen Wettbewerb anvertraute. Mit der Entstehung eines „politischen Massenmarkts“ (S. 101), so schreibt Till Kössler, habe sich die Parteizentrale herausgebildet, welche die weiterhin maßgebliche soziale Praxis einzelner Politiker partiell auf einen funktionalen Ort fixierte. Dass viele etwas machen durften – hier in Gestalt des allgemeinen Wahlrechts –, zog die räumliche Konzentration der wenigen nach sich, die diesen Prozess aktiv beeinflussten. Leider verfolgt Frank Bösch seinen Befund nicht weiter, das Entscheidungszentrum Zeitungsredaktion verliere an Bedeutung, wenn der weltanschauliche Rahmen von einem verlagspolitischen Verbundsystem vorgegeben werde; er spricht hier von einem „virtuellen Ort“ (S. 77). Löste nicht eher eine ebenso reale und verortbare Machtkonstellation eine andere ab?

Überzeugend ist der Band vor allem im dritten Abschnitt, wo es um die Dialektik von Nähe und Abstand – was sich als Leitthema für den ganzen Band angeboten hätte – im Kontext von Strand, Grandhotel, Tanzlokal und Stadion geht. Warum das Appartement nicht in diesen Zusammenhang gestellt, sondern zum Ort der Befreiung stilisiert wird, erschließt sich andererseits nur schwer. Habbo Knochs Aufsatz zum Grandhotel beschäftigt sich zwar mit einem Ort, welcher den meisten unzugänglich blieb, dabei jedoch, im Unterschied zu Palais und Residenz, den Charakter der potentiellen Zugänglichkeit aufwies. Vor allem die Analyse der sozialen Inszenierung von Öffentlichkeit und Privatheit zeigt, dass die feine Distinktion sicherlich zu den Hauptzutaten der Moderne gehört. Erwähnung verdient der Aufsatz zum Tanzlokal von Alexa Geisthövel, der ausgehend von zwei Berliner Tanzbars darlegt, wie sehr solche Orte in Massenmedien und Massenmärkte eingebettet waren. Im nationalsozialistischen Berlin übertraf die Zahl der Tanzstätten jene der 1920er-Jahre. Der repressive Autoritätsanspruch der NSDAP richtete sich – ähnlich wie beim Warenhaus – letztlich nicht gegen den Ort als solchen: Zwangsmaßnahmen ausgesetzt war neben den homosexuellen Tänzern vor allem die „Swing-Jugend“, die sich eben nicht vornehmlich in etablierten Tanzlokalen, sondern in Badeanstalten, Eisdielen und Parks versammelte.

Einen stärker vergleichenden Ansatz wünscht man sich im Abschnitt „Orte der Rationalisierung“, der Stahlwerk, Hochhaus, Stadtrandsiedlung und Staudamm zusammenbringt. Viele der Essays des Sammelbands liefern aufschlussreiche Anhaltspunkte für konzeptuelle Vergleiche der untersuchten Orte. Deren systematische Durchführung hätte freilich die auf der Selbständigkeit der Miniaturen beruhende Struktur der Publikation gesprengt. Sowohl Habbo Knochs Kapitel zum Stahlwerk als auch Dirk van Laaks Skizze des Staudamms konzentrieren sich auf die systematische Bändigung und Nutzung elementarer Gewalten und die daraus hervorgehenden Risiken. Die Beiträge zeigen, dass Rationalisierung in Gestalt groß dimensionierter Projekte lange vor der Durchsetzung der Ideen Fords und Taylors in Deutschland tief in industrielle wie natürliche Räume eingriff. Wieder wird deutlich, wie die wenigen, die technische Organisationsentscheidungen trafen, viele andere damit zur Anpassung zwangen. Die Betreiber der Krupp-Stahlwerke profitierten vom Krieg; die gezielte Zerstörung der Edertalsperre im Zweiten Weltkrieg änderte nichts an der charakteristischen Bereitschaft in der Moderne, zur Energiegewinnung – die letztlich der räumlichen Verbreitung moderner Lebensformen dient – weitgehende und risikoreiche technische Eingriffe in die Natur zu billigen.

Die Essays zu den „Orten des Ausstellens“ sind bedeutsam für das spezifisch performative Element der Moderne. Dazu gehören die Orte des zahlenden Publikums: Warenhaus, Völkerkundemuseum, Kino und Stripteaselokal. Der hier ebenfalls behandelte Kraftraum gehört gemeinsam mit Umkleidekabine, Friseursalon, Arztpraxis und der psychoanalytischen Couch zu den in dem Band unterrepräsentierten Orten der Selbstgestaltung. Ein gutes Beispiel für eine räumliche Analyse der konsumgeschichtlichen Dimension der klassischen Moderne ist Uwe Spiekermanns Studie zum Warenhaus. Er illustriert, wie das klassische Warenhaus, obwohl es nur einen oft schichtenspezifischen Bruchteil des Einzelhandelumsatzes auf sich ziehen konnte, zum Symbol des Übergangs von der Produktions- zur Konsumgesellschaft wurde. Seine Schaufenster sind, wenn man sie zu deuten weiß, die Schaufenster der Moderne. Einem in der kulturalistisch inspirierten Konsumgeschichte gängigen Ansatz folgend, behauptet Spiekermann, das Warenhaus habe geschlechterhistorisch emanzipatorische Auswirkungen besessen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach der weiblichen Präsenz im halb-öffentlichen Raum, sondern auch nach dem Einfluss von Frauen auf Gestaltung und kommerziellen Gewinn dieser Einrichtungen.

Die vier Essays zu den „Orten der Zerstörung“ (U-Boot, Front, Bunker, Konzentrationslager) liefern eine dramatische Warnung vor dem Ignorieren der Janusköpfigkeit der Moderne. Der Kontext des industrialisierten Kriegs trieb unter radikaler Ausnutzung moderner technischer Rationalität den genuin selektiven Zugang zu den zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne in Gestalt der aggressiven Verwehrung bzw. Zerstörung eben dieses Zugangs für unterschiedlich definierte Gruppen von Gegnern oder Feinden selbstwidersprüchlich auf die Spitze. Jan Rüger untersucht den „torpedoförmigen Stahlkörper“ U1 aus dem Jahr 1906: Die auf engstem Raum und unter Annäherung an die Grenzen des technisch und menschlich Machbaren definierte hierarchische Solidargemeinschaft in seinem Inneren wurde zum Symbol der Moderne, das freilich deren Selbstzerstörung in sich trug. Habbo Knochs Essay zur Front weist in eine ganz ähnliche Richtung, wenn er die Implosion des Fortschritts im Schützengraben thematisiert. Wird aber mit der Entscheidung, nicht den körperlich erfahrbaren Ort Schützengraben, sondern den eher diskursiven Raum „Front“ zwischen Konzepten wie „Heimatfront“ und „Frontstadt“ zum titel- und perspektivgebenden Begriff des Kapitels zu machen, nicht ein den selbstgesteckten Rahmen der Publikation sprengender Kategorienfehler begangen?

Ein ähnliches Problem stellt sich bei Bernd Hüppaufs Essay zur Kleinstadt, der die abschließende Sektion zu den „Orten der Befreiung“ anführt. Die anregend provokative These von der Kleinstadt als kreativer Vorgängerin der Metropolen und als Ort des Widerstands „gegen die Macht der Modernisierung“ (S. 314) verweist doch, wenn man Habermas folgt, wieder auf die hier nicht explizit analysierten Orte bildungsbürgerlicher Öffentlichkeit, wie sie sich vor Hochindustrialisierung und Urbanisierung zwischen Kaffeehaus, Salon, Verlag und Universität in Städten wie Weimar oder Göttingen manifestierten. Die Frage nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von beschleunigter Metropolenkultur und eigensinniger kleinstädtischer Beharrung ist spannend, fügt sich aber nicht ins Konzept, da mit der Kleinstadt ein imaginierter und diskursiver Raum thematisiert wird, der auf zahlreiche anthropologische – das heißt sinnlich und körperlich unmittelbar erfahrbare – Orte rekurriert. Die hier verfolgte Idee der Kleinstadt ist ein Raum, der nicht konsequent auf seine je individuellen Orte befragt wird. Die restlichen Beiträge zu Kleingarten, Appartement, Wahlkabine und Couch gehen einer anderen Frage nach, wenn sie, wie Uffa Jensen ausgehend von den Berliner Laubenpiepern, beleuchten, wie sich an konkreten Orten das Wechselspiel von realen – denjenigen, die vor der Laube Skat spielen und Bier trinken – und imaginierten Gemeinschaften – die sich nach Benedict Anderson durch raumgreifende Institutionenbildung reproduzieren – vollzieht.

Auffallend am ganzen Band ist der Mangel an expliziten und verbindenden Fragestellungen. Die kurzen Beiträge gehen vorwiegend beschreibend, deutend und einordnend vor, nur selten fragend, zweifelnd oder Hypothesen und Kontroversen verbindend. Weder Einleitung noch Schlusskapitel, die eher assoziativ argumentieren, nehmen eine theoretisch stringente Definition der Begriffe "Ort" und "Raum" vor. Wer also auf eine systematische, auf kollektive Empirie gestützte Antwort auf die von Theoretikern wie Henri Lefebvre, Marc Augé oder Dolores Hayden aufgeworfenen Fragen nach der gesellschaftlichen Dialektik von Ort und Raum hofft, wird enttäuscht. Gut bedient – wie im Warenhaus – ist hingegen, wer auf ein anregendes und ideenreiches Arsenal an konkreten Beispielen, Argumenten und Perspektiven für eben diese Debatten zurückgreifen will.

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