Cover
Titel
Geben und Nehmen. Die Autobiografie


Autor(en)
Zwickel, Klaus; Zuber, Anton
Erschienen
Leipzig 2005: Militzke Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Fetzer, Department of History, European University Institute

Seit einigen Jahren lässt sich in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte – im Zuge einer allgemeineren Wiederentdeckung der Einzelpersönlichkeit als historischem Faktor – eine Hinwendung zu Biografien führender Funktionäre/innen beobachten. Dies gilt auch für die gewerkschaftliche Zeitgeschichte.1 Die 2005 unter dem Titel „Geben und Nehmen“ beim Militzke-Verlag erschienene Autobiografie des früheren IG-Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel ist insofern „zeitgerecht“. Dennoch ist sie als Selbstzeugnis in Anlage, Anspruch und Inhalt natürlich nicht mit wissenschaftlichen Biografien wie der von Klaus Kempter über Zwickels’ Vorgänger Eugen Loderer vergleichbar. Zudem dürfte der Autobiograf hier infolge der Mannesmann-Affäre unter besonders starkem Rechtfertigungsdruck gestanden haben. Interessant für Historiker/innen ist Zwickels’ Buch aus zwei Gründen, einerseits im Hinblick auf mögliche neue Erkenntnisse über die Nachkriegsgeschichte der IG Metall bzw. allgemeiner der DGB-Gewerkschaften, andererseits als Quelle zur Rekonstruktion des generationellen Selbstverständnisses bundesdeutscher Gewerkschaftseliten – nicht zuletzt auch im Kontext der längerfristigen Generationenabfolge innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert.2

Klaus Zwickel wurde 1939 als Kind einer Heilbronner Arbeiterfamilie geboren. Leider erfahren wir nur wenig über seine Sozialisationserfahrungen in Kindheit und Jugend, welche auf kaum mehr als 20 Seiten abgehandelt werden. Nach dem von ihm als traumatisch beschriebenen alliierten Luftangriff auf Heilbronn, den Zwickel als Fünfjähriger im Dezember 1944 überlebte, verlief seine Entwicklung offenbar in den typischen Bahnen der in den Kriegsjahren geborenen Generation: Zunächst alltägliche Mangelerfahrung (gelindert durch den kleinen Bauernhof der Großeltern) und die „Abenteuerspielplätze“ der Ruinenstädte und zurückgelassenen Militäranlagen, später der scheinbar unaufhaltsame ökonomische Boom. Schon 1958, nach kaum abgeschlossener Lehre als Werkzeugmacher, kündigt Zwickel spontan seinen Arbeitsvertrag, weil ihm der Stundenlohn zu niedrig erscheint (S. 32) – sichtbares Zeichen des Selbstbewusstseins einer neuen Arbeitergeneration.

Im Hinblick auf die politische Sozialisation bleibt Zwickels generationelle Selbstverortung eher unscharf. Seine Jugenderfahrungen unterschieden sich deutlich von denen der skeptischen und pragmatischen „45er“ Generation – in der IG Metall die „Eugen-Loderer-Generation“.3 Als junges Gewerkschaftsmitglied fühlte sich Zwickel schnell vom kommunistischen Heilbronner IG-Metall-Vorsitzenden Erich Leucht inspiriert, der sein Mentor wurde und seine frühe Karriere zum Betriebsratsvorsitzenden der Firma Tuchel, eines mittelgroßen Unternehmens in der Elektrobranche, maßgeblich förderte. Zwar reagierte der junge Zwickel mit „Widerspruch und Unverständnis“ (S. 31) auf die Entwicklungen im kommunistischen Ostblock und trat daraufhin auch in die SPD ein. Doch als er sich 1965 gegen den Rat seiner Frau und trotz erheblicher Einkommenseinbußen entschloss, vom Betriebsrat in die Position eines hauptamtlichen DGB-Funktionärs in Neckarsulm zu wechseln, waren dafür, wie er rückblickend etwas kryptisch vermerkt, „hauptsächlich ideologische Gesichtspunkte oder gar gewisse gesellschaftspolitische Visionen“ verantwortlich (S. 49).

Was damit genau gemeint war, und wie sich diese Visionen später veränderten, lässt sich aus der Autobiografie kaum entschlüsseln. In seinem praktischen Gewerkschaftshandeln verfolgte Zwickel einerseits den Ansatz, Arbeitnehmerinteressen mit mehr Konfliktbereitschaft durchzusetzen als unter der traditionell sozialpartnerschaftlich geprägten Loderer-Linie – im Zweifelsfall auch am Rande der Legalität. Dies kommt vor allem in den von ihm mitinitiierten wilden Streiks bei AUDI/NSU in Neckarsulm 1975 und bei Daimler 1984 in Stuttgart zum Ausdruck, die die IG-Metall-Führung implizit oder ausdrücklich missbilligte. (S. 74ff., 106ff.). Andererseits ging es ihm auch um eine innergewerkschaftliche Demokratisierung, wie sich beispielhaft an seinem Konflikt mit Loderer anlässlich des Gewerkschaftstages 1977 zeigte (S. 203). Dass sich vieles von diesem radikalen Ansatz im Verlauf seiner späteren Karriere abschliff, kann angesichts steigender Arbeitslosigkeit und eines zunehmend gewerkschaftsfeindlichen gesellschaftlichen Klimas seit den 1980er-Jahren kaum überraschen – und Zwickel ist ehrlich genug, dies einzugestehen, wenn er sich heute als „gezähmten Rebellen“ bezeichnet (S. 248). Noch immer empört er sich über Profitgier und neoliberale Politik, akzeptiert aber gleichzeitig die Grenzen gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht.

Der Einfluss der 1968er Bewegung auf Zwickel scheint gering gewesen zu sein. Zwar findet er im Rückblick, dass sich gewerkschaftliche Nachkriegsforderungen nach gesellschaftlicher Umgestaltung „teilweise“ in der 1968er Bewegung widerspiegelten, stellt aber fest, dass sein „Tätigkeitsfeld“ von diesen Auseinandersetzungen wenig berührt blieb (S. 59). Auch für den der 1968er Revolte zugrunde liegenden soziokulturellen Wandel von der Überlebens- zur „Erlebnisgesellschaft“ 4 finden sich in der Autobiografie keine Anhaltspunkte. Nach seinem Selbstzeugnis zu urteilen, unterschied sich Zwickels’ Lebensstil kaum von dem seiner Vorgänger der „45er“-Generation. Spätestens seit seiner Berufung zum 1. Bevollmächtigten der IG Metall Neckarsulm 1968 führte er eine „Zweitehe“ mit der Gewerkschaft, die wenig Raum für individuelle Selbstentfaltung ließ. Die Tendenz, sein Leben in den Dienst der „Organisation“ zu stellen, verstärkte sich auf seinen weiteren Karrierestationen: 1982 Erster Bevollmächtigter der IG-Metall Stuttgart, 1986 Wahl in den geschäftsführenden Vorstand der IG Metall, 1989 Zweiter und von 1993 bis 2003 schließlich Erster Vorsitzender der „größten Industriegewerkschaft der Welt“.

Den wichtigsten Meilensteinen dieser Karriere widmet Zwickel je ein eigenes Kapitel: VW-Audi/NSU-Krise 1974/75, Tarifkonflikt um die 35-Stunden-Woche 1984, „Aufbau Ost“, „Bündnis für Arbeit“, Streik in Ostdeutschland 2003, Rücktritt und Mannesmann-Affäre. Allzuviel Neues werden deutsche Gewerkschaftsforscher/innen hier allerdings nicht finden; Zwickel hält sich mit der Schilderung von gewerkschaftsinternen Debatten sichtlich zurück. Es fällt auch auf, dass er mehreren Themenkomplexen, die z. B. in der von Kempter ausgiebig verwendeten Autobiografie Eugen Loderers eine zentrale Rolle spielen, nur wenig Beachtung schenkt. Nicht nur die internen politischen Konflikte innerhalb der IG-Metall-Führung bleiben unterbelichtet, auch das Verhältnis der Metallgewerkschaft zum DGB wird kaum erwähnt. Auch über die Mitbestimmungsdebatte, jahrzehntelang das Hauptsteckenpferd deutscher Gewerkschaftspolitik, hat Zwickel wenig zu berichten. Die in seine Amtszeit als Erster Vorsitzender fallende Arbeit der gemeinsam von Böckler- und Bertelsmann-Stiftung getragenen Mitbestimmungskommission bleibt unerwähnt, Begriffe wie „Ko-Management“ (S. 140) werden verwendet, ohne über den damit verbundenen Wandel gewerkschaftlicher Mitbestimmungskonzepte zu reflektieren.5 Andererseits liefert Zwickel im Kapitel über die Mannesmann-Affäre (S. 207ff.) eine anschauliche Beschreibung der Mitbestimmungspraxis in diesem deutschen Großkonzern. Sie gehört zu den interessantesten Teilen des Buches, auch weil hier Nöte und Dilemmata gewerkschaftlicher Vertreter in den Aufsichtsräten offen thematisiert werden, z. B. im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten bei der Regelung von zunehmend nach angelsächsischem Vorbild gezahlten Managerbezügen.

Potenziell inspirierend für die Gewerkschaftsforschung könnten auch Teile von Zwickels’ Überlegungen zur Zukunft der Gewerkschaften sein (S. 175ff., S. 248ff.), etwa im Hinblick auf die Globalisierung oder die Zukunft des Flächentarifvertrags. Seine Verteidigung des Hochlohnlandes Deutschland in einer „unethisch“ geführten „Standortdebatte“ wirkt angesichts zahlreicher von IG-Metall-Vertretern auf Betriebsebene geschlossener „Standortvereinbarungen“ etwas steril. Dagegen ist die Forderung, neben einer breiten sozialen Bewegung auch die verstärkte Kooperation europäischer Regierungen zur politischen Gestaltung der Globalisierung zu suchen (S. 184), ein interessanter Hinweis darauf, dass der seit den späten 1980er-Jahren intensivierte Diskurs deutscher Gewerkschaften über das „europäische Sozialmodell“ wohl in erster Linie eine Antwort auf die allein national nicht mehr zu bewältigenden Probleme der Globalisierung darstellt. Es würde sich lohnen, dieser Hypothese im Detail nachzugehen.

Die schwierigste zukünftige Herausforderung für die deutschen Gewerkschaften sieht Zwickel in der Verteidigung des Flächentarifvertrages (S. 180, 251). Vorstöße von Unternehmern/innen und Politikern/innen für eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik, sowie das zunehmende Auseinanderklaffen der Ertragskraft von Firmen – und der jeweiligen Arbeitnehmerforderungen – stellen die Verbandssolidarität auf eine harte Probe. Historisch betrachtet ist dies allerdings gerade innerhalb der IG Metall kein ganz neuer Konflikt, sondern gewissermaßen – unter veränderten Vorzeichen – die Neuauflage der Debatte über eine „betriebsnahe Tarifpolitik“ in den 1950er und 1960er-Jahren. Vielleicht trägt Zwickels’ Buch dazu bei, dass sich Gewerkschaftshistoriker/innen dieses bisher systematisch nicht untersuchten Gegenstandes annehmen.

Anmerkungen
1 Vgl. Kempter, Klaus, Eugen Loderer und die IG Metall. Biografie eines Gewerkschafters, Filderstadt 2003; Borsdorf, Ulrich; Lauschke, Karl, Hans Böckler, 2 Bde., Essen 2005; Kalbitz, Rainer, Die Ära Otto Brenner in der IG Metall, Frankfurt am Main 2001; Ahland, Frank, Ludwig Rosenberg. Biographie eines Gewerkschaftsführers, Bochum 2002; vgl. auch die ältere Arbeit von: Beier, Gerhard, Willi Richter. Ein Leben für die soziale Neuordnung, Köln 1978.
2 Vgl. hierzu jüngst: Schönhoven, Klaus u. a. (Hgg.), Generationen in der Arbeiterbewegung. Schriftenreihe der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 12, München 2005.
3 Vgl. Kempter (wie Anm. 1); vgl. allgemein zu den „45ern“: Moses, A. D., The Forty-Fivers. A Generation between Fascism and Democracy, in: German Politics and Society 17 (1999), S. 94-126.
4 Vgl. Schildt, Axel, Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die sechziger Jahre in der Bundesrepublik, in: ders.; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl C., (Hgg.), Dynamische Zeiten. Die sechziger Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 21-53.
5 Vgl. hierzu z. B.: Kotthoff, Hermann, Betriebsräte und Bürgerstatus. Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung, München 1994.

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