B. Falk: Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33

Titel
Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33. Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Alltagsleben


Autor(en)
Falk, Barbara
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 38
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Teichmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

"Vor hilflosem Zorn sind die Eisenbahnarbeiter gelb geworden, wie Tote im Grab, haben nicht mehr die Kraft, Worte für ihr unglückliches Schicksal zu finden. Die Unterwelt tut sich ihnen auf, und die Gräber greifen nach ihnen." So beschrieb ein Arbeiter aus Charkov in der Ukraine im Januar 1933 die Lage seiner Kollegen (S. 109). Der Hunger, der 1932/33 die Ukraine, den nördlichen Kaukasus, die Wolgaregion, Kasachstan und das Zentrale Schwarzerdegebiet in seinen Griff nahm, kostete zwischen sechs und sieben Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben. Die Stadt Charkov und ihr Umland, die den geografischen Schwerpunkt von Barbara Falks Studie über den Zusammenhang von sowjetischer Getreide- und Versorgungspolitik in den frühen 1930er-Jahren bildet, war eines der von der Hungerkatastrophe am schwersten betroffenen Gebiete. Im Juni 1932 lag die Zahl der Todesfälle bei 9.000, im Juni 1933 bei 100.000.1 Der Anteil der als Städter registrierten Hungeropfer in diesem Gebiet, das vor der Kollektivierung eine florierende Landwirtschaft besessen hatte, betrug zehn Prozent (S. 140). Falk thematisiert in ihrem Buch eine in Westeuropa weitgehend vergessene Katastrophe der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.2

Das Buch zerfällt in drei Teile. Im ersten Teil (S. 15-158) wird die Entstehung der Lebensmittelrationierung und des Kartensystems beschrieben, die 1927 begann und sich bis 1931 zu einem komplexen System entwickelt hatte. Falk zeigt das Zusammenspiel zwischen der staatlichen Requirierungspolitik auf den Dörfern und der alltäglichen Versorgung der Städte. Durch die zentralisierte Lebensmittelvorsorgung wurde die sowjetische Stadtbevölkerung in Versorgungshierarchien eingeteilt, die von Klassenzugehörigkeit, Arbeitsplatz und Wohnlage bestimmt waren. Moskau und Leningrad waren besser versorgt als die Städte in der Provinz. Große Fabriken konnten die Versorgung der Belegschaft besser organisieren als untergeordnete staatliche Behörden oder Krankenhäuser. Ingenieure, Fabrikarbeiter und Funktionäre bekamen mehr Brot als Putzfrauen und Wächter. Die Bauern blieben dagegen sich selbst überlassen. Das unionsweite, zentralisierte Verteilungssystem funktionierte zu keinem Zeitpunkt, wie es funktionieren sollte. Es war gekennzeichnet durch Mangel, Willkür, Korruption und Vetternwirtschaft.3

Den zweiten Teil des Buches (S. 159-306) nimmt die Beschreibung der Versorgungslage von Charkov, der damaligen Hauptstadt der Ukraine, ein. Im Detail interessant sind hier die Ausführungen zur Fabrikversorgung, zu den staatlichen Repressionen gegen die Arbeiter, zur Selbsthilfe der Städter, die im Herbst 1932 eigenständig Requirierungen in den Dörfern vornahmen und Wachdienste für ihre Datschas organisierten sowie zur Situation der circa 25 Prozent der städtischen Bevölkerung, die keine Lebensmittelkarten erhielten (Waisen, Invaliden, Alte). Schwerpunktmäßig untersucht die Autorin jedoch anhand statistischer Quellen die Menge der in der Region vorhandenen Lebensmittel und deren Marktpreise. Bei der Auswertung ihrer Daten für die Jahre 1924 bis 1941 weist Falk immer wieder auf Selbstverständliches hin, wie etwa den Nexus zwischen Mangelerscheinungen und saisonalen Preisschwankungen unter den Bedingungen eines kollabierenden Markthandels (S. 201ff.).

Der letzte Teil des Buches besteht aus einem umfangreichen Tabellenanhang (S. 321-422). Allein der Umfang dieses Teils verweist auf die Überzeugungskraft, der die Autorin Zahlenreihen und Statistiken zumisst. Worten misstraut sie, denn "aus einem Textdokument ist häufig nicht eindeutig zu bestimmen, wo die rhetorische Figur endet und echter Hunger beginnt". "Impressionistischen Quellen wie Beschwerdebriefen und behördlichen Schriftwechseln" zieht sie Zahlen vor, um "ein objektives Bild von der Dimension der Hungersnot 1932/33 in den Städten" zu gewinnen (S. 118f.). Mit Hilfe ihrer statistischen Erhebungen kommt Falk jedoch zu Schlussfolgerungen, die oft bekannt sind und manchmal banal erscheinen: dass sich die Ernährungslage der Arbeiter 1932 gegenüber 1925 erheblich verschlechtert hatte (S. 124f.), dass die Versorgungslage saisonalen Schwankungen unterlag (S. 127), dass die freien Marktpreise auf dem Höhepunkt des Hungers „geradezu aberwitzige Ausmaße“ erreichten (S. 67) und nach dem Beginn der Ernte im Juli 1933 wieder fielen (S. 210).

Die Untersuchung bleibt über weite Strecken deskriptiv. Dadurch wird Falks beeindruckende Archivarbeit zu einer oft öden Reihung von Informationen ohne Tiefgang. Mehrere Gründe spielen dabei eine Rolle. Die Starrheit der weitgehend chronologischen Erzählung lenkt die Aufmerksamkeit auf Einzelereignisse und Details, anstatt Personen in konkreten Situationen zu zeigen und strukturelle Zusammenhänge transparent zu machen. In der Analyse und Beschreibung des Zahlenmaterials zeigt sich immer wieder die Überzeugung der Autorin, dass die von ihr aufgearbeiteten Bestände der sowjetischen Statistikämter einen Informationswert an sich für LeserInnen besitzen. Vielleicht liegt in dieser Überzeugung der Grund für die Ausblendung viel diskutierter Forschungsbeiträge der letzten Jahre.4 Worin die über die Beschreibung der Quellen hinausgehende Intention der Untersuchung bestanden haben mag, bleibt unklar. Dabei wirft das Thema eine Reihe von schwierigen Fragen auf, die nicht ignoriert werden sollten.

Der „Große Hunger“ war eine Katastrophe, durch die sich das Verhältnis zwischen den Bolschewiki in der Staatsführung und den Einwohnern der Sowjetunion stark veränderte.5 Umstritten ist die Frage, in welche Richtung diese Veränderung vor sich ging und was der Hunger von 1932/33 allgemein über den Stalinismus als Herrschaftssystem aussagt. Die aktuelle Forschungsdiskussion kreist um das Problem, ob der Hunger eine durch die Staatsführung planmäßig herbeigeführte "Vernichtung durch Hunger" und somit ein Genozid gewesen sei oder ob die Bolschewiki die Gelegenheit der eingetretenen Katastrophe dazu nutzten, missliebige Bevölkerungsgruppen zu beseitigen.6 Andere Interpretationen bestreiten die Vernichtungsabsicht der Staatsführung. Sie argumentieren, dass es objektiv einen Mangel an Marktgetreide gegeben hätte und die Staatsführung daher die Lösung des Getreideproblems in der Kontrolle der Agrarproduktion gesucht hätte, die sie durch die Kollektivierung schließlich zu einem hohen Preis erlangte.7 Wiederum andere behaupten, dass es der Stalinschen Führung auch nach 1933 nicht wirklich gelang, das Verhalten der Landbevölkerung zu kontrollieren.8 Diesen komplexen Diskussionsstand reflektiert Falks Untersuchung nur ungenügend.

Babara Falks bietet ihren LeserInnen interessante Detailinformationen. Wer solche Details sucht, wird in ihrem Buch fündig. Eine andere, weniger streng chronologische Erzählform und kürzere Abschnitte, an deren Ende eine Zusammenfassung steht, hätten es trotz des schweren Themas zu einer leichten Lektüre machen können. Wer dagegen Fragen hat und nach fundierten Interpretationen sucht, sollte lieber weiterhin englischsprachige Bücher lesen.

Anmerkungen:
1 Zum Überblick Werth, Nicolas, Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Courtois, Stéphane (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, S. 44-295, hier S. 178-188.
2 Dazu Troebst, Stefan, Holodomor oder Holocaust? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.07.2005, S. 8; Mark, Rudolf; Simon, Gerhard (Hgg.), Osteuropa 12/2004. Themenheft: „Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR.“.
3 Vgl. Osokina, Elena, Our Daily Bread. Socialist Distribution and the Art of Survival in Stalin's Russia, 1927-1941, Armonk 2001.
4 Insbesondere Martin, Terry, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923-1939, Ithaca 2001, S. 273-308.
5 Dazu die Erinnerungen von Lew Kopelew: Kopelew, Lew, Und schuf mir einen Götzen, Hamburg 1979.
6 Für den ersten Argumentationstyp repräsentativ Ellmann, Michel, The Role of Leadership Perceptions and of Intent in the Soviet Famine of 1931-1934, in: Europe-Asia Studies 57 (2005), S. 823-841 mit der nur schwer haltbaren These, die Staatsführung hätte 1933 die Deportationskontingente für angebliche Staatsfeinde in dem Maße gesenkt, wie die Zahl der Hungertoten stieg. Die These vom "Hunger als Gelegenheit" stellt D’ann R. Penner in einer differenziert argumentierenden Lokalstudie auf: Stalin and the "Ital’ianka" of 1932-1933 in the Don Region, in: Cahiers du Monde Russe 39 (1998), S. 27-67.
7 Davies, R. W.; Wheatcroft, Stephen G., The Years of Hunger. Soviet Agriculture 1931-1933, Houndmills 2004, S. 434-435.
8 Rittersporn, Gábor, Das kollektivierte Dorf und die bäuerliche Gegenkultur, in: Hildermeier, Manfred (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 147-167.

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