St. Fisch u.a. (Hgg.): Experten und Politik

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Titel
Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive


Herausgeber
Fisch, Stefan; Rudloff, Wilfried
Reihe
Schriftenreihe der Hochschule Speyer 168
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Platz, Fachbereich Geschichte, Universität Trier

Der von Stefan Fisch und Wilfried Rudloff herausgegebene Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die die Verwaltungshochschule Speyer im Jahr 2001 veranstaltete. Die Tagung hatte sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis zwischen Experten und Politik näher zu beleuchten und damit zur Historisierung wissenschaftlicher Politikberatung beizutragen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik haben jüngere Studien zum Beispiel zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im NS und zur Geschichte der Ostforschung einem breiteren historisch interessierten Publikum nahe gebracht.1 Wissenssoziologische Forschung hat sich dem Verhältnis zwischen Sozialwissenschaften und Staat schon vor einiger Zeit zugewandt und mit dem Modell der Diskurskoalitionen ein tragfähiges Analysemodell vorgeschlagen.2 Überblicksartige Darstellungen wie Noltes “Ordnung der deutschen Gesellschaft” lassen allerdings die vielfältigen Beziehungen, die zwischen Wissenschaften und Politik bestehen, noch aus.3 Jüngere Arbeiten im Bereich der Zeitgeschichte haben sich diesem Desiderat an den unterschiedlichsten Beispielen zugewandt.4 Dem Thema des Sammelbandes kann also eine gewisse Aktualität im Hinblick auf aktuelle Forschungsarbeiten wie auch auf die Tagespolitik zugesprochen werden.

Nachdem Fisch die lange Linie vom Fürstenratgeber zum Politikberater gezogen hat, bietet die Einleitung von Rudloff einen problematisierenden Überblick über das Forschungsthema. Rudloff beleuchtet den Forschungsstand zum Thema Politikberatung souverän. Er bietet eine Typologie der Interaktionsformen zwischen Wissenschaft und Politik an, die an die Habermassche Unterscheidung zwischen technokratischer, dezisionistischer und pragmatistischer Interaktion anschließt, nicht ohne zu bemerken, dass es “zusätzlicher begrifflich-analytischer Ordnungskategorien” bedarf, “um die Funktionen, Spielregeln und Wirkungsmechanismen der Interaktion zwischen Expertise und Politik genauer herausschälen zu können” (S. 19). Einen in das Thema einführenden Charakter hat der Beitrag von Hans-Christof Kraus, in dem dieser in großen Schritten das Thema Beratung der Politik anhand der Beispiele staatsmännischer Beratung und Bildungspolitik im 19. Jahrhundert durchschreitet. Ausgehend von Beobachtungen im Kaiserreich spannt Margit Szöllösi-Janze einen Bogen, der bis zum Ende des Nationalsozialismus reicht. Sie beleuchtet das Spannungsverhältnis zwischen der Politisierung der Wissenschaften und der Verwissenschaftlichung der Politik als zwei Pole der Entwicklung wissenschaftlicher Politikberatung. Theoretisch leitend ist bei diesen Beobachtungen das Konzept der Wissensgesellschaft.

André Steiner untersucht das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der DDR. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus betrachtete sich als wissenschaftliche Welterklärung mit umfassendem Anspruch. Doch die Probleme einer entstehenden Industriegesellschaft machten den Rückgriff auf wissenschaftliche Expertise auf technischem und gesellschaftlichem Gebiet notwendig. Allerdings war der Gestaltungsspielraum der Experten gering, da die "Handlungsspielräume, Ressourcen und Themenwahl der Experten" durch die von der SED-Spitze bestimmte Politik beschränkt wurden. Mit Gabiele Metzlers Beitrag wird eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Bedeutung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik am westdeutschen Fall eingeleitet. Metzlers Fallstudie hat den “Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung” zum Gegenstand. Dieses überparteiliche und unabhängige Gremium vermittelte ab dem Jahr 1963 der Öffentlichkeit und der Politik wirtschaftswissenschaftliche Expertise. Insgesamt war die Arbeit des Sachverständigenrates von einem Ethos der "Versachlichung" getragen, das auch schon in seiner Grundkonzeption der Vermittlung von Interessenpolitik entgegengesetzt war.

Wilfried Rudloff vergleicht in seinem Beitrag die Rolle unterschiedlicher Expertengremien in der Bildungspolitik und misst ihre Erfolgbedingungen aus. Er unterscheidet drei Modelle. Beim 1953 berufenen “Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungwesen” habe es sich um das Modell der Unabhängigkeit und der “Macht des Geistes” gehandelt, d.h. die Wissenschaftler blieben unter sich, beim zweiten Modell, dem 1957 gegründeten “Wissenschaftsrat” um ein Modell der Selbststeuerung der Wissenschaft unter Integration der politischen Entscheider, während beim dritten Modell des “Deutschen Bildungsrats” eine pluralistische, an Gruppenvertretern wie Wissenschaftlern orientierte Zusammensetzung Raum griff. Bernd A. Rusineks Untersuchung der Rolle der Experten am Beispiel der Deutschen Atomkommission nimmt sich das machtvollste Gremium unter den untersuchten Fallbeispielen vor. Dem Atomministerium nahezu gleichgeordnet, entfaltete sie in den Jahren zwischen Mitte der 1950er und 1971 eine ausgesprochen atomeuphorische Politik, vergab Mittel in astronomischer Höhe und hatte bis zu seinem Niedergang ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zentrale Planungskompetenzen inne.

Die folgenden beiden Fallbeispiele analysieren Fälle, in denen es um längerfristige Kontinuitäten zwischen Weimar, Nationalsozialismus und der Bundesrepublik geht, freilich unter verschiedenen Vorzeichen. Beim ersten Beispiel, dem Bevölkerungswissenschaftler und Eugeniker Hans Harmsen, das Sabine Schleiermacher untersucht, handelt es sich um eine machtaffine und ideelle Kontinuität zwischen den radikalen bevölkerungspolitischen und eugenischen Idealen der Zwischenkriegszeit bis weit in die Bundesrepublik hinein. Harmsen hatte ideell und praktisch die radikale Politik des NS unterstützt und blieb dennoch auch in der Nachkriegszeit ein gefragter Experte in bevölkerungs- und familienpolitischen Fragen. Beim zweiten Beispiel handelt es sich hingegen um eine Kontinuität zu Kreisen um den Widerstand gegen den NS. Der Volkswirtschaftler Erich Preiser gehörte im NS zu denjenigen wirtschaftspolitischen Experten, die Konzepte für den Übergang von einer Kriegs- zur Friedenswirtschaft entwarfen und in der Nachkriegszeit nennenswerten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik ausübten, vor allem durch seine jahrelange Zugehörigkeit zum "Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium".

Der Einfluss von Intellektuellen und Experten auf die beiden Bundeskanzler Adenauer und Brandt untersuchen von Hans Peter Mensing und Daniela Münkel. Mensing kann an Beispielen aus den Beständen des Bundeskanzler-Adenauer-Hauses zeigen, welchen breiten Beraterkreis Adenauer um sich versammelte und damit das Bild vom einsamen Entscheider Adenauer korrigieren. Er zeigt neue Forschungsfragen auf, für die die Bestände des Adenauer-Hauses spannende Antworten vermuten lassen. Daniela Münkels Beitrag nimmt die ganze Palette von Brandts Wissenschaftskontakten zu Experten, aber auch zu Intellektuellen in den Blick. Dabei zeigt sie, dass Brandt gezielt ein Bild des von Wissenschaftlern und Intellektuellen umgegebenen Politikers von sich aufbaute, das sowohl die Arbeit des SPD-Kanzlerkandidaten in den 1960ern als auch die Praxis des Bundeskanzlers an der Regierung prägte.

An die Befunde Münkels schließt der Beitrag Frank Böschs direkt an, der die Tätigkeit von Beratern im Bereich der Wahlkampfplanung von SPD und CDU von den 1950er bis in die 1970er-Jahre untersucht. Konkret geht es um Werbefachleute, Meinungsforscher und Psychologen, die in den 1950er-Jahren Eingang in das Geschäft mit der Wahl fanden. Dabei hatte die CDU bis weit in die 1960er-Jahre einen Vorsprung vor der SPD, was die Professionalisierung ihrer Wahlkämpfe betrifft. Die Expertenpolitik der Frankfurter Schule beleuchtet Clemens Albrecht in seinem Beitrag, in dem er die verschiedenen Formen der Politikberatung, die den Frankfurtern offen standen, unterscheidet. Er unterscheidet dabei "expertive", auf Fachwissen gegründete Politikberatung, die er der legalen Herrschaft in der Demokratie zuordnet, von "demonstrativer" Politikberatung, die auf der öffentlichen Glaubwürdigkeit der Berater, ihrer Anerkennung als Experten und ihrem Prestige aufbaut. Zunächst sei die expertive Seite der sozialpsychologischen Kompetenz der Frankfurter als Politikberater nachgefragt worden, was aber im Laufe der 1950er-Jahre mehr und mehr durch die demonstrative Seite der vergangenheitspolitischen Kompetenz überlagert worden sei.

Winfried Süß analysiert die Verwissenschaftlichung der Regierungs- und Verwaltungsreform in den Jahren zwischen 1966 und 1975. Berater und Beratene vertrauten auf die Kompetenz der sozialwissenschaftlichen Experten und Verfahren. Freilich ist dieses hochtrabende Projekt, dem im Bundeskabinett ein eigener interministerieller Expertenausschuss gewidmet wurde, auch ein deutliches Beispiel für die Reichweite und die Grenzen der Wirkung sozialwissenschaftlicher Expertise. Alexander Schmidt-Gernigs Beitrag vermittelt einen historischen Überblick über das Metier der Futurologie in den 1960er und 1970er-Jahren. Im internationalen Vergleich auffallend ist das Aufkommen der Zukunftsforschung in den 1960ern allemal, da es bedeutende Beispiele für diese Expertenforschung in Frankreich, Großbritannien und den USA gab. Unterschiedliche thematische Apekte wie die Technikfolgenabschätzung und die Umweltexpertise gingen aus dieser futurologischen Expertise hervor.

Der Sammelband führt in ein Forschungsgebiet ein, dem in der jüngeren Zeitgeschichte eine erhebliche Aufmerksamkeit zugewendet wird. Die Rolle von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Experten ist vor dem Hintergrund des säkularen Trends zur “Verwissenschaftlichung des Sozialen” 5 ein zunehmend untersuchtes Forschungsfeld, ob es sich jetzt um die Tätigkeit wirtschaftswissenschaftlicher Experten, Meinungs- und Sozialforscher oder auch Psychologen handelt. Für diese jüngeren Arbeiten in der Zeitgeschichte stellt dieser Sammelband Anregungen in breiter Fülle, aber auch konzeptionelle und inhaltliche Herausforderung dar. Vor allem zeigt der Sammelband an exemplarischen Fällen auf, dass die Verwissenschaftlichung der Politik in der Tat für die Zeitgeschichte schwer zu umgehen ist. Die Zeitgeschichte schließt hier an Fragestellungen an, die die soziologische Verwendungsforschung als selbstreflexive Forschungsrichtung in den 1980er-Jahren aufgeworfen hat. Die ausgeführten Fallstudien bieten Vergleichsmaßstäbe für ähnliche Studien zu anderer Ressortforschung.

Eine zarte Kritik sei erlaubt. Zwar trifft die Kritik nicht durchgängig alle Beiträge, doch unter dem Strich lassen die Artikel einen machtkritischen Blick vermissen, wie ihn gerade für den Bereich der Untersuchung von Expertensprache und Expertenpraxis etwa die Diskursanalyse nahe legt. Rudloffs an Luhmann angelehnte Problematisierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik, die dem System der Wissenschaft die Leitkategorie Wahrheit und dem System der Politik die Leitkategorie Macht zuschreibt, ignoriert, dass gerade Wissenregime konstitutiv für Machtverhältnisse sein können.

Insgesamt ist die deutliche Akzentsetzung auf die Nachkriegszeit, die den Sammelband auszeichnet, zwar aus zeithistorischer Sicht zu begrüßen, andererseits hätte eine zeitliche Ausweitung auf den Nationalsozialismus der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der praktischen Verwendung wissenschaftlicher Expertise durchaus Nachdruck verleihen können. Gerade vor dem Hintergrund der konzeptionellen Überlegungen Szöllösi-Janzes, die einen langen Untersuchungszeitraum der Zeitschichte anregt, hätte sich dieser Blick für den gesamten Band, aber auch für einzelne Beiträge angeboten. Gerade vor dem Hintergrund der Debatten um die Historiker und die Ostforschung wäre eine breitere Berücksichtigung des Nationalsozialismus von Nöten gewesen. Die biografisch orientierten Beiträge von Schleiermacher und Blesgen zeigen, dass ein breiterer Blickwinkel Aufschlüsse über die Beharrungskraft älterer Deutungmuster bzw. über die Durchsetzung neuerer Deutungsmuster verspricht. Nichdestotrotz bleibt es ein Verdienst der Tagung und des Sammelbandes, die Bedeutung von Beratungsverhältnissen herausgearbeitet zu haben. Die vorgelegten Arbeiten leisten einen gewichtigen Beitrag zur Vermessung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend seien hier nur die Beiträge des Sammelbandes von Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999 und die Untersuchung von Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001 (Ordnungsysteme; 9) genannt.
2 Wagner, Peter, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870-1980. Frankfurt am Main 1990.
3 Nolte, Paul, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000.
4 u.a. Weischer, Christoph, Das Unternehmen ‘Empirische Sozialforschung. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland. München 2004; Ziemann, Benjamin, Auf der Suche nach der Wirklichkeit: Soziographie und soziale Schichtung im deutschen Katholizismus 1945-1970, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 29, 2003, S. 409-440; Ruth Rosenberger: Demokratisierung durch Verwissenschaftlichung? Betriebliche Humanexperten als Akteure des Wandels der betrieblichen Sozialordnung in westdeutschen Unternehmen, AfS 44, 2004, S. 327-356; Schanetzky, Tim, Sachverständigerat und Konzertierte Aktion. Staat, Gesellschaft und wissenschaftliche Expertise in deer bundesrepublikanischen Wirtswchaftspolitik, VSWG 91 (2004), S. 310-331.
5 Raphael, Lutz, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.

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