D. Benner u. a. (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik

Titel
Historisches Wörterbuch der Pädagogik.


Herausgeber
Benner, Dietrich; Oelkers, Jürgen
Erschienen
Weinheim 2004: Beltz Verlag
Anzahl Seiten
1127 S
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anja-Silvia Goeing, Institut für Pädagogik, Universität Zürich

Die Ressourcen der Historischen Bildungsforschung werden zu wenig genutzt

In diesem Handbuch werden für eine Auswahl von Grundbegriffen begriffs- und konzeptgeschichtliche Traditionslinien aufgezeigt. Die Begriffe tragen heute wissenschaftliches Denken um Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Mit diesem in die Gegenwart gerichteten Impetus erweist es sich als Projekt der Systematischen Erziehungswissenschaft. Die Unternehmung, Begriffstraditionen aufzuspüren, verweist dagegen in den Bereich, der üblicher Weise von der Historischen Bildungsforschung bearbeitet wird. Historische Bildungsforschung wird hier als Sozialwissenschaft aufgefasst, zu welcher die intellektuellen Denkprozesse in den einzelnen Jahrhunderten selbstverständlich hinzugehören. Verschränkt sich diese historische Forschung mit systematischer Forschung der Allgemeinen Pädagogik und geht dabei über den generellen Rückblick der konzeptuellen Traditionsbildung hinaus in die Details historisch gewordenen Denkens und Handelns, so kann ein solches Vorgehen beiderseits fruchtbringend ausfallen: Die früheren Werke von Jürgen Habermas, wie seine zur Publikation ausgearbeitete Habilitationsschrift 1962 "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1), bieten ein international hochgerühmtes Beispiel für diesen Ansatz. Das Buch wurde nicht nur in systematischer Perspektive aufgenommen und weitergeführt, sondern diente seither ebenso unzähligen historischen Arbeiten zur Grundlage. Ich werde im Folgenden neben den Bruchstellen, die ein solcher Ansatzmix mit sich bringt, den Wert und möglichen Nutzen dieses Gemeinschaftsprojekts analysieren und einige Ideen für die Weiterarbeit entwickeln.

1. Die Auswahl der Begriffe
Die Herausgeber konnten sich in einer, wie sie selbst schreiben, insgesamt mehr als 15jährigen Denkarbeit auf eine Essenz von 52 ausgeführten Begriffen einigen. In alphabetischer Reihenfolge, die folglich die Begriffszusammengehörigkeit nicht durch deren räumliche Nähe abbilden kann, damit jedoch größere assoziative Offenheit zulässt, werden verschiedene Sparten pädagogischen Denkens gestreift. Grob zusammengefasst geht es den Herausgebern um die Darstellung philosophischer bzw. historischer Epochen wie „Humanismus, humanistische Bildung“ (Jörg Ruhloff), pädagogische Ansätze wie „Demokratie/demokratische Erziehung“ (Micha Brumlik), sozialer Felder und Institutionen, in denen Pädagogik tätig wird, wie „Familie“ (Jürgen Reyer) oder „Schule“ (Herwart Kemper), wissenschaftlicher Disziplinen wie „Erziehungswissenschaft“ (Heinz-Elmar Tenorth) oder „Didaktik“ (Lothar Wigger) und schließlich um die Zeichnung derjenigen Begriffe, die in verschiedenen Theorieansätzen und im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werden, wie „Bildsamkeit/Bildung“ (Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen) oder „Bürger/bürgerlich“ (Stephanie Hellekamps). Das Besondere gegenüber einem herkömmlichen Lexikon ist die Reduktion auf eine repräsentative Auswahl von Begriffen für diese Felder, die dann in gebührender Länge abgehandelt werden: So werden „Kind/Kindheit“ (Christa Berg) und „Jugend“ (Jürgen Zinnecker) zu eigenen Kapiteln. Die Idee des Erwachsenen jedoch wird nicht eigens, wohl aber implizit in verschiedenen anderen Kapiteln besprochen: der wissenschaftlichen Disziplin „Erwachsenenbildung“ (Christiane Schiersmann), dem sozialen Feld „Familie“, dem Theoriebegriff „Mündigkeit“ (Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen) und den Allgemeinbegriffen „Mütterlichkeit“ (Sabina Larcher) und „Vaterbild und Männlichkeit“ (Sabine Andresen). Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Begriffsauswahl im Falle der Lebensalter an der Idee der Erziehungsbedürftigkeit orientiert ist, mithin ohne einen impliziten und formal gehaltenen Erziehungsbegriff der Autoren nicht auskommt. Bei den Begriffen, die in unterschiedlichen Theorieansätzen und im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werden, fällt auf, dass sie einer ganzen Gruppe je spezifischer Mutterdisziplinen zugehören, der Philosophie, den Geisteswissenschaften allgemein und den Sozialwissenschaften, allesamt jedoch spezifisch pädagogisch, d. h. auf Erziehung bezogen, ausgedeutet werden. Der originellste und stichhaltig begründete pädagogische Fachbegriff ist der von Klaus Prange erläuterte Begriff „Form“. Die unterschiedliche Herkunft der Begriffsadaptionen aus Nachbardisziplinen, die in den Traditionslinien deutlich beschrieben werden, weisen heutiger Pädagogik als Wissenschaft methodisch wie inhaltlich einen selbstbewusst eklektischen Charakter zu. Damit erhält sie einen Platz zwischen Geistes- und Sozialwissenschaft wie die Geschichtswissenschaft; zwischen philosophischem und historischem Erkenntnisinteresse wie die Soziologie; zwischen pragmatischem und deskriptivem Erkenntnisinteresse wie Anwendungswissenschaften allgemein; zwischen dogmatischem Festschreiben, transzendentalkritischer Analyse und hermeneutik- und empiriebasierter Offenheit.

2. Die Begriffstraditionen
Die Begriffssubstanz und ihre zugehörige Traditionsbestimmung ist von der Auffassung des Begriffes entweder als Wort oder als inhaltliches Konzept abhängig. Dies wird von den Autoren der Beiträge unterschiedlich ausgedeutet. Die Arbeit mit dem Wort als Begriff ist die korrekte Art, mit Begriffsgeschichte umzugehen. Für Friedhelm Brüggen etwa beginnt die Beschäftigung mit Öffentlichkeit im Sinne des Handbuches dort, wo der Begriff als Wort, substantiviert aus „öffentlich“, verwendet wird (S. 724). Der interessierte Leser freut sich jedoch, dass trotz vom Autor selbst konstatierter Inkonsequenz auch noch die inhaltliche Idee des Adjektivs „öffentlich“ in Antike und Früher Neuzeit abgehandelt wird (S. 724-738). Ein Beispiel für die andere Seite, die Auffassung eines Begriffes ausschliesslich als inhaltliches Konzept, ist der Begriff „Pädagogik“, wie ihn Winfried Böhm ausleuchtet. Seine Darstellung weist Denken über Erziehung seit der Antike nach, ohne dabei die Entstehung der universitären Wissenschaft als paradigmatischen Wandel im Selbstverständnis des Faches zu empfinden. Eine sehr überzeugende Abgrenzung von Pädagogik und 'Pädagogik als Wissenschaft' wird unter Verwendung analytisch-deskriptiven Instrumentariums dann sehr elaboriert von Heinz-Elmar Tenorth besorgt, der den Begriff „Erziehungswissenschaft“ behandelt. Mit ganz besonderem Interesse kann in dieser zweiten Sparte dem Begriff „Lehrplan“ gefolgt werden, der nun ganz inhaltlich die unterschiedlichen Lehrpläne von der Antike bis in die Jetztzeit umfasst und damit eine Darstellung leistet, die weit über das hinausgeht, was der Klassiker für diesen Bereich Josef Dolch (2) vorgelegt hat. Andreas Dörpinghaus, Karl Helmer und Gaby Herchert gebührt großer Dank für die Bereitstellung dieser wertvollen Informationen, auch wenn diese Forscherarbeit weit über das Anliegen einer herkömmlichen Begriffsgeschichte hinausgeht. Es ist die Sache der Herausgeber, in einer zweiten Auflage diese Spannbreite methodischer Zugänge entweder auf Grund des inhaltlichen Interesses so breit zu lassen, wie sie ist, oder durch die Vorgabe einheitlicher Verfahrensweisen zu standardisieren. Will man den inhaltlich basierten Zugriff und damit den bereits in diesem Konzept angelegten reduktiv enzyklopädischen Charakter weiter ausbauen, so wäre zu überlegen, etwa den Begriff des „Erziehungssystems“ mit zu berücksichtigen. Der Begriff selbst hat keine nennenswerte Tradition, ist eher einseitig mit dem Werk Niklas Luhmanns verbunden, das inhaltliche Konzept der institutionellen Vernetzung lässt sich jedoch bis in antike und mittelalterliche Lehrpraxis zurückverfolgen.

Nach diesen grundlegenden Verständnisunterschieden lädt eine vergleichende Betrachtung der Begriffe dazu ein, die verwendete Referenzliteratur genauer zu betrachten. Es stellen sich die Fragen, ob gleiche oder unterschiedliche Referenzautoren benannt werden, und wie mit den Schriften der Autoren generell umgegangen wird. Ein erster Befund ist sehr interessant: Egal in welcher theoretischen Schule die Begriffe im 20. Jahrhundert verwendet werden, nennen etwa deren 63 Prozent Platon als Ahnvater. Seine Zitierhäufigkeit (88 Mal: s. Index S. 1123) wird nur noch übertroffen von Immanuel Kant (91 Mal: s. Index S. 1120) und Jean-Jacques Rousseau (117 Mal: s. Index S. 1124). Das Referenzwesen zeigt sehr viel über die Fachidentität, die über bestimmte (kanonische) Schriften ausgebildet wird. Es ist positiv zu vermerken, dass die Rezeption der philosophischen Fachgrössen nicht selten zu einer Neuinterpretation im größeren Rahmen führt, für die hier Käte Meyer-Drawes Artikel „Leiblichkeit“ paradigmatisch genannt werden kann. Darüber hinaus benennt jeder Artikel unbekanntes und daher für die Fortentwicklung der Wissenschaft des Faches sehr wichtiges Detailwissen: Eine Blumenwiese an unbekannten Autoren des 18. Jahrhundert findet sich etwa in dem Artikel von Jürgen Oelkers zur „Aufklärung“.

3. Historische Sichtweise
Aus historischer Sicht fallen zwei verbesserungswürdige Tatbestände auf: Zum einen wird zu stark problemgeschichtlich und zu wenig historisch argumentiert. Der sozialgeschichtliche Kontext der Begriffe in den einzelnen Jahrhunderten kann im Einzelfall lineare Traditionsbildungen verhindern, indem er Verschiebungen von Wertigkeiten belegt. Eine so geartete Forschung würde etwa das Konzept der rhetorischen Weisheit („sapientia“) mit einem sozialen Status in Verbindung bringen können. Weiterhin würde sie aussagen können, dass dieses Konzept im Laufe des 16. Jahrhunderts in manchen theoretischen Schriften neuer sozialer Gruppierungen durch einen anderen Begriff, denjenigen der „intelligentia“, ersetzt wurde. (3) Diese Art Forschung dokumentiert mithin die Wandlung der Erziehungsbegrifflichkeit und damit den Wert der Begriffe in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Zum anderen sollte überlegt werden, Besonderheiten in der Begriffsbildung, die mit spezifisch deutschen Entwicklungslinien zu tun haben, in jedem Fall in ihren größeren europäischen Rahmen einzulassen. Das wichtigste Beispiel ist die Aufnahme und Ausformulierung des Begriffes „Bildsamkeit/Bildung“ (Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen) als pädagogisches Konzept. Es handelt sich dabei um eine der tragenden Säulen deutschsprachiger Pädagogik, deren europäischer Kontext nicht geklärt ist. Die Herausforderung, sich gerade mit diesem Begriff dem europäischen Vergleich zu stellen, bleibt als Anliegen der nächsten Auflage zu wünschen.

4. Zusammenfassende Würdigung
Das Historische Wörterbuch der Pädagogik hat keine Vorläufer im pädagogischen Schrifttum. Die Unausgewogenheiten, die sich eingeschlichen haben, wie die verschiedenen Auffassungen über Begriffsgeschichte, sind daher mehr als entschuldbar. Seine idealen Leser sind der wagemutige Student, der sich durch das zusammengetragene Detailwissen nicht erschrecken lässt, und die Fachkollegin, die seit Jahren über ein ähnliches Thema brütet und nun, Schematismen nachweisend, in den Disput eintreten kann. Mehr noch als diese werden schließlich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Faches, die sich mit anderen Disziplinen innerhalb der Pädagogik beschäftigen, das bereichernde Angebot an geballtem Kontextwissen schätzen können.

Anmerkungen

(1) Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962.

(2) Dolch, Josef: Lehrplan des Abendlandes: zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte. (1959). 3. Aufl. Ratingen 1971.

(3) Goeing, Anja-Silvia: Schulausbildung im Kontext der Bibel: Heinrich Bullingers Auslegung des Propheten Daniel (1565). 22 S. Erscheint 2005

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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