S. zur Nieden (Hg.): Homosexualität und Staatsräson

Cover
Titel
Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945


Herausgeber
zur Nieden, Susanne
Reihe
Geschichte und Geschlechter 46
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lücke, Berlin

Vom Aufschwung der Männlichkeitsgeschichte im deutschsprachigen Raum konnte die Historiografie der männlichen Homosexualität kaum profitieren. Eine nennenswerte gegenseitige Befruchtung dieser eng verwandten Themenfelder gab es weder auf theoretischem noch auf empirischem Gebiet. Das erscheint gerade deshalb sehr erstaunlich, weil mit dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Robert W. Connell ein Männlichkeitsmodell zum Leitfaden der Männlichkeitsgeschichte wurde, in dem männliche Homosexuelle als Idealtypen von unterdrückter Männlichkeit eine zentrale Rolle spielen. Der Einfluss des Connellschen Konzepts jedoch führte innerhalb der Männlichkeitsgeschichte fast selbstredend dazu, die Marginalisierung von männlicher Homosexualität, die Connell für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet hat, auch auf die Geschichte zu projizieren und auf diese Weise festzuschreiben.1 So wurde männliche Homosexualität häufig als subkulturelle Erscheinung verstanden und interpretiert. In seiner Geschichte der Männlichkeit in Europa zum Beispiel stellt Wolfgang Schmale den Ausführungen über Homosexualität im bürgerlichen Zeitalter die Fotografie eines schwülen russischen Dampfbades voran und illustriert auf diese Weise sehr plastisch, was unter einer solchen Subkultur zu verstehen ist.2

Anders die Bildauswahl auf dem Einband von Susanne zur Niedens Sammelband Homosexualität und Staatsräson: Hier findet man eine Portraitfotografie des homosexuellen Nationalsozialisten Ernst Röhm, der in Paradeuniform vor der Kriegsflagge des Deutschen Reiches posiert. Die Wahl dieses Motivs führt deutlich das Ziel des Bandes vor Augen: Nicht in die Sphären einer marginalisierten Subkultur sollen die LeserInnen geführt werden, vielmehr möchte die Herausgeberin aufzeigen, wie „gleichgeschlechtliche Sexualität in Deutschland von einer verschwiegenen Sünde zu einem breit diskutierten Gesellschaftsthema“ und schließlich „zum Gegenstand staatlicher Sorge“ und zur „Problematisierung des Verhältnisses von Männlichkeit, Sexualität und Politik“ (S. 7) werden konnte. Dabei geraten in den insgesamt elf Beiträgen des Bandes besonders zwei Aspekte in den Blick: Zum einen wird gefragt, warum den Zeitgenossen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung eines homosexuellen Staatsfeindes zunehmend plausibel erschien. Zum anderen untersuchen die Autoren des Bandes, auf welche Weise das Klischee des „schwulen Nazis“ sowohl die antifaschistische Exil-Propaganda als auch die nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung wie ein Motor antreiben konnte.

Die Beiträge des Bandes nehmen ein breites Themenfeld ins Visier. Claudia Bruns untersucht im Aufsatz Der homosexuelle Staatsfreund. Von der Konstruktion des erotischen Männerbunds bei Hans Blüher die Rolle von viriler Homoerotik in männerbündischen Zusammenhängen des Kaiserreichs. Die Beiträge Vom fragwürdigen Zauber männlicher Schönheit. Politik und Homoerotik in Leben und Werk von Thomas und Klaus Mann von Harry Oosterhuis und Aufstieg und Fall des virilen Männerhelden. Der Skandal um Ernst Röhm und seine Ermordung von Susanne zur Nieden schlagen eine Brücke zwischen Weimar und dem Nationalsozialismus, während sich die Beiträge von Anson Rabinbach, Armin Nolzen, Wolfgang Dierker und Bernward Dörner ausschließlich auf den Nationalsozialismus konzentrieren.3 Im Rahmen dieser Besprechung geraten der einführende Beitrag von zur Nieden, die Ausführungen von Claudia Bruns über den Eulenburg-Skandal, der Beitrag von Marita Keilson-Lauritz und die Analyse der NS-Homosexuellenverfolgung von Andreas Pretzel in den Blick.

Zu Nieden beschäftigt sich in ihrem einleitenden Beitrag Homophobie und Staatsräson damit, wie die „eigentümliche diskursive Verknüpfung“ (S. 17) zwischen Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945 überhaupt erst zustande kommen konnte. Sie schlägt eine Brücke zwischen dem so genannten Röhmputsch des Jahres 1934 und den Skandalen um die Kaiserberater Eulenburg und Moltke zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen der Verleger Maximilian Harden das enge Umfeld von Wilhelm II. der „widernatürlichen Unzucht“ bezichtigt hatte. Sie beschreibt den Beginn der Homosexuellenbewegung im Kaiserreich, deren Erfolge und Misserfolge in der Weimarer Republik und den Beginn der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus und ordnet diese Geschehnisse in einen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Ihr Beitrag ist nicht nur eine überzeugende Einführung in Thematik und Fragestellung des Bandes, sondern gleichzeitig ein gelungener Versuch, auf nur wenigen Seiten den Abriss einer Politikgeschichte der Homosexualität für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben.

Den Kern des Spannungsfeldes von Männlichkeit und Politik, Homophobie und homosexueller Emanzipation sieht Bruns in ihrem Beitrag Skandale im Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. in divergierenden Männlichkeitsvorstellungen, die sowohl Motor als auch Indikator einer politischen Konkurrenzsituation zwischen Adel und Bürgertum im Kaiserreich gewesen sind (S. 73ff.). Bruns betont die sich immer stärker abzeichnende Dominanz einer bürgerlichen Männlichkeitsvorstellung, deren Kennzeichen die „Codierung der männlichen Identität über das eigene sexuelle Begehren“ (S. 76) war, so dass Vertreter eines adeligen Männlichkeitsentwurfs – wie eben Fürst Eulenburg – von bürgerlicher Seite „als unmännlich und abnorm“ (S. 76) abgeurteilt werden konnten. Bruns spricht in diesem Zusammenhang von „konkurrierenden Männlichkeitskonstruktionen“ und vermeidet so geschickt die in der Männlichkeitsforschung an dieser Stelle sonst übliche Frage nach Hegemonie und Unterordnung. So entdeckt sie zu einer Zeit, die in der Forschung abwechselnd als Krise oder als Höhepunkt von hegemonialer Männlichkeit beschrieben wird, die Parallelexistenz unterschiedlicher nicht-marginalisierter Männlichkeitsentwürfe.

Der Beitrag Tanten, Kerle und Skandale von Marita Keilson-Lauritz beleuchtet, auf welche Weise Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit innerhalb der homosexuellen Emanzipationsbewegung zur Konstruktion des – wie die Autorin selbst anmerkt – „nur beschränkt brauchbaren Hilfsbegriffs der moderne Homosexuelle“ (S. 83) verwendet wurden. Keilson-Lauritz zeichnet in ihrem Beitrag nach, wie mit dem Entwurf des virilen Homosexuellen auf der einen und eines feminisierten Dritten Geschlechts auf der anderen Seite „auf dem Ladentisch der Emanzipation [...] nun sozusagen zwei Modelle zur Auswahl“ (S. 87) bereit standen, mit dessen Hilfe für die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Sexualität geworben wurde. Will Keilson-Lauritz in ihrem Beitrag zeigen, dass gerade die Konkurrenz dieser beiden Modelle als ein produktives Element der Homosexuellenbewegung interpretiert werden sollte, so konzentriert sie sich in ihrer Darstellung jedoch darauf, wie gerade diese Auseinandersetzung die Kräfte der Bewegung gelähmt hat. Hervorzuheben ist hier jedoch, dass die Autorin überzeugend darlegt, wie das Ringen um die Teilhabe an Männlichkeit auf der einen Seite und der Versuch, Homosexualität biologistisch zu begründen auf der anderen Seite, die Debatten der Homosexuellenbewegung bestimmt haben.

Andreas Pretzel gelingt es in seinem Beitrag Vom Staatsfeind zum Volksfeind, am Beispiel Berlins das komplizierte Geflecht der antihomosexuellen Strafverfolgung im Nationalsozialismus darzustellen und die Wechselwirkungen zwischen NS-Ideologie auf der einen und den Machtinteressen der NS-Strafverfolgungsinstanzen auf der anderen Seite nachzuzeichnen. Während sich die Radikalisierung der Homosexuellenverfolgung zunächst in erster Linie auf die NS-Verbände beschränkte, um nach dem „Röhm-Putsch“ der Gefahr einer inneren Zersetzung der nationalsozialistischen Bewegung durch eine homosexuelle Gefahr zu entgehen (S. 223ff.), konnte in der Folgezeit durch Konkurrenz und Zusammenwirken von Kriminalpolizei, politischer Polizei und Justiz die Verfolgungsintensität homosexueller Männer ausgedehnt werden (S. 226-238). Durch die Einbindung der Kriminalpolizei in den Machtbereich Himmlers 1937 und die Novellierung des Paragrafen 175 schließlich wurde die Vorstellung eines homosexuellen „Staats-“feinds im Sinne der NS-Ideologie zur Vorstellung von einem homosexuellen „Volks-“feind umgedeutet.

Die Beiträge des Sammelbandes in ihrer Zusammenschau liefern zweifelsfrei einen wichtigen Beitrag zur Positionierung der Geschichte der männlichen Homosexualität innerhalb der Männlichkeitsgeschichte. Besonders Claudia Bruns, die ihre empirischen Befunde direkt und konsequent in die theoretischen Debatten der Männlichkeitsgeschichte einordnet, führt den LeserInnen vor Augen, dass eine Beschäftigung mit Homosexualität eine verlockende und zukunftsträchtige Angelegenheit ist, um die Perspektiven der Männlichkeitsgeschichte zu erweitern. Den Band durchzieht die Frage nach der Genese einer „narrativen Plausibilität [...] der Legende eines homosexuellen Geheimbundes“ (S. 186). Es gelingt den AutorInnen, eine solche Kontinuität vom Eulenburg-Skandal hin bis zur Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus stringent nachzuzeichnen. Hier würde man sich jedoch wünschen, dass insbesondere die Zeit der Weimarer Republik stärker in das Blickfeld gerät, um eventuelle Brüche in dieser Kontinuität erkennen zu können. Immerhin gelang der Weimarer Homosexuellenbewegung, vor allem durch die Unterstützung von SPD und KPD, 1929 fast eine Reform des Paragrafen 175 zu erreichen. Mit welchen Argumenten wurde hier gefochten? Wie haben die Arbeiterparteien Homosexualität jenseits von antifaschistischer Propaganda interpretiert und welche Männlichkeitsbilder werden dabei sichtbar? Waren die Weimarer Jahre für die Homosexuellen summa summarum tatsächlich verlorene Jahre oder gelang es, zumindest zeitweilig das Bild eines homosexuellen Staatsfeindes aufzubrechen? Antworten auf diese Fragen wären nicht nur für die Historiografie der Homosexualitäten von Belang, sondern würden einen weiteren Beitrag leisten zur Darstellung der Heterogenität von Männlichkeit in der Geschichte insgesamt.

Anmerkungen:
1 Auf diesen Umstand hat Marc Schindler-Bondiguel ausführlich bei seiner Rezension des Titels Colonialism and Homosexuality von Robert Aldrich hingewiesen, siehe: Marc Schindler-Bondiguel: Rezension zu: Aldrich, Robert, Colonialism and Homosexuality. London 2003. In: H-Soz-u-Kult, 08.04.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-016>
2 Schmale, Wolfgang, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000), Wien 2003, S.213
3 Anson Rabinbach, Van der Lubbe – ein Lustknabe Röhm? Die politische Dramaturgie der Exilkampagne zum Reichstagsbrand; Armin Nolzen, „Streng vertraulich!“ Die Bekämpfung „gleichgeschlechtlicher Verfehlungen“ in der Hitlerjugend; Wolfgang Dierker, „Planmäßige Ausschlachtung der Sittlichkeitsprozesse“. Die Kampagne gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37; Bernward Dörner, Heimtückische Nachrede. Zur Strafverfolgung von Gerüchten über die Homosexualität führender Politiker in der NS-Zeit.

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