U. Borsdorf u.a. (Hgg.): Die Aneignung der Vergangenheit

Cover
Titel
Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte


Herausgeber
Borsdorf, Ulrich; Grütter, Heinrich Theodor; Rüsen, Jörn
Reihe
Zeit - Sinn - Kultur
Anzahl Seiten
134 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Sommer, Wien Museum

Das Sammelbändchen vereinigt fünf Beiträge, die aus der Veranstaltungsreihe „Deponieren und Exponieren. Musealisierung und Geschichte“ des RuhrMuseums und des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen hervorgegangen sind.1 Zwei der drei Herausgeber (Ulrich Borsdorf und Heinrich Theodor Grütter) sind federführend am Aufbau des künftigen RuhrMuseums im Weltkulturerbe Zollverein in Essen beteiligt. Ein Ziel der Vortragsreihe war es, Anregungen für die Entwicklung und Realisierung des neuen Museumskonzepts zu sammeln. Nach den Kunstmuseen, die in den 1980er und 1990er-Jahren die internationale Museumsszene dominiert haben, stehen derzeit viele Stadt-, Regional-, Technik- und Industriemuseen vor der Herausforderung, ihre Dauerpräsentationen entweder stark überarbeiten oder gänzlich neu konzipieren zu müssen, da sie den Erwartungen der Gesellschaft, der Politik und der Museologie nicht mehr genügen – hat sich der Diskurs und die Reflexionsbereitschaft über Museumsarbeit seit dem letzten Boom der Sachmuseen in den 1970er-Jahren doch grundlegend verändert. Ein Kritikpunkt, der damals wie heute aktuell zu sein scheint, ist die Darstellung der Geschichte aus einer männerzentrierten Perspektive: Weder unter den Herausgebern der vorliegenden Publikation noch unter den Vortragenden finden sich Frauen, und geschlechtergeschichtliche Zugänge werden nicht diskutiert.

Im Vorwort unterscheiden die drei Herausgeber zwischen Musealisierung und Geschichte als „zwei Modi der Vergangenheitsvergegenwärtigung“ (S. 7), die „zunächst als zwei komplementäre Phänomene […] das Verhältnis einer jeweiligen Gegenwart zu ihrer Vergangenheit beschreiben“ (S. 8). „Bei näherem Hinsehen“ ließen sich jedoch wesentliche Unterschiede festmachen: Die Musealisierung verfahre im „modo nostalgico“, während die Geschichte „doch viel kritischer forschend und erklärend, gleichsam im modo analytico“ agiere (ebd.). Zumindest für mich wird freilich nicht nachvollziehbar, wie Borsdorf, Grütter und Rüsen zu diesem Befund kommen. „Musealisierung“, heißt es weiter, meine „ein Bemühen um Traditionen und die Erhaltung des kulturellen Erbes, das eher mit Vorstellungen und Kategorien der Denkmalpflege zu fassen ist, selbst wenn eine ernsthafte Museumspraxis den reinen Zeigegestus interpretierend zu transzendieren versucht“ (S. 9). Die Geschichte dagegen bezeichne im modernen historischen Denken „die immer wieder neue Aneignung der Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart“ (ebd.).

Ob diese akademische Trennung einer breiten Überprüfung in der Praxis standhält, wage ich zu bezweifeln: Sicherlich hat in vielen Museen das Zeigen der Dinge nach wie vor hohe Bedeutung; demgegenüber finden sich jedoch zunehmend mehr Ausstellungs- und Sammlungskonzepte von ambitionierten Museen, die den Sinn ihrer Tätigkeit in der immer wieder neuen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die Gegenwart sehen. Heute beschränkt sich das Sammeln nicht mehr allein auf das Bewahren; Ziel ist vielmehr die intensivierte Dokumentation der gesammelten Gegenstände – wenn man so will, eine Annäherung zwischen den klassischen Quellen der Geschichtswissenschaft und den ästhetisch-affektiven Komponenten der musealen Dingwelt. Die Museumsarbeit ist diesbezüglich in Umbrüchen begriffen: Ein Hut als solcher zum Beispiel ist für viele Museumsleute nicht mehr spannend, interessant wird er – abgesehen von seiner Materialität – auch durch seinen Kontext, etwa die Dokumentation seines Erwerbs (z.B. durch den beim Kauf erhaltenen Kassenbon) und seines Gebrauchszusammenhangs (z.B. durch ein Foto, das die Besitzerin zeigt, wie sie ihn während eines Badeurlaubs trägt).

Den ersten Aufsatz des Bandes liefert Hermann Lübbe, der einmal mehr auf seine vor 25 Jahren entwickelte Kompensationstheorie eingeht, die damals in den Museumsdebatten Furore machte. Waren seine Überlegungen im Rahmen der konservativen Kulturpolitik zweifellos verdienstvoll, lassen sich daraus für aktuelle Fragen kaum mehr neue Anregungen gewinnen. Zwar wurde damals wie heute der Institution Museum eine Krise attestiert, doch der „Kontext, der Sinn und die Funktion dieser Aufrufe zur Auflösung des musealen Systems haben sich seit der Zeit der Avantgarde grundsätzlich geändert, auch wenn ihre Formulierungen auf den ersten Blick die gleichen zu sein scheinen“ (S. 40) – wie Boris Groys in seinem Text konstatiert. Das Museum, dessen baldiger Tod durch den Beginn des Medienzeitalters noch vor wenigen Jahren ausgerufen worden war, sieht Groys nunmehr als einen Ort der Heterotopie und der Heterochronie, als einen Ort, an dem unterschiedliche Zukünfte archiviert und gezeigt werden können.

Groys’ Überlegungen führen zu einer Frage, die in Lutz Niethammers Beitrag expliziert angesprochen wird: Wessen Geschichte wird im Museum erzählt? Oder anders gefragt: Wessen Gegenwarten und wessen Zukünfte werden dort archiviert und gezeigt? Anregend für das Konzeptteam des RuhrMuseums scheint mir Niethammers Forderung zu sein, „einen Rahmen zu schaffen mit Zukunft, aber ohne narrative Gestaltschließung, mit einer offenen Zukunft also, die in der industriellen, postindustriellen Stadtregion angelegt ist“ (S. 78). Auch Gottfried Korffs Kategorisierungen von materiellen Hinterlassenschaften schärfen den Blick. Eine Herausforderung für die konkrete Museumsarbeit scheint mir seine Forderung zu sein, Museen sollten zeigen, „wie Gesellschaften und Kulturen mit dem Wandel von Dingen und ihrer Bedeutung umgehen“ (S. 103). Wie kann die sich verändernde Bedeutung von Objekten ausgestellt werden? Befremden löst Ulrich Raulffs Forderung im letzten Beitrag des Sammelbandes aus, das historische Museum müsse „letztlich allen Formen des Pathos gerecht werden“ und eine „nationale Bildungsanstalt nicht nur des Verstandes, sondern auch des Herzens“ sein (S. 121). Wieso sollte angesichts der von den Herausgebern und von Lübbe festgestellten Geschichtsversessenheit unserer Gegenwart, die so viele Medien der historischen Auseinandersetzung kennt, ausgerechnet das Museum eine Agentur der gelenkten Gefühlsproduktion sein? Und geht es nicht vielmehr darum, nationale Sichtweisen durch Polyphonie zu konterkarieren und Mehrdeutigkeiten zur Diskussion zu stellen?

Dennoch kann die Lektüre des Sammelbandes allen empfohlen werden, die sich für Formen der Aneignung von Vergangenheit interessieren. Die inhaltliche Heterogenität der Beiträge, ein häufig monierter Nachteil von Sammelbänden, hat hier das Potenzial, kreative Energie für weiterführende Überlegungen freizusetzen.

Anmerkung:
1 Siehe das Programm: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=2790>.

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