Titel
The Inverted Mirror. Mythologizing the Enemy in France and Germany, 1898-1914


Autor(en)
Nolan, Michael E.
Reihe
Studies in Contemporary European History 2
Erschienen
New York 2005: Berghahn Books
Anzahl Seiten
IX, 141 S.
Preis
$50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Levsen, SFB 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhardt-Karls-Universität Tübingen

Die Geschichte des deutsch-französischen Antagonismus vor 1914, der Selbst- und Feindbilder der Nachbarn auf beiden Seiten des Rheins, ist sicher eine weitere Studie wert. Angesichts zahlreicher Forschungen zu diesem Thema erscheint Michael Nolans Aussage jedoch recht gewagt, es existiere „a major gap in the literature on national enemies generally, as well as that concerned with the Franco-German antagonism specifically“ (S. 2). Zumindest Michael Jeismanns grundlegende Studie zu Feindschaft und Nationsbildung in Deutschland und Frankreich 1 etwa wäre hier zu erwähnen gewesen – sie aber findet sich zwar in der Literaturliste, wird jedoch kein einziges Mal zitiert. Unerwähnt bleiben gleichfalls die wachsende Anzahl deutsch-französischer Vergleichs- und Beziehungsstudien zu dieser Epoche und nicht zuletzt die Überlegungen der neueren Nationalismusforschung zu Feindbildern, Identitäten und Alteritäten. Was also bietet Nolans Buch, das auf seiner im Jahr 2001 von der Brandeis University angenommenen Dissertation beruht, Neues?

Die Studie beginnt mit einem kurzen Überblick über die deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1898 und 1914. Die diplomatischen Krisen der Vorkriegsjahre, von der Dreyfus-Affäre über die Marokkokrisen bis zu den Balkankriegen, werden dem Leser in Erinnerung gerufen, anschließend wird die zunehmend negative Wahrnehmung Wilhelms II. in Frankreich diskutiert. Wilhelms Thronbesteigung habe zunächst Hoffnungen auf eine neue Ära der deutsch-französischen Verständigung geweckt; die Erwartungen seien jedoch, so Nolan, nach und nach einem Bild Wilhelms als „the personification of teutonic evil“ (S. 20) gewichen.

Es folgen vier Kapitel, die einzelne Aspekte deutsch-französischer Feind- und Selbstbilder zwischen spätem 19. Jahrhundert und Weltkrieg analysieren. Als Quellengrundlage dient ein relativ breites Spektrum zeitgenössischer Schriften französischer und deutscher Politiker, Schriftsteller und Intellektueller. Nolan präsentiert einen Querschnitt von Meinungen, die in der Öffentlichkeit kursierten; auf eine systematische Zeitungsanalyse verzichtet er allerdings. Zunächst wendet sich der Autor unter dem Titel „Hereditary Enemies? The Once and Future War“ der Rezeption des deutsch-französischen Krieges und kriegsbezogenen Feindbildern zu. Während in beiden Ländern bis in die 1880er-Jahre hinein Kriegsdarstellungen dominierten, welche den Gegner verteufelten und die eigene Rolle idealisierten, zeitigten die 1890er-Jahre eine Trendwende hin zu nüchterneren, objektiveren Interpretationen des Konfliktes. Pläne für einen zukünftigen Krieg hingegen, sei es der deutsche Schlieffen-Plan oder der französische Plan XVII, beruhten in hohem Maße auf realitätsfernen Vorstellungen des eigenen sowie des fremden Nationalcharakters. Nolan liefert hier zwar kaum neue Erkenntnisse, seine Gegenüberstellung deutscher und französischer Interpretationen ist jedoch gelungen. Kurze Exkurse zur Fremdenlegion, Spionageängsten und den Visionen eines kommenden Luftkriegs runden das Kapitel ab.

Das folgende Kapitel skizziert auf gut zwanzig Seiten die französischen Sorgen über das deutsche Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, die Verbindung von Geschlechterstereotypen und Feindbildern und schließlich nationale Selbst- und Fremdzuschreibungen spezifischen Trink- und Essverhaltens. Am differenziertesten wird das Spektrum französischer Wahrnehmungen der deutschen Wirtschaftsleistung beleuchtet, das von Bewunderung bis zu scharfer Kritik reichte. Oft wurden beide verbunden: Deutschland wurde zwar ein wirtschaftlich-technologischer Vorsprung zugestanden, gleichzeitig sei es aber zum Inbegriff der negativen Auswirkungen der Moderne stilisiert worden. Die Ausführungen zu Geschlechterstereotypen – die Assoziation Frankreichs mit Weiblichkeit, Deutschlands überwiegend mit Männlichkeit – sowie zur den von Degenerationsängsten geprägten Diskussionen um Geburtenraten bieten außer illustrativen Details nichts Neues. Im vierten Kapitel wendet sich Nolan dem Elsass zu. Eine kurze Darstellung der elsässischen Stimmungslage zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg wird ergänzt von einem Einblick in die französische Imagination der „provinces perdues“ und die deutsche Elsass-Politik. Die Diskrepanz zwischen der französischen Idealisierung des Elsass’ auf der einen und dem Misstrauen, dem Elsässer in der französischen Gesellschaft häufig begegneten, auf der anderen Seite, wird klar herausgearbeitet. Besonders scharf erfuhren die elsässischen Juden diesen Kontrast: In den zeitgenössischen, sentimentalen französischen Elsass-Darstellungen waren sie „virtually nonexistent“ (S. 73), in Alltag und Politik traf sie der Verdacht mangelnden französischen Patriotismus’ besonders häufig.

Im letzten Kapitel folgt unter dem Titel „Shades of Opinion: The Political Spectrum“ eine Analyse der Differenzen und vor allem der Gemeinsamkeiten, welche die nationalen Feindbilder verschiedener politischer Strömungen kennzeichneten. Verzerrte Selbst- und Fremdbilder, so Nolan, seien im ganzen politischen Spektrum, bis in die politische Linke hinein, vertreten gewesen. Nicht zuletzt unterstützten die Sozialisten in beiden Ländern 1914 den Kriegskurs, laut Nolan „willingly in France and enthusiastically in Germany“ (S. 88) – Letzteres eine zumindest debattierbare Wertung.2 Nolan unterstreicht insbesondere die Rolle der französisch-russischen Allianz als Hindernis für eine Annäherung von SPD und französischen Sozialisten.

Amerikanische Dissertationen sind meist, zumal in der veröffentlichten Form, deutlich kürzer als deutsche, was durchaus von Vorteil sein kann. Nolans Buch allerdings ist auch für eine amerikanische Dissertation mit nur 115 Seiten Text sehr knapp gehalten; die vier Hauptkapitel des Buches nehmen insgesamt nur gut 80 Seiten ein. Angesichts der Breite des behandelten Themas bleibt die Darstellung vielfach oberflächlich; die Quellen scheinen eher zur Illustrierung anderweitig vorgewusster Inhalte eingesetzt zu werden denn als Grundlage der Argumentation. Zwar ist der Stil flüssig und angenehm, ja anregend zu lesen, das Buch bietet jedoch wenig Neues und eine Einordnung in Forschungskontroversen unterbleibt. Das „Conclusion“ betitelte Schlusskapitel bietet kein Fazit, sondern einen Par-force-Ritt durch deutsch-französische Beziehungen zwischen Erstem Weltkrieg und Wiedervereinigung.

Wer sich in das Themenfeld einlesen möchte, findet in „The Inverted Mirror“ einen flüssig geschriebenen, knapp gehaltenen Überblick über deutsch-französische Imaginationen des Eigenen und des Anderen. Die vielen Spielarten, in denen unliebsame Charakteristika auf den „anderen“, den „Erbfeind“ projiziert wurden, werden anhand zahlreicher Zitate plastisch illustriert. Allerdings irritieren neben mangelnden Verweisen auf zentrale Werke der Forschung einige Formulierungen, die ungenau oder inhaltlich problematisch sind. Zur Entstehung von Feindbildern etwa liest man in der Einleitung: „Most people, lacking the necessary education and consumed by everyday cares, are unable or unwilling to think too much about the world beyond a relatively narrow purview. However, in troubled circumstances, even those who should know better may be carried away in the heat of the moment, as they were in France and Germany in the late summer of 1914.“ (S. 3) Angesichts der zentralen Rolle der gebildeten Eliten in der langfristigen Konstruktion nationaler Selbst- und Feindbilder sind solche Äußerungen irreführend. Abgesehen davon bietet das Buch, wenn man weniger nach großen Neuentdeckungen, als vielmehr nach einem knappen, konsequent vergleichenden Überblick über ein gut erforschtes Thema sucht, eine angenehme Lektüre.

Anmerkungen
1 Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.
2 Vgl. Kruse, Wolfgang, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993.